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- ROBERT -

»W as denn, heute keinen Roman dabei?«, zieht mich Shaun vom Fahrersitz auf.

»Muss mir erst Nachschub besorgen«, gebe ich zurück.

Das scheint er mir nicht abzunehmen. Er dreht sich zu mir um und mustert mich, bis mir der Geduldsfaden reißt.

»Himmel, was ist denn?«, motze ich. Wenn Shaun mich so ansieht, habe ich immer das Gefühl, er würde in meinen Kopf eindringen und meine geheimsten Gedanken lesen. Das Schlimme daran wäre, dass er sie wahrscheinlich nie wieder vergessen würde. Zur Erinnerung, er besitzt ein fotografisches Gedächtnis.

»Seit wann redest du Bullshit, Bobby?«

Zum Zwecke der Ablenkung wedele ich über seinem Notizbuch herum, das unvermeidlich samt Bleistift auf seinem Schoß liegt. »Erzähl mir was darüber.« Im selben Augenblick, als mir das letzte Wort über die Lippen huscht, erkenne ich meinen Fehler. Verdammt, ich hätte einfach die Klappe halten oder meine Forderung präziser formulieren sollen. Ich wollte doch nur, dass er mir über seine vorhin gemachten Notizen erzählt.

Shauns Antwort folgt auf dem Fuße. »Mit einem einzigen Bleistift kann man einen fünfundfünfzig Kilometer langen Strich ziehen. Leonardo da Vinci schrieb seine Notizen gerne in Spiegelschrift. Ein Durchschnittstyp bringt das Gewicht von zweihundertzwanzig DIN-A5-Notizbüchern auf die Waage. Biernägel sind Metallbeschläge, die auf dem Buchdeckel aufgebracht werden, um zu verhindern, dass das Buch mit verschüttetem Bier oder anderen Flüssigkeiten in Berührung kommt. Die Nägel sorgen für ausreichend Abstand zur Tischplatte. Die Wahrscheinlichkeit, beim Schreiben ins Notizbuch von einem abstürzenden Flugzeug getötet zu werden, liegt etwa bei 1:7 Trillionen.« Shaun holt Luft und starrt mich an.

Mir entfleucht ein verzagtes Stöhnen. Aus Erfahrung weiß ich, dass Shaun nicht zu stoppen ist, sobald er Informationen abruft, die sein Gehirn irgendwann aufgenommen hat. Ich muss gestehen, das bringt gewisse Vorteile mit sich, aber beneiden würde ich ihn niemals darum. Jedenfalls wird er erst aufhören, wenn er alles losgeworden ist.

Andererseits ist es witzig, wenn Louis oder Fallon ihn unterbrechen – ich selbst bin nicht so herzlos. Seine Wangen werden rot, die Augen riesig und er wirkt, als würde sein Kopf jeden Moment explodieren. Manchmal warte ich geradezu darauf, dass Rauch aus seinen Ohren aufsteigt, da er so sehr unter Druck steht, bis ihm der verursachte Infostau herausplatzt, egal ob jemand zuhört oder er es sich nur in seinen nicht vorhandenen Bart brabbelt.

Ich werfe ihm einen vorsichtigen Blick zu. Offensichtlich ist er fertig und wartet auf eine Reaktion, und zwar nicht auf die Informationsflut, der er mich ausgesetzt hat, sondern auf die Frage, seit wann ich Bullshit rede.

Mist! Dieses Ablenkungsmanöver ging nach hinten los, weshalb ich etwas anderes versuche. »Wie war der Abend? Haben sich Fallon und Louis wieder gegenseitig beim Dart fertiggemacht?«

Er schnaubt verächtlich. »Wenn du mal mitkommen würdest, wüsstest du, dass die zwei nur montags Dart spielen. Versuch’s noch mal oder sag mir einfach, was wirklich los ist.« Shaun lehnt sich in seinen Sitz zurück und richtet seinen Blick auf das Lagerhaus etwa hundert Meter vor uns. »Oder du erzählst weiter Bullshit. Wie immer du willst. Ich bin der Letzte, der dich zu irgendwas drängen möchte.«

Ich lache. »Gott, das glaubst du doch selbst nicht. Du bist wie ein Terrier, dem man den Knochen geklaut hat. Na gut, vielleicht kein Terrier, eher ein Rottweiler, der genau weiß, dass er früher oder später bekommt, was er will, weil der freche Dieb nur einen Blick auf ihn werfen muss, um die Hosen voll zu haben.«

»Wenn du das weißt, verstehe ich nicht, warum du unsere Zeit vergeudest und nicht gleich mit der Sprache rausrückst.«

»Es ist privat.«

»Genau, was ein Partner gerne hört. Das klingt so sehr nach Vertrauen, dass mir ganz warm ums Herz wird, Flinn.«

»Wie lange arbeitest du noch mal für Ledecky?«

Shaun dreht in Zeitlupe den Kopf und bedenkt mich mit einem höhnischen Blick. »Noch ein superelegantes Ablenkungsmanöver?«

»Das war eine ernst gemeinte Frage.«

»Sechs Jahre«, brummt Shaun. »Ich dachte, du wüsstest das.« Er wirft mir erneut einen dieser intensiven Blicke zu. »Was du auch tust. Also, worauf willst du hinaus?«

Natürlich weiß ich das. Ich weiß auch, dass er davor bei den Marines war. Was genau er dort getan hat, ist unklar. Für diese Information ist meine Geheimhaltungsstufe zu niedrig. »Hast du je in Sachen Medikamentenmissbrauch ermittelt?«

»Das ist ein sehr weites Feld. Geht’s etwas präziser?«

»Na ja, angenommen, es käme jemand zu dir und würde den Verdacht äußern, dass irgendwer Medikamente stiehlt.«

»Reden wir hier von einer Handvoll Opiaten, die aus Arztpraxen verschwinden, um süchtigen Millionärsgattinnen oder Filmsternchen mehr Pep in ihr ach so langweiliges Leben zu bringen, oder von Medikamentenhandel im großen Stil?«

