Mir tut alles weh. Jeder noch so kleine Muskel schmerzt. Trotzdem werde ich keine Pillen nehmen. Ich will den Schmerz spüren. Am meisten tut meine Brust weh. Der Knoten an der Stelle, wo sich früher mein Herz befunden hat, will einfach nicht verschwinden.
»Mommy!«, ruft Jax durch den Flur.
»Jax!« Er läuft mit nacktem Hintern durchs Haus und hat sich sein Handtuch um die Schultern gebunden wie einen Umhang. Streng schüttle ich den Kopf und versuche, mein Lächeln vor ihm zu verbergen. Dieses Kind … »Schätzchen, ich hab dir doch gesagt, du sollst deinen Schlafanzug anziehen.«
»Ich will übernachten.« Er schaut mich mit diesem Hundeblick an, mit dem er mich immer herumzukriegen versucht. Aber in diesem Fall kann ich seinem Wunsch nicht nachgeben. Er wird nie wieder bei Dom übernachten. Ich bin froh, dass er das alles so gut überstanden und auch nichts mitbekommen hat. Zum Glück ist er erst drei.
Ich hocke mich vor ihn und unterdrücke ein Stöhnen, als ein leichter Schmerz durch meinen Po zieht. »Wir laden bald wieder Ava zum Spielen ein, okay?« Sanft streiche ich ihm das Haar aus dem Gesicht und wickle das Handtuch wieder um ihn.
Schmollend streckt er die Lippen vor und sieht mich so finster an, dass ich lachen muss. »Ab ins Bett jetzt, kleiner Mann«, sage ich in meinem strengen Mommy-Tonfall, und das gefällt ihm gar nicht.
»Bei Daddy musste ich nie ins Bett«, sagt er trotzig, und ich muss mich stark zusammenreißen, während ich versuche, mich an all das zu erinnern, was ich im Internet gelesen habe. Wenn das Kind zu kurz kommt. Wie man mit Scheidungskindern umgeht. Wie man mit dem Tod eines Elternteils zurechtkommt. Doch mir fällt nichts mehr ein. Ich kann nicht klar denken. Keine Ahnung, was das Beste in dieser Situation ist. Mir wird ganz heiß vor Beklommenheit, und ich weiß nicht, wie ich auf Jax’ Verhalten reagieren soll.
»Na gut!« Er stampft mit dem Fuß auf und verschränkt die Arme vor der Brust. In dem Moment, als er mir den Rücken zudreht, stehe ich auf und wische mir die verdammten Tränen aus den Augen.
Verflucht noch mal, hört dieser beschissene Tag denn nie auf?
Die Arbeit war heute die reinste Katastrophe; ich wünschte, ich wäre einfach zu Hause geblieben. Ach, wem soll ich etwas vormachen? Im Restaurant war es wie immer. Das war nicht der Grund, warum es mir heute nicht gut ging.
Mit zusammengebissenen Zähnen strecke ich meinen Rücken vor und nehme ein Buch aus dem Regal, um Jax daraus vorzulesen. »Dieses hier, Baby-Schatz?«, frage ich.
»Ich bin kein Baby mehr, Mom«, sagt er schnaubend und schmeißt sich aufs Bett. »Ich bin schon drei«, fügt er trotzig hinzu und hält drei Finger hoch.
Ich wünschte, ich wäre nicht so verdammt emotional, denn das tat gerade richtig weh. Am liebsten würde ich laut schreien. Und weinen. Doch stattdessen sage ich nur: »Okay, dann Jax! Das hier?«
Strahlend nickt er, und es erfordert all meine Willenskraft, mich auf sein Bett zu setzen und mir nicht anmerken zu lassen, dass ich gerade innerlich zerbreche. Ich lese ihm das Märchen mit der gleichen fröhlichen Stimme wie immer vor, obwohl sich meine Kehle ganz heiser und rau anfühlt. Das Einzige, was mich wieder etwas aufmuntert, ist der Moment, als er mir mit seiner Kinderstimme sagt, dass er mich liebhat, und mich umarmt, bevor ich ins Bett gehe. Mag sein, dass er nicht mehr mein Baby sein will, aber für mich bleibt er das. Ich halte ihn länger fest als sonst, und er lässt es zu, ohne zu meckern. Mein Herz zieht sich zusammen, und ich muss ihm schnell seinen Gutenachtkuss geben und das Licht ausmachen, bevor er sieht, in welchem Zustand ich mich befinde.
In der Sekunde, als ich seine Tür schließe, lasse ich alles raus.
Ich weine so heftig, wie ich es schon seit Jahren nicht mehr getan habe, und verschwinde eilig in meinem Schlafzimmer. Erschöpft lasse ich mich auf mein Bett fallen und wünschte, ich könnte alles rückgängig machen.
***
Ein lautes Klopfen an der Tür reißt mich aus dem Schlaf. Mist. Ich bin immer noch vollständig angezogen und liege bäuchlings auf meinem gemachten Bett. Müde reibe ich mir die Augen, und während ich langsam aufstehe, merke ich, wie extrem wacklig ich auf den Beinen bin.
