Dom

Ich balle die Hände zu Fäusten und löse sie wieder, um das taube Gefühl loszuwerden. Durch die Bewegung platzen die Wunden wieder auf, und das tut höllisch weh, aber es ist mir egal. Ich bin froh, dass es wehtut.

»Alles okay, Boss?« Johnny wiederholt diese verdammte Frage jetzt schon zum tausendsten Mal. Nein, bei mir ist nicht alles okay.

»Mir geht’s gut.« Als mir klar wird, was ich gesagt habe, lache ich schnaubend. Das Gleiche hätte sie auch gesagt.

Ich setze mich an den Schreibtisch, der in der Ecke des Büros steht. Auf der anderen Seite des Raums, gegenüber vom Billardtisch. Es ist ein moderner Glastisch mit Stahlverkleidung. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich je hier gesessen habe. Genervt trommle ich mit den Fingern auf die Tischplatte, während ich auf unsere nächste Lieferung warte.

Es ist so lästig. So langweilig. Ich muss diesen Scheiß nicht machen. Ich habe mehr Geld, als ich je wollte, und nichts, wofür ich es ausgeben könnte. Was zum Teufel habe ich überhaupt je bei diesen Meetings zu tun gehabt?

»Boss?« Finster sehe ich Johnny an und komme mir plötzlich wie ein Arsch vor. Er kann ja nichts dafür. Andererseits bin ich aber nun mal tatsächlich ein Arsch.

Ich atme einmal tief durch und bemühe mich erfolgreich, wieder halbwegs normal zu klingen. »Was denn?«

»Ich wollte dir nur sagen, dass du immer noch diese Anfragen bekommst.«

»Was für Anfragen?«

»Zu verkaufen. Falls du willst.«

Verwirrt runzle ich die Stirn. Wovon zum Teufel redet er? Er antwortet, noch bevor ich die Frage laut stellen muss.

»Ich weiß, du hast gesagt, ich soll nicht mehr davon anfangen, aber ich dachte, du würdest es vielleicht gern wissen wollen.«

In diesem Moment macht es bei mir klick. Ich soll mein Geschäft an diese Gangster verkaufen? Ich bekomme ständig irgendwelche beschissenen Angebote. Von Leuten, die nicht den vollen Preis für die Übernahme meiner Kunden zahlen wollen und die das Ganze sowieso an die Wand fahren würden. Sie verstehen nicht so viel von diesem Geschäft wie ich. »Danke, ich verzichte.« Diese Entscheidung fällt mir leicht.

Johnny lächelt mit zusammengekniffenen Lippen und nickt. »Ich dachte nur, dass du vielleicht jetzt lieber was anderes machen willst.« Er setzt sich aufs Sofa und starrt auf den Fußballplatz hinunter. Heute sind einige Spieler draußen und trainieren; ich möchte nicht mit ihnen tauschen.

Lieber was anderes machen. Was denn? Nur noch die Buchhaltung für Pops? Das wäre todlangweilig. Ich wollte mir immer selbst einen Namen machen. Eigene Arbeit, eigenes Geld – das war lange Zeit mein Motto. Aber jetzt will ich das nicht mehr. Das alles nicht. Vielleicht verkaufe ich die Firma. Vielleicht will Becca mich dann.

Kopfschüttelnd trommle ich mit den Fingerknöcheln auf die Glasplatte ein. Nein, sie wird mich trotzdem nicht wollen. Es ändert nämlich nichts an der verdammten Tatsache, dass ich bin, wer ich bin. Das weiß ich, und sie weiß das auch.

Ich bin der Sohn vom Boss. Er hat zwar versucht, mich aus diesem Leben rauszuhalten, aber so ganz ging das nicht. Die Familie kann man nicht verlassen. Schon gar nicht, wenn man der Sohn vom Boss ist. Dieser Gedanke sorgt dafür, dass sich meine Brust zusammenkrampft. Ich werde nie der Mann sein, den Becca verdient. Ich wurde in die Mafia hineingeboren. Es gibt nur einen Weg da raus, und ich bin nicht bereit zu sterben.

Ein Klopfen an der Tür lenkt mich von meinen makabren Gedanken ab. Seufzend stelle ich mein Handy an. Zehn Uhr. Viel zu früh. Hoffentlich ist dieser Tag bald vorbei, damit ich nach Hause kann. Was ich dort will, weiß ich selbst nicht, aber bis dahin wird mir schon irgendwas einfallen. Ich will einfach nur nicht hier sein.