»Da bin ich mir nicht sicher.«

»Was ist los? Bist du einem Dealer auf der Spur und ich weiß nichts davon?«

»Also gab es vor meiner Zeit hier derartige Fälle?«

»Wann gibt es die nicht?« Er knirscht mit den Zähnen und ballt das Gesicht zur Faust. »Ich werd stinksauer, wenn ich bloß drüber nachdenke. Seit Jahrzehnten kämpfen wir mit dem Desaster, das die Pharmakonzerne hinterließen, weil sie das Abhängigkeitsrisiko von Schmerzmitteln verharmlosten. Und dann die Leistungsvergütung. Unsere Ärzte wurden jahrelang dafür belohnt, Patienten schnellstmöglich schmerzfrei zu bekommen. Und was hat die FDA getan?« Die Arzneimittelbehörde. »Sie zuckten nur gleichgültig die Achseln. Ich meine, sie haben es tatsächlich geschafft, dass in Zigarettenwerbung vor dem Konsum gewarnt wird, aber bei Opioiden verpennten sie einen Warnhinweis bezüglich des hohen Suchtpotenzials komplett. Himmel, die USA stellt ungefähr fünf Prozent der Weltbevölkerung dar. Aber diese fünf Prozent konsumieren mehr als Dreiviertel der weltweit produzierten Schmerzmittel.«

Dass er über derlei Informationen verfügt, ist mir klar, aber … »Wow, dieses Thema beschäftigt dich wohl sehr?«

»Sollte es mich etwa kaltlassen?« Shaun atmet schwer ein und aus und sieht mich traurig an. »Meine Tante ist vor einigen Jahren an einer Betäubungsmittel-Überdosis gestorben. So steht es in ihrem Totenschein. Wie bei so vielen, die, aus welchen Gründen auch immer, in eine Abhängigkeit geraten sind und ihre Sucht nicht in den Griff bekommen konnten. Doch niemand übernimmt die Verantwortung für das Drama.«

»Oh Gott, das tut mir leid. Kein Wunder, dass dich das so aufregt.«

»Ich habe sie wirklich geliebt. Sie wollte nicht auf mich hören. Es fing ganz harmlos an, weißt du?« Shaun so emotional zu erleben ist eine Seltenheit.

»Was ist passiert?«

»Rachel klagte über Rückenbeschwerden. Es stellte sich heraus, dass sie durch ihre einseitige Bewegung am Fließband kurz vor einem Bandscheibenvorfall stand. Ihr wurde Physiotherapie verordnet. Eine Zeit lang besuchte sie sogar ein Fitnessstudio, um dort etwas für den Muskelaufbau zu tun. Das hielt aber nicht an. Sobald sie sich nicht wohlfühlte, schmiss sie eine Pille ein.« Er zuckt die Schultern. »Es kam, wie es kommen musste. Es reichte nicht mehr nur eine morgens und abends. Am Ende besorgte sie sich die Dinger auf der Straße. Das habe ich allerdings erst nach ihrem Tod erfahren.«

Ich bin sprachlos.

Er mustert mich einen langen Moment. »Jetzt weißt du, wie ich dazu stehe. Und nun verrat mir, worum es hier wirklich geht.«

Innerlich liege ich mit mir selbst im Klinsch. Ich hatte Bonasera versprochen, Shaun vorerst nicht zu involvieren. Dennoch brauche ich Informationen von jemandem wie Shaun. Er kennt sich nicht nur in L.A. aus, sondern bringt eigene Erfahrungen mit ein und sein Kopf funktioniert wie eine mobile Datenbank. Ihn derart leidenschaftlich über ein Thema wie dieses reden zu hören, zeigt, wie hart ihn das Schicksal seiner Tante getroffen hat.

»Du kannst mir vertrauen, Bobby. Das weißt du doch, oder?«

Seitdem ich mit Shaun zusammenarbeite, höre ich diese zwei Sätze in verlässlicher Regelmäßigkeit. Bisher fiel es mir schwer, das zu glauben. Nein, anders, ich wollte ihm glauben, doch meine Erfahrungen in San Francisco haben mir so was wie ein Trauma beschert. Es wird Zeit, dass ich über meinen Schatten springe.

Ich begegne Shauns offenem Blick und nicke. »Das möchte ich. Wirklich.«

Er seufzt. »Wann wirst du mir erzählen, was in San Francisco geschehen ist?«

Und weil mich mein Bauchgefühl regelrecht anschreit, er wäre einer der wenigen, denen ich es endlich sagen muss, tue ich das. Ich nenne alle und jeden beim Namen, sogar die Journalistin. Als ich fertig bin, fühle ich mich, als hätte mich jemand durch die Mangel gedreht. Es fällt mir immer noch schwer, über die letzten Wochen in meiner alten Heimat zu reden.

Shaun ist mucksmäuschenstill, starrt zur Frontscheibe hinaus.

Die Dämmerung ist inzwischen über uns hereingebrochen. Was bedeutet, wir sitzen jetzt seit geschlagenen zehn Stunden hier rum und nichts ist geschehen. Ich hasse Observierungen fast genauso, wie Berichte zu schreiben.