Bamm! Bamm! Wieder hämmert jemand gegen die Tür.
Ich renne praktisch nach vorn – so gut das in meinem Zustand geht –, um zu verhindern, dass Jax von dem Klopfen wach wird. Wer zum Teufel hämmert um diese Zeit an die Tür? Wut erfasst mich, und beinahe hätte ich die Tür aufgerissen, ohne durch den Spion zu sehen. Sie ist nicht mal abgeschlossen. Vor Ärger knirsche ich mit den Zähnen und vergesse mich fast, als wer auch immer da vor der Tür steht, erneut laut klopft. Ich muss mich zusammenreißen und mit Bedacht vorgehen. Schließlich stelle ich mich auf die Zehenspitzen, um durch den Spion blicken zu können.
Es ist ein Polizist. Scheiße!
Mein Herz bleibt eine Sekunde lang stehen, und meine Fingerspitzen werden ganze taub. Ich schüttle die Hände aus und öffne die Tür, bevor der Blödmann noch einmal klopft.
»Rebecca?«, fragt er deutlich besorgt.
»Ja, das bin ich?« Am liebsten würde ich ihn berichtigen, aber das tue ich nicht. Natürlich ist das mein Name, aber ich hasse es einfach, wenn man mich nicht Becca nennt.
»Ich würde gern mit Ihnen sprechen, hätten Sie einen Moment Zeit?« Er mustert mich prüfend, bevor sein Blick in den Raum hinter mir wandert. Beinahe hätte ich über die Schulter geblickt, doch ich reiße mich gerade noch zusammen. Ich weiß ja, dass dort niemand ist.
»Natürlich«, sage ich nickend, bewege mich jedoch keinen Zentimeter vom Fleck. Er soll seine Fragen hier an der Tür stellen, und das schnell.
»Wir haben heute Abend einen Anruf erhalten, dass Sie und Ihr Sohn entführt wurden und gegen Ihren Willen festgehalten würden«, sagt er wesentlich ruhiger, als ich es erwartet hätte.
Schnaubend lache ich auf. »Tja, wie Sie sehen, stimmt das nicht. Ich bin hier zu Hause.« Meine Finger drängen danach, mir ans Kinn zu fassen, um sicherzugehen, dass mein Make-up immer noch die Blutergüsse überdeckt.
Unbehaglich tritt der Officer von einem Bein aufs andere. »Wo waren Sie gestern?«
Ich lasse den Mund geschlossen, während ich dem Polizisten direkt in die Augen blicke. »Ich war bei einem Freund.«
»Könnte ich den Namen dieses Freunds erfahren?« Er zieht einen Notizblock mit Stift aus seiner Gesäßtasche, und ich widerstehe dem Drang, ihm beides aus der Hand zu schlagen.
»Wirft man mir irgendwas vor?«, frage ich und sorge dafür, dass man mir meinen Ärger anhört. Doch ich bin nicht mehr verärgert. Ich habe wahnsinnige Angst. Ich will nicht, dass er mir Fragen stellt.
»Nicht, solange Sie die Wahrheit sagen. Verschweigen Sie irgendetwas?« Der Officer schiebt sein kantiges Kinn vor und blickt erneut über meine Schulter.
»Nein, das tue ich nicht. Ich würde jetzt gern ins Bett gehen, Officer.« Unwillkürlich kralle ich die Finger fester um die Tür, während ich hinzufüge: »Mir geht’s gut. Es gibt also keinen Grund, Ihre und meine Zeit weiter zu verschwenden. Ich bin ziemlich müde und möchte einfach nur schlafen gehen.« Zumindest Letzteres stimmt.
»Dürfte ich hereinkommen und mich kurz …« Ich lasse ihn nicht ausreden.
»Ehrlich gesagt wäre mir das nicht so recht. Mein Sohn schläft.« Ich lasse ihn ganz sicher nicht in mein Haus.
»Das verstehe ich sehr gut, Mrs Harrison.« Als ich diesen Namen höre, steigt erneut Wut in mir auf.
»Bartley.«
»Wie bitte?«, fragt er.
»Rebecca Bartley. Harrison war der Name meines Mannes.«
»Oh, ich bitte um Entschuldigung. Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht.«
Seine Entschuldigung wirkt ehrlich, doch das mildert meinen Zorn nicht ab. Und meine Traurigkeit auch nicht.
Mit zusammengepressten Lippen lächle ich ihn an. »Ihnen auch.« Es überrascht mich, dass mich so eine starke Wut überkommt. Sie wird allerdings direkt von einem tiefen, quälenden Schmerz in meinem Innern abgelöst.
Ich mache die Tür zu, betätige beide Verriegelungen und lehne mich mit dem Rücken gegen das Holz. Erschöpft schließe ich die Augen und versuche, tief durchzuatmen.
Ich kann diesen Mist nicht allein durchstehen.
Ich wünschte, Dom wäre hier. Ich wünschte, er würde mich festhalten. Müde schlinge ich die Arme um mich und gehe langsam zurück ins Bett. Ich komme mir so verloren vor und fühle mich so unsicher.
Und ziemlich allein.