Als Johnny die Tür öffnet, dröhnt die Stimme von Pops durch den Flur. Ohne den Kopf zu bewegen, hebe ich den Blick, um den beiden zuzusehen.

»Johnny!« Pops klopft ihm auf den Rücken und lächelt ihn herzlich an, aber eins steht fest: Er ist hier, um mehr über die Sache mit Clara zu erfahren. Da bin ich mir sicher. Irgendwas läuft zwischen den beiden. Wobei mich das nichts angeht, solange er ihr nicht wehtut. Dann geht es mich allerdings sehr wohl was an.

»Schön, dich zu sehen, Boss.« Johnny blickt ihm direkt in die Augen und erwidert das Lächeln. Sehr mutig, aber das ist Johnny auch. Mittlerweile sind wir seit Jahren befreundet, und ohne ihn könnte ich meine Geschäfte nicht durchziehen. Trotzdem gefällt es mir nicht, dass er heimlich mit meiner Schwester rummacht. Und Pops gefällt es noch weniger, darauf kann er Gift nehmen. Er sollte das Geplänkel besser sein lassen und ihr möglichst bald einen Ring an den Finger stecken.

»Hey, Pops.« Ich straffe die Schultern und stehe auf, um ihn zu begrüßen. »Wusste gar nicht, dass du kommst.«

Wir umarmen uns kurz, und ich deute auf die Bar, doch er schüttelt den Kopf.

Stattdessen macht er es sich ohne Drink auf dem Sofa bequem, und ich setze mich neben ihn. Er war schon ein paarmal hier, meistens, um sich vor einer Familienfeier – oder einer Familien feier – mit mir zu treffen. Aber normalerweise gibt er dann vorher Bescheid.

»Was ist denn los, Pops?«

»Ich wollte nur mal schauen, ob alles in Ordnung ist.« Prüfend sieht er mir in die Augen, und fast hätte ich weggeschaut. Schließlich beuge ich mich vor, stütze die Ellbogen auf den Knien auf und lege mein Kinn in meine gefalteten Hände. Ich lasse mir einen Moment Zeit, bevor ich ihm antworte. Keine Ahnung, was ich ihm sagen soll. Ich bin nicht in Ordnung.

Am Ende entscheide ich mich für die Wahrheit – oder zumindest hoffe ich, dass es wahr ist. »Ich komme schon klar.«

»Das war ziemlich heftig, Dom. So habe ich dich noch nie gesehen.« Ich senke den Blick auf den Boden und atme tief ein, bevor ich hörbar die Luft wieder ausstoße.

»Tja.« Was will er von mir hören? In meiner Erinnerung kehre ich zu dem Moment vor einigen Nächten zurück, als ich die Wichser mit den Fäusten zu Brei geschlagen habe. Sie hingen gefesselt mit dem Kopf nach unten von der Decke, als ich dort ankam. Genauso, wie sie Becca festgebunden hatten. Den Drecksack mit dem Drachentattoo habe ich mir bis zum Schluss aufgehoben. Ich wollte, dass er genau wusste, was auf ihn zukommen würde. Er sollte zusehen, wie die anderen sterben. De Luca kam als Vorletzter an die Reihe. Niemand hat sich darum geschert, was ich mit ihm mache.

Ich musste es tun. Für Becca.

»Sean war neulich bei ihr. Bei Rebecca.« Die Erwähnung ihres Namens bringt mich in die Gegenwart zurück.

»Sie heißt Becca. Und ich weiß.« Überrascht hebt Pops eine Augenbraue und zieht die Mundwinkel nach unten.

»Sie hat dich angerufen?«, fragt er.

»Nein, ich war bei ihr. Nur, um ihr zu sagen, dass sie jetzt in Sicherheit ist.« Mir dreht sich der Magen um, und mein Herz wird von einer Eisschicht überzogen. Eigentlich wollte ich zu ihr fahren, um mit ihr zu reden und sie davon zu überzeugen, uns noch eine Chance zu geben. Aber ich wäre ein mieses Arschloch, wenn ich ihr und Jax das antun würde. Die beiden haben was Besseres verdient. Deshalb bin ich im Auto geblieben. Und habe darüber nachgedacht, was für ein egoistischer Scheißkerl ich bin, weil ich sie in meinem Leben will. »Ich hab gesehen, wie er ihre Einfahrt hochgeht, und gewartet.«

»Und? Was hat sie dir erzählt?« Interessiert beugt Pops sich zu mir vor.