»Ganz ehrlich, Bobby.« Shaun klingt wie ein wütender Bär. »Sollte ich je einen dieser Idioten in die Finger kriegen, mach ich Kleinholz aus ihm.«

Ich kann nicht anders, als ihn glücklich anzugrinsen, als er mich ansieht. »Danke. Es tut gut, das zu hören. Vega hat wirklich sein Bestes gegeben und vielleicht hätte ich einfach nur durchhalten sollen.«

»Nein, das ist nichts, was man aussitzt, Kumpel. Dein ehemaliger Chief ist kein Gott, der fähig wäre, Arschlöcher zu bekehren. Sein Nachfolger hätte aber härter durchgreifen müssen. Wie auch immer. Weißt du, manchmal ist es besser, der Klügere zu sein. Das bedeutet nicht, dass du feige bist. Oh Mann, nichts an dem, was du getan hast, ist feige. Es gehört eine Menge Mut dazu, alles hinter sich zu lassen und neu anzufangen.« Erneut mustert er mich durchdringend, bevor ein unerwartetes Grinsen auf seinem Gesicht erscheint. »Und Louis und ich hatten angenommen, der Doc und du, ihr hättet da ein etwas zu intensives Vorspiel.« Er schnaubt. »Scheiße, ich schulde Fallon fünfzig Mäuse. Sie meinte, da läuft nichts, außer dass ihr gemeinsam in den Ring steigen solltet, um eure Differenzen aus der Welt zu schaffen.«

Mir fallen um ein Haar die Augen aus dem Kopf. »Bitte was? Erstens fahre ich nicht auf aggressives Balzverhalten ab und zweitens weiß ich nicht mal, ob er auf Kerle steht.« Ich hole tief Luft und motze: »Und was ist das überhaupt für eine idiotische Wette, die ihr da am Laufen habt?« Insgeheim muss ich zugeben, dass sich die drei wie typische Kollegen verhalten, die einen aus ihrer Mitte freundschaftlich aufziehen. Was mir ein seltsam gutes Gefühl von Zugehörigkeit vermittelt.

»Sieh an, sieh an. Du hast also schon mal über Docs Präferenzen nachgedacht, hm?«, ignoriert er meinen Ausbruch bezüglich der Wette.

Hab ich? »Nein!«

»Hm, dann ist also seine Schwester schuld, dass er dich nicht leiden kann? Sie hat ihn sicher gegen dich aufgebracht.«

»Bin mir nicht sicher.«

»Verstehe ich nicht.«

»Als ich mich das letzte Mal mit ihm unterhalten habe …«

»Moment mal. Wann soll das gewesen sein?«

Tja, Mist! Ich kann ihn nicht anlügen. »Letzte Nacht.«

Jetzt ist es an Shauns Augen, beinahe aus dem Kopf zu ploppen. Was wirklich lustig aussieht. »Du willst mich verarschen, oder?«

»Ganz sicher nicht. Jedenfalls hatte ich den Eindruck, er hätte keinen Schimmer von der Geschichte mit seiner Schwester. Was mich irgendwie verwirrt. Wie du sagst, war er immer sehr … Ich nenn es mal uncharmant.«

»Bobby, ist das dein Ernst? Du kannst dir nicht erklären, wieso der Doc dir gegenüber so kratzbürstig ist, obwohl er womöglich nichts über deine Vergangenheit weiß? Kratzbürstig trifft es übrigens besser als uncharmant.«

»Ich habe ihm nie etwas getan, oder?«

Shauns donnerndes Lachen lässt mich zusammenzucken. Als er sich wieder beruhigt hat, sieht er mich kopfschüttelnd an. »Was glaubst du wohl, warum Ledecky und ich wollen, dass du mit Bonasera über das Angebot sprichst?«

»Tja, das habe ich mich auch gefragt.«

»Wir wollten zwischen euch Frieden stiften. Wir hofften, du würdest die Gelegenheit nutzen und dich endlich so zeigen, wie du bist – ein netter Kerl, dem das Wohl anderer immer wichtiger ist als das eigene und mit dem man Spaß haben kann, wenn er einen denn lässt.«

»Na hör mal, ich war …«

»Nie nett zu ihm. Und jetzt ist mir auch klar, wieso. Wegen seiner Schwester. Du hast Bonasera für ihre Aktion bestraft. Na ja, und der Doc hat nur reagiert wie jeder normale Mensch. Du kennst den Spruch: Wie es in den Wald hineinschallt, so schallt es wieder heraus?«

»Ich bin also schuld daran, dass er mich ständig angemault hat?«

»Logisch.«

»Wow, das schockiert mich jetzt«, flüstere ich entgeistert und rutsche tiefer in den Sitz.

»Was? Dass du dich ihm gegenüber ungerechtfertigt wie ein Arsch verhalten hast?«

»Das auch.«

»Oh, lass hören. Was noch?«

Ich kann nicht fassen, dass ich das jetzt sage. »Dass du angenommen hast, wir hätten da was am Laufen.«

Erneut bricht Shaun in haltloses Gelächter aus.

»Schön, dass ich dich amüsiere«, maule ich unleidlich, gebe aber gern zu, dass sich mein Herz irgendwie leicht anfühlt. Wahrscheinlich, weil ich endlich über alles reden konnte.

»Bevor wir zurück zu dieser Medikamentengeschichte kommen, die, wie ich annehme, etwas mit dem Doc zu tun hat, muss ich dir noch eine wichtige Information geben.«

Ich seufze, rechne mit allem, sage aber ergeben: »Okay. Und die wäre?«

»Der heiße Doc steht durchaus auf Kerle.«

»Oh!«

»Überrascht oder erfreut?«

»Das geht dich nichts an«, brummele ich in mich hinein.

Was Shaun natürlich erneut zum Lachen bringt. Er hält sich den Bauch und stammelt zwischen den Atemzügen: »Mann! So viel Spaß hatte ich echt schon lange nicht mehr.«

»Blödmann«, erwidere ich ohne Nachdruck. Shaun so zu erleben, entschädigt mich für all die kleinen Peinlichkeiten, in die ich mich offenbar immer wieder selbst hineinmanövriere. »Woher willst du wissen, dass die Sache mit Bonasera zu tun hat?«

Er sieht mich an, als hätte ich nicht alle Latten am Zaun. »Na hör mal, schon vergessen, was ich jobtechnisch mache? Und nachdem du nun ein paar Mal darauf beharrt hast, dass nichts zwischen euch läuft, und du bis eben nicht einmal wusstest, dass Bonasera Kerlen nicht abgeneigt ist, wirst du dich mit ihm nicht bloß auf ein Schwätzchen getroffen haben, und das mitten in der Nacht.«

»Stimmt auch wieder.«

»Also?«

Ja, also … erzähle ich Shaun die komplette Geschichte.

Nachdem ich geendet habe, bleibt er erneut für einen langen Moment ganz still. Inzwischen ist es stockdunkel. Jede zweite oder dritte Straßenlaterne funktioniert nicht. Weshalb ich nur Umrisse erkennen kann. Dann zuckt er die Schultern und dreht seinen Kopf zu mir. In einem Tonfall, der mir meine Haare auf den Unterarmen zu Berge stehen lässt, erklärt Shaun: »Wir müssen jemanden einschleusen.«

»Darüber habe ich schon nachgedacht. Aber ich wüsste nicht, wie wir das anstellen sollen. Davon abgesehen, dass einer von uns es tun müsste, um niemanden sonst mit reinzuziehen. Doch wie soll das gehen, wenn wir hier festsitzen? Und selbst wenn, irgendwer wird uns erkennen. Na ja, und dann bin ich mir obendrein nicht sicher, ob Bonasera überhaupt damit umgehen könnte. Er kann einfach seine Emotionen nicht verbergen.«

Shaun schnaubt belustigt und betont nachdrücklich: »Dafür, dass ihr euch bisher nur angegiftet habt, kennst du ihn ziemlich gut, hm? Da offenbart sich aber ein reges Interesse am lieben Doc.«

»Bullshit«, brumme ich unleidlich.

»Das, Kumpel, wird sich noch zeigen. Wie auch immer, Bonasera ist durchaus fähig, sich zusammenzureißen, außer es geht um deine Person. Du scheinst sein Kryptonit zu sein. Ledecky ist nicht grundlos der Meinung, der Doc würde super ins Team passen.«

»Ist der Chief ernsthaft darauf aus, das Team zu spezialisieren?« Diese Frage treibt mich seit Monaten um.

»Klar, weshalb würde er wohl sonst nur die Besten zu sich holen?«

»Tja, und da stellt sich mir die Frage, warum ich hier bin. Ich meine, über dich brauchen wir gar nicht reden. Deine Fähigkeiten sind legendär, wenn auch manchmal nervig.« Ich zwinkere ihm zu. »Louis ist der begnadetste Profiler, den ich je erlebt habe, und Fallon … na ja, Fallon ist eine Klasse für sich. Wer sie das erste Mal sieht, denkt, sie wäre ein hirnloses Püppchen auf High Heels. Sie mag es, unterschätzt zu werden, um dann in Sekundenschnelle ein Rechenzentrum zu infiltrieren, Daten zu extrahieren und wieder aus dem System zu verschwinden, bevor überhaupt irgendeine Firewall darüber nachdenkt einzuschreiten.« Ich habe sie in Aktion gesehen und würde niemals wollen, dass sie sauer auf mich ist. Die Frau könnte innerhalb kürzester Zeit dafür sorgen, dass es mich nicht mehr gibt, ohne auch nur ihre Waffe zu zücken. Sie würde mich einfach löschen – digital. »Ich weiß echt nicht, warum er meiner Versetzung hierher zugestimmt hat«, murmle ich vor mich hin.

»Weil du das Herz der Truppe bist, oder besser gesagt sein könntest, wenn du es zulassen würdest«, entgegnet Shaun leise.

Mein Kopf ruckt zu ihm herum und ich starre verdattert seine Silhouette an. »Du willst mich verkohlen.«

»Nein.« Mit diesem einen Wort bringt er mich dazu, es für bare Münze zu nehmen. Bevor ich etwas sagen kann, fährt Shaun fort: »Wir haben alle unsere Stärken, deine ist die Empathie. Ich habe Ledecky gefragt, was an dir so besonders wäre, als es hieß, du würdest zu uns kommen. Er meinte, er hätte deine Akte gelesen und wüsste einfach, dass du zu uns passt. Du wärst der Kitt, der uns zusammenhalten würde, und du wärst auch derjenige, der uns auf die Füße tritt, sollten wir uns unbescholtenen Bürgern gegenüber rüpelhaft benehmen.«

»Das muss ich erst mal verdauen«, erkläre ich entgeistert.

Shaun klopft mir auf die Schulter. »Lass dir Zeit. Irgendwann wirst du es schon begreifen. Und bis dahin habe ich eine Idee, was die Sache mit deinem Doc betrifft.«

»Was genau geht dir gerade durch den Kopf? Oder warte, vielleicht will ich es gar nicht wissen.«

Er prustet. »Doch, willst du, glaub mir. Also, wir brauchen einen Vorwand, dass Bonasera sich mit demjenigen, der eingeschleust wurde, öfter unterhält als mit allen anderen seiner Patienten.«

»Moment mal! Du willst jemanden als Patient einschleusen? Servicepersonal wäre sicher einfacher.«

Ich sehe, wie sich der Umriss von Shauns Gesicht verändert, als würde er breit grinsen.

Bevor ich fragen kann, was er so amüsant findet, meint er: »Den Hausmeister würde dir niemand abnehmen, da du kein unbekanntes Gesicht bist. Als Patient wärst du allerdings perfekt.«

»Ähm, wie kommst du auf den schmalen Pfad?«

»Stell dir doch mal vor, du bist Arzt und die Liebe deines Lebens ist krank und liegt in dem Krankenhaus, in dem du arbeitest. Was …?«

»Stopp! Was schwafelst du da?«

Shaun klatscht in die Hände. »Oh Mann! Ich hab die absolut genialste Idee ever.«

»Ich trau mich gar nicht zu fragen.« Wie schlimm wird es wohl noch werden? Ich bereue es beinahe, Shaun eingeweiht zu haben. Zumal ich weiterhin versuche zu verarbeiten, was ich gerade über meine Rolle im Team erfahren habe.