Ich schüttle den Kopf. »Nichts.« Mühsam schlucke ich den Kloß in meinem Hals hinunter und lecke mir über die Lippen, bevor ich mich auf der Couch zurücklehne. »Ich habe nicht mit ihr gesprochen.«

»Aha.« Pops blickt nach links zu Johnny und stößt einen Seufzer aus. »Tja«, er wendet sich wieder mir zu, »sie hat auf jeden Fall nichts verraten. Damit ist sie über jeden Verdacht erhaben. Ich hab Jack gesagt, er soll die Sache jetzt ruhen lassen.«

»Was hat Jack denn jetzt schon wieder für ein verdammtes Problem?« Mein Blut fängt an zu kochen, und Wut steigt in mir hoch, als ich das höre. Ruhen lassen? Er soll sich verdammt noch mal verpissen.

»Keins, Dom.« Beruhigend legt Pops mir die Hand auf die Schulter. »Er ist nur wahnsinnig paranoid. Aber jetzt ist er zufrieden.«

Ich mustere ihn eingehend und nicke dann. »Das will ich auch hoffen. Zwischen ihr und mir wird es zwar offensichtlich nichts, aber es rührt sie trotzdem keiner an.«

»Das verstehe ich nicht, Dom.« Pops senkt die Stimme und sieht mich bedrückt an. »Ist es wegen dem Kind? Er ist ein lieber kleiner Kerl und …«

Ärgerlich fahre ich zu ihm herum. »Darum geht’s überhaupt nicht. Ich habe kein Problem mit dem Kleinen.«

»Dann kapiere ich es noch weniger, Dom. Was zum Teufel ist denn dein Problem?« Es ist schon eine Weile her, dass mein Vater so mit mir gesprochen hat.

Unruhig kaue ich an der Innenseite meiner Lippe herum, weil ich ihm nicht antworten will, aber er hat danach gefragt. Und er ist der Boss. »Sie muss ihren Sohn beschützen. Sie kann nicht mit einem wie mir rummachen.«

»Von ›rummachen‹ habe ich ja auch gar nichts gesagt, Dom. Ich habe gesehen, wie ihr beide euch angeschaut habt. Wie du mit ihr umgegangen bist. Ich weiß, was sie dir bedeutet. Und du willst sie einfach ziehen lassen?«

»Ich muss. Sie kann dieses Leben nicht führen.« Verzweifelt hebe ich die Hände zur Decke, und als ich mich wieder in die Polster fallen lasse, habe ich das Gefühl, dass ein schweres Gewicht auf meiner Brust lastet. Müde fahre ich mir mit der Hand übers Gesicht.

»Dann gib dieses Leben auf. Wenn du denkst, dass sie es wert ist.«

»Ich soll die Familia aufgeben?« Ungläubig sehe ich ihn an.

Er kräuselt die Lippen und zieht hörbar den Atem ein.

»So meinte ich das nicht. Du sollst das hier aufgeben, das Geschäft. Verhalte dich unauffällig. Such dir irgendeinen langweiligen Sesselpupserjob mit deinem Uniabschluss. Tu, was du tun musst.«

»Tu, was du tun musst?« Ich schlucke schwer. Solche Andeutungen kann ich überhaupt nicht leiden. Mir ist es lieber, man klatscht mir die Wahrheit direkt ins Gesicht.

»Mehr kann ich dir auch nicht raten, mein Sohn. Ich sage nur: Sonntagabends wird immer bei uns zu Hause mit der Familie gegessen.«

»Was hat das denn jetzt damit zu tun?«

»Du musst dir nur klarmachen, dass das eine unumstößliche Bedingung ist. Die einzige Bedingung.« Die einzige Bedingung. Einen Moment lang starre ich Pops nur stumm an.

Er lächelt mir zu, bevor er aufsteht und sein Jackett richtet. »Deine Ma mochte sie. Das ist schon mal ein großer Erfolg.«

»Ich glaube, das Ganze ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst, Pops.« Ich stehe ebenfalls auf und umarme ihn kurz, aber fest.

»Wenn du sie an deiner Seite haben willst, dann nimm sie; was ist daran so schwierig?« Grinsend schaut er mich an, bevor er sich umdreht und geht.

Ich sehe zu, wie sich die Tür schließt. Wenn es doch nur so einfach wäre.