»Weißt du was? Lass uns ins Büro fahren.«

»Aber wir können doch nicht …« Im selben Augenblick klopft es an der Fahrerseite und ich zucke erschrocken zusammen. Ich sehe nur einen dunklen Schatten.

Shaun ergreift sein Handy und aktiviert das Display, um etwas erkennen zu können. Er ist allerdings tiefenentspannt, was mich davon ausgehen lässt, dass er weiß, wer neben dem Auto steht. Dann dreht er sich um und fährt das Fenster bis zur Hälfte herunter. »Wird auch Zeit, Kumpel«, begrüßt er Louis. Ich hatte mit einem Kollegen aus dem Team gerechnet, an das uns Ledecky vorübergehend ausgeliehen hat.

Es war ein langer, langweiliger Tag und ich bin froh, dass unsere Ablösung da ist.

»Na, Mädels, habt ihr euch gelangweilt?«, zieht uns Louis lachend auf. »Fallon und ich übernehmen jetzt. Ihr könnt eure hässlichen Ärsche fortschaffen.«

»Sagt der Kerl mit dem hässlichsten Gesichtserker, den je jemand gesehen hat«, schießt Serkis trocken zurück.

Beide frotzeln noch ein bisschen, bis Louis mir seine Aufmerksamkeit schenkt. Mit einem stillen, zurückhaltenden Nicken begrüße ich ihn. Was er mit einem Seufzen entgegnet, bevor er zu Shaun sagt: »Was machst du nur mit Bobby? Jedes Mal, wenn wir uns treffen, wirkt er mehr in sich gekehrt. Du lässt ihn wohl nie zu Wort kommen, oder?«

Mir ist klar, dass Louis Spaß macht. Es ist seine Art, das Eis zwischen uns brechen zu wollen. Dennoch habe ich das Gefühl, meinem Partner beistehen zu müssen. »Shaun unterhält mich besser als jeder andere Partner, den ich hatte. Und er hört mir zu. Also danke der Nachfrage, mir geht’s blendend.«

Louis blinzelt verdutzt, dann sieht er von mir zu Shaun, um in der nächsten Sekunde zu prusten. »Glückwunsch, Shaun, du hast es endlich geschafft, dass der Kerl mir mal die Meinung geigt.« Louis streckt den Arm an Shauns Gesicht vorbei in meine Richtung und ballt die Faust.

Ich beäuge diese misstrauisch, als Shaun seufzend erklärt: »Der große Trottel will, dass du jetzt mit deiner Faust gegen seine stößt.« Er zuckt die Schultern. »Ist wohl so’n Psychoding, frag mich nicht. Tu ihm einfach den Gefallen, sonst werden wir ihn nie los.«

Auch wenn mir Louis’ erster Eindruck eher einen Spaßvogel vermittelte, stellte ich recht schnell fest, dass er ein durchaus fähiger Profiler ist. Bevor ihn Ledecky ins Team holte, arbeitete er für die Interne und half hin und wieder bei Entführungsfällen aus, wobei er sozusagen Blut leckte und nicht in sein langweiliges Büro zurückwollte, um sich mit durchgeknallten Agents herumzuärgern – O-Ton Louis Brady.

»Mein Arm wird steif«, holt mich Louis aus meiner Rückblende.

Also komme ich Louis’ Aufforderung fix nach und … fühle mich irgendwie total idiotisch dabei.

»Na bitte, der erste Schritt in eine dicke Freundschaft ist endlich getan. So, und nun macht, dass ihr verschwindet. Fallon ist gleich mit unserem Abendessen hier.«

Erst jetzt fällt mir auf, dass er zu Fuß unterwegs ist und weit und breit kein Auto steht.

Louis scheint Gedanken lesen zu können, denn er meint: »Sie hat mich zwei Blocks entfernt rausgeschmissen und behauptet, mir würde ein bisschen Bewegung guttun, bevor wir uns im Auto die Nacht um die Ohren schlagen müssen.«

»Ah, okay«, erwidere ich.

»Bis morgen dann«, entlässt uns Louis.

»Viel Spaß beim Nichtstun«, verabschiedet sich Shaun und lässt den Motor in der Sekunde an, als Scheinwerfer hinter uns auftauchen.

Langsam biegen wir an der nächsten Kreuzung ab und fahren ins Büro.

Als wir dort ankommen, stapft Shaun schnurstracks an unseren Schreibtischen vorbei und direkt auf Ledeckys Zimmer zu.

»Verdammt, Shaun, was hast du vor?«, rufe ich ihm panisch hinterher.

Er bleibt stehen, dreht sich um und erklärt seelenruhig: »Ich sagte doch, ich habe eine Idee. Wir haben einen Fall, oder nicht?«

Ich eile auf ihn zu und schaue mich hektisch um, bevor ich leise schimpfe: »Ich habe Bonasera versprochen, dass wir das inoffiziell halten. Er wird schon stinksauer sein, wenn er erfährt, dass ich dich mit reingezogen habe.«

Shauns Blick ist mit einem Mal so mitfühlend, dass mir beinahe übel wird. Er legt seine Hand auf meine Schulter und drückt sie sanft. »Bobby, bitte vertrau uns.«

Ich lasse unwillkürlich den Kopf hängen und seufze. »Bonasera wird mich noch mehr hassen.«

Es folgt ein schroffes Lachen, bevor Shaun mir kumpelhaft auf die Schulter klopft. »Das werden wir nicht zulassen. Und jetzt komm. Ledecky wird dir einen Orden verleihen, wenn er erfährt, dass wir endlich einen Fall haben und er uns nicht mit dämlichen Überwachungsmaßnahmen beschäftigen muss.« Er öffnet Ledeckys Tür, ohne vorher anzuklopfen, und tritt unaufgefordert ein.

»Haben Sie Ihre Manieren im Auto vergessen, Serkis?«, motzt Ledecky sofort los, als Shaun vor dessen Schreibtisch stoppt.

Wie auf Autopilot folge ich eben jenem Mann, als zöge mich ein unsichtbares Band in Ledeckys Büro, in die Höhle des Löwen. Egal was passiert, Partner stehen füreinander ein. Das ist keine Plattitüde, es ist eine innere Überzeugung und ein tief verankertes Wissen, das Sicherheit vermittelt. So sollte es jedenfalls sein. Ich habe mich daran gehalten, seit ich mit Shaun zusammenarbeite, aber wirklich gefühlt habe ich es nicht mehr, seit mir meine Kollegen in San Francisco den Rücken kehrten – metaphorisch gesehen. Mit jedem Schritt weiter in das Büro vom Chief wird diese Gewissheit stärker, gibt mir Kraft und ist … es fühlt sich richtig an. Bin ich endlich angekommen? Es scheint so.

»Flinn, stehen Sie nicht rum und halten Maulaffen feil. Schließen Sie die Tür, es zieht«, brummelt Ledecky, ohne den Blick von den Unterlagen auf seinem Tisch zu heben.

Ich folge seiner Aufforderung, geselle mich wieder an Shauns Seite und warte mit ihm darauf, dass Ledecky uns seine Aufmerksamkeit schenkt. Aufregung und Neugier blubbern wie Champagnerbläschen in mir hoch. Ob uns Ledecky nach Shauns Ansprache ins Archiv steckt, einfach weil er tierisch genervt von meinem Partner ist? Wundern würde es mich nicht. Shaun hat so eine Art an sich, die den geduldigsten Menschen in den Wahnsinn treiben kann.

Ledecky legt gemächlich seinen Kugelschreiber aus der Hand, schließt die Akte, an der er gearbeitet hat, und lehnt sich in seinem Stuhl zurück, um uns mit einem fragenden Blick zu mustern.

»Sir, wir haben einen Fall«, platzt Shaun ohne Vorwarnung heraus.

Ich zucke innerlich zusammen und ziehe den Kopf ein.

»Was Sie nicht sagen, Serkis.« Ledecky beäugt uns beide abwartend, während wir seinen Blick schweigend erwidern. Er seufzt. »Gibt’s noch mehr Informationen, oder war das alles?«

»Es geht um …«

Ich berühre Shauns Arm, woraufhin er mich erstaunt ansieht. »Lass mich, bitte.«

Er nickt und stellt sich bequem hin, die Füße schulterweit, die Arme vor der Brust verschränkt, die Gesichtszüge ausdruckslos. Der typische Marine.

Ich wende mich Ledecky zu, dessen Miene überrascht wirkt, als er sagt: »Das ist ja ganz was Neues. Jetzt bin ich aber neugierig.«

»Sir, es geht um Doktor Bonasera.«

Ledecky richtet sich mit einem erfreuten Lächeln auf. »Dann haben Sie also mit ihm gesprochen? Wird auch Zeit. Was hat er gesagt?«

»Ähm, ja, ich habe mit ihm geredet. Das Thema war jedoch nicht Ihr Angebot.«

Leicht enttäuscht sinkt Ledecky wieder in sich zusammen. »Wann gedenken Sie das endlich zu erledigen?«

»Sir, geben Sie Bobby einen Moment«, springt mir Shaun zur Seite. »Sie werden sehen, dass wir möglicherweise zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen können.«

Ledecky wedelt ungeduldig mit der Hand in meine Richtung. »Na los, raus damit. Meine Frau wartet mit dem Abendessen. Und ich will es mir nicht schon wieder mit ihr verscherzen.«

»Doktor Bonasera braucht unsere Hilfe.«

Das scheint Ledecky hellhörig werden zu lassen.

Ich berichte ihm alles in groben Zügen und füge am Ende hinzu: »Ich hatte ihm eigentlich zugesichert, dass wir die Sache inoffiziell handhaben. Sir, ich möchte nicht, dass …«

»Lassen Sie mich kurz nachdenken«, schnappt Ledecky, der sich aus seinem Stuhl erhebt und zum Fenster schlendert. Der Mann ist kleiner als ich, schätzungsweise einen Meter siebzig, und in den Vierzigern. Mit ihm würde ich mich ungern anlegen wollen. Er ist schnell und drahtig, wirkt hoch konzentriert und jederzeit kampfbereit. Ich kenne seine Vorgeschichte nicht, aber er scheint wie jemand, der eine spezielle Kampfausbildung etwa wie Krav Maga oder Jiu-Jitsu genossen hat. Beides würde zu ihm passen. Er bleibt am Fenster stehen, verschränkt die Arme hinter dem Rücken und starrt hinaus in die Dunkelheit. In der Scheibe spiegeln sich die harten Züge seines Gesichts. Sogar die tiefen Denkerfalten auf seiner Stirn sind deutlich zu erkennen. Mein Blick gleitet in seinen Nacken und ich muss mir ein Lächeln verkneifen. Sein sonst konsequent kurz geschnittenes Haar könnte mal wieder eine scharfe Begegnung mit einer Schere vertragen, da sich seine Nackenhaare zu kleinen Löckchen kringeln, was im krassen Widerspruch zu seiner eigentlich militärischen Ausstrahlung passt. Aber was weiß ich schon. Vielleicht mag Mrs Ledecky dieses kleine Zeichen der Weichheit.

Es vergehen weitere Minuten, in denen er sich nicht rührt. So nachdenklich erlebt man Ledecky selten. In den meisten Fällen weiß er sofort, was zu tun ist. Ich werfe Shaun einen fragenden Blick zu.

Tonlos meint er: Gib ihm eine Sekunde.

Plötzlich wirbelt Ledecky zu uns herum. »Was auch immer nötig ist, um diesem Mann zu helfen, ihr zwei habt meinen Segen. Und solange es nicht unbedingt erforderlich ist, will ich nichts von alldem wissen. Bringt mir Resultate und bringt mir im Anschluss diesen Mann in mein Team. Wenn ihr das hinbekommt, wird euch mein Dank ewig hinterherschleichen.«

Serkis nickt. »Glaubhafte Abstreitbarkeit. Verstanden, Sir.«

»Sir, die Überwachung der Lagerhalle …«

»Klappe, Bobby«, bremst mich Ledecky aus. Seinem rüden Tonfall nimmt er mit einem Zwinkern die Schärfe. Der Chief hat mich bisher noch nie wie Shaun oder Louis mit meinem Vornamen angesprochen, geschweige denn meinem Spitznamen. Fühlt sich seltsam an. Ledecky schnaubt und winkt ab. »Ihr zwei habt in den letzten Monaten so viele Überstunden und Urlaubstage angehäuft. Das Personalbüro geht mir deswegen gewaltig auf die Nüsse.«

Shaun seufzt theatralisch. »Und dann schicken Sie uns zu dieser schwachsinnigen Observierung?«

»Serkis, waren Sie es nicht, der mich angefleht hat, Freizeit ansammeln zu dürfen, damit Sie diese unsägliche Expedition in die Antarktis antreten können?«

»Stimmt«, brummt Shaun, dem ich einen überraschten Blick zuwerfe. Er zuckt mit den Schultern. »Ich liebe Pinguine.«

»Du musst das wirklich nicht für mich tun.« Der Mann hat seine Reise verdammt noch mal verdient und ich will nicht derjenige sein, der sie ihm vermasselt. Obwohl ich ihn mir nicht inmitten Hunderter Pinguinen vorstellen kann.

»Die AntAntarktis existiert seit zwei Komma sieben Millionen Jahren, sie wird mir schon nicht weglaufen. Auch wenn der antAntarktische Eisschild zwischen 1992 bis 2020 rund 2700 Milliarden Tonnen an Eis verloren hat. Was echt eine Schande ist und endlich aufhören muss. Wusstet ihr, dass …«

»Stopp!«, bremst ihn Ledecky aus.

Shaun klappt seinen Mund zu und presst die Lippen aufeinander. Es fällt ihm sichtlich schwer, den Befehl seines Vorgesetzten umzusetzen. Er reibt sich mit der Hand über den Mund und ich höre ihn nuscheln: »Der Nordpol wird voraussichtlich schon ab 2035 komplett eisfrei sein.« Er atmet erleichtert durch.

»Ernsthaft, ich kann das nicht verlangen«, insistiere ich erneut.

Shauns Blick lässt mich verstummen. Er zieht seine rechte Augenbraue hoch und starrt mich an. »Doch kannst du. Davon abgesehen, dass ich hinter deinem Rücken um mehr Stunden gebettelt habe, bin ich dein gottverdammter Partner!« Mit jedem Wort wird er lauter.

Ich werfe die Hände kapitulierend in die Höhe. »Ist ja gut. Hab’s verstanden.«

»Wird auch Zeit«, klinkt sich Ledecky mit einem breiten Grinsen ein. »Ihr befindet euch ab sofort im Urlaub.« Vergnügt die Hände reibend, murmelt er: »Das wird ein Spaß.« Er geht zu seinem Schreibtisch zurück, setzt sich und sieht uns einen nach dem anderen an. Als wir uns nicht rühren, poltert er: »Was steht ihr hier noch rum? Habt ihr nichts zu tun?«

Shaun packt mich bei den Schultern und schiebt mich aus dem Büro, während hinter uns ein Handy klingelt und der Chief ziemlich zerknirscht meint: »Liebling, ich sitze schon im Auto. Bin gleich bei dir.«

Nachdem Shaun die Tür geschlossen hat, manövriert er mich zu unseren Schreibtischen.

Gereizt wische ich seine Hände von meinen Schultern und beschwere mich halbherzig: »Hör auf, mich wie eine Puppe durch die Gegend zu schieben.«

Er schnaubt. »Du bist sicher vieles, aber keine Püppie. Das ist Fallon.«

Ich lache.

»Wehe du verrätst ihr, dass ich das gesagt habe«, lenkt Shaun mit angstvollem Blick ein.

»Hm, und ich dachte, sie hätte kein Problem damit, ihre weiblichen Attribute zu nutzen.«

»Natürlich hat sie das nicht. Ich meine, man braucht sie nur ansehen und denkt, heilige Scheiße, die Frau gehört auf einen Laufsteg. Du sollst ihr bloß nicht verraten, dass ich sie Püppie genannt habe.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich auch nicht wirklich. Aber ich habe einmal erlebt, wie Louis das rausgerutscht ist. Ich sag’s mal so, es wurde recht unschön.«

Neugier packt mich. »Erzähl schon, was hat sie mit ihm gemacht?«

Shaun wird ganz blass um die Nase, als er sich vorbeugt und flüstert: »Du weißt doch, sie ist wie ein IT-Ninja. Sie schlägt so leise zu, dass du gar nicht weißt, wie dir geschieht. Jedenfalls waren Louis’ Privatkontakte auf Handy und Rechner für zwei Tage blockiert. Er ist fast wahnsinnig geworden, weil er niemanden anrufen, geschweige denn ihn jemand erreichen konnte. Was für den ein oder anderen sicher ein Segen wäre. Aber nicht für Louis. Wie du weißt, hängt er in seiner Freizeit ständig am Telefon. Manchmal habe ich schon gedacht, er würde für eine Sexhotline arbeiten.«

Ich schnaube amüsiert. »Wirklich?«

»Nein, natürlich nicht. Er kennt nur so viele Leute, die ihn permanent wegen irgendwelcher Probleme belatschern und seinen Rat suchen. Er kann eben nicht aus seiner Haut. Auch wenn er das immer abstreitet, ist Louis der geborene Seelenklempner.«

Plötzlich fällt mir ein: »Du liebe Güte, er hätte nicht mal Notfälle entgegennehmen können, oder?«

»Na ja, das hat Fallon einkalkuliert, indem sie alle Nachrichten und Anrufe abgefangen hat. Sie kann ein Aas sein, aber sie würde nie zulassen, dass eine ihrer Späße-Schrägstrich-Bestrafungsaktionen jemanden ernsthaft in Schwierigkeiten bringen würden. Dazu müsste man ihr wirklich übel mitspielen.« Er winkt ab. »Wie auch immer, lass uns die Berichte für heute schreiben und dann essen gehen. Wir müssen uns überlegen, wie wir dich ins Sinai kriegen. Vielleicht sollten wir deinen Doc mit einbeziehen.«

»Er ist nicht mein Doc«, protestiere ich unwillkürlich, während ich auf meinen Stuhl sinke und den Rechner hochfahre.

»Wie du meinst. Ruf ihn an und sag ihm, wir treffen uns bei …« Shaun reibt sich das Kinn. »Worauf hast du Lust?«

Ich zucke die Schultern. »Mir egal. Allerdings möchte ich mich gern frühestens Freitagmorgen bei Bonasera melden. Er hat oft überlange Doppelschichten und braucht dringend Ruhe.« Als von Shaun nur Stille kommt, schaue ich zu ihm rüber und begegne einem Blick, den ich nicht deuten kann. »Was ist jetzt wieder?«

Ein feines Lächeln breitet sich auf Shauns Gesicht aus. »Du machst dir Sorgen, dass der liebe Doktor nicht genug Schlaf bekommt? Meine Güte, das ist ja sooo süß«, frotzelt er in einem Singsang, der einige unserer Kollegen auf uns aufmerksam werden lässt.

»Halt die Klappe!«, zische ich ihn leise an.

Natürlich erreiche ich damit nur, dass er lauthals gackert. Als ihm endlich auffällt, dass wir angestarrt werden, funkelt er alle mit seinem typischen Blick an, bis sie sich mit hochroten Gesichtern ihrer vorherigen Tätigkeit widmen. Er beugt sich über den Tisch und sagt leise: »In Ordnung, gönnen wir deinem Doc die wohlverdiente Auszeit. Wann muss er denn wieder los?«

»Freitag geht er in die Nachtschicht.«

»Du kennst seinen Schichtplan?«, fragt Shaun erstaunt.

Ich werfe ihm einen Blick rüber, der so viel sagen soll wie: Wenn du das jetzt ausschlachtest, skalpiere ich dich.

Daraufhin räuspert sich Shaun und meint im vollen Ernst: »Auch gut, dann haben wir morgen den ganzen Tag Zeit, einen machbaren Plan auszuarbeiten und notwendige Technik zu besorgen. Sobald du meinst, der Doc wäre ansprechbar, weihen wir ihn ein.«

»Technik? Du vergisst, dass wir offiziell nicht im Dienst sind.«

Shaun winkt ab. »Du hast den Chief gehört, wir haben seinen Segen. Auch wenn er nicht will, dass wir ihn mit hineinziehen, wird er uns notfalls den Rücken decken, egal was kommt. Und wir brauchen ihn nicht, um benötigte Ausrüstung zu beschaffen. Ich kenne genau den richtigen Mann für diesen Job. Davon abgesehen, dass er mir einen Gefallen schuldet, mag er mich.«

Ich lache. »Du nutzt die Zuneigung des armen Kerls zu dir aus? Wie fies.«

Shaun winkt ab und nuschelt leise vor sich hin. »Ist ja nicht so, als wäre es einseitig.«

Hellhörig geworden hake ich erstaunt nach: »Du hast was mit einem aus der Technik?«

»Was daran ist seltsam?«

»Keine Ahnung. Hab’s irgendwie nicht kommen sehen.«

Leicht verschnupft entgegnet Shaun: »Ob du’s glaubst oder nicht, ich habe ein Leben außerhalb meines Jobs.«

»Wer ist es? Du hast nie was erzählt.«

»Und woran liegt das wohl, Schlaumeier? Ist ja nicht so, dass ich dir etwas verheimlichen würde. Du hast jedoch bisher nicht wirklich Interesse an meinem Privatleben gezeigt. Oder bist du schockiert, dass es sich bei demjenigen um einen Mann handelt?«

»Das ist Quatsch und das weißt du auch. Selbst wenn ich nicht schwul wäre, würde es mich nichts angehen.« Ich fühle mich wie der letzte Arsch. Denn er hat recht. Ich habe nicht wirklich Interesse an seinem Leben gezeigt. Nicht, weil ich ihn nicht mögen würde. Das tue ich. Es liegt einzig und allein an mir. Wie hält er es überhaupt mit mir aus? Ich würde ihn gern darauf ansprechen. Doch seine verschlossene Miene sagt eindeutig, dass ich es gut sein lassen sollte. Dennoch, oder gerade weil ich es tatsächlich wissen möchte, wiederhole ich: »Also, wer ist es?«

»Elliot Anderson. Und nein, mehr gibt es im Moment nicht darüber zu wissen. Ist zu frisch, um es an die große Glocke zu hängen«, brummt Shaun, bevor er abrupt das Thema wechselt. »Gut, dann wäre das geklärt. Zurück zu Bonasera.«

Tja, das habe ich wohl nicht anders verdient. »In Ordnung, ich schicke ihm eine Nachricht und schlage ihm vor, dass wir uns Freitag zum Lunch treffen. Ist das okay für dich?«

Sein vorheriger Ärger ist inzwischen aus seinem Gesicht gewichen und Shaun zwinkert mir geheimnisvoll zu. »Passt. Schick ihm ein Küsschen-Smiley von mir mit.«

Ich muss mir ein Grinsen über seinen blöden Kommentar verkneifen, deute auf den Bildschirm vor mir und brumme stattdessen: »Jetzt lass mich diesen Scheiß hier hinter mich bringen.«

»Jawohl, Sir! Wenn du Hilfe brauchst, weißt du, wo du mich findest.«

Das klingt verlockend, aber ich werde den Teufel tun, ihn darum zu bitten, meinen Bericht zu schreiben.