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- SALVATORE -

Freitag

N ach einer Doppelschicht leide ich immer an einer Art Jetlag. Schlimmer wird es, wenn ich kurz darauf in die Nachtschicht gehe. Selbst ein freier Tag dazwischen macht es nicht besser. Keine Ahnung, ob ich mich je daran gewöhnen werde. Aber wie würde Nonna sagen? Augen auf bei der Berufswahl. Gott, ich freue mich schon so sehr, sie zu sehen. Ich hoffe, dass ich es hinkriege, ein oder zwei Stunden für sie freizuschaufeln.

Wie dem auch sei, um in meiner bevorstehenden Schicht nicht wie ein Pandabär mit dunklen Augenringen so groß wie Untertassen herumzutaumeln, der wirkt, als hätte er eine Überdosis The Walking Dead abbekommen, wollte ich eigentlich gegen Mittag aufstehen. Doch das klappt heute nicht, denn Flinn trifft sich mit mir zum Lunch.

Ich bin also hellwach und ziemlich durch den Wind, und das schon früh am Morgen, obwohl ich erst spät ins Bett fiel und stundenlang kein Auge zubekommen habe. Wenn ich ehrlich bin, hat mich nicht nur mein Problemchen wach gehalten. Die unterschwellige Angst, mit den bevorstehenden Nachforschungen meine Karriere zu ruinieren, begleitet mich seit dem Moment, als ich meinen Namen auf dieser Tablettendose gesehen habe. Sie liefert sich jedoch einen Schlagabtausch mit der Vorstellung, Flinn wiederzusehen. Die lässt mich übrigens auch jetzt seltsam flattrig werden.

Wir verabredeten uns für elf Uhr bei Renata’s . Bis dahin sind es noch vier Stunden. Um die irgendwie rumzubringen, kümmere ich mich um die Wäsche und putze Küche, Bad und meine verdammten Fenster im Obergeschoss – so gründlich wie seit Jahren nicht mehr. Das dauert aber leider nur zwei Stunden. Ich hätte mir im Anschluss die Fenster im Erdgeschoss vornehmen können, aber derart masochistisch bin ich nun auch wieder nicht veranlagt. Also schlüpfe ich in meine Joggingklamotten und drehe eine Runde durch den Griffith Park, der in der Nähe meines kleinen, aber feinen Hauses in Glendale liegt.

Ich hatte es vor ein paar Jahren durch Zufall gefunden und sofort zugeschlagen. Die alte Lady, der es gehörte, hatte seit dem Tod ihres Mannes siebzehn Jahre zuvor keine Instandhaltungen mehr vornehmen lassen. Es befand sich in einem beklagenswerten Zustand. Dafür war es ein Schnäppchen. Ich verbrachte ein halbes Jahr lang jede freie Minute damit, es auf Vordermann zu bringen. Dad war mir eine große Hilfe. Klar, ich hätte Firmen beauftragen können, aber ich genoss die Zeit mit meinem Vater.

Fünf Kilometer, dreißig Sit-ups, etliche Rumpfbeugen und diverse andere Übungen später gönne ich mir eine ausgiebige Dusche. Danach schrubbe ich gleich noch mal das Bad, bevor ich mich mit einem Pott Kaffee und Müsli knuspernd auf die Couch setze und die News einschalte.

Seit gestern Abend nichts Neues. Als der Anführer der freien Welt auf der Mattscheibe auftaucht und mit erhitzten Wangen, Schmollmund und zugekniffenen Augen eine Rede schwingt, die wie immer falsche Tatsachen beinhaltet, will ich sofort umschalten. Doch ich starre automatisch auf sein Haar, das droht von einer steifen Brise davongeweht zu werden. Ich muss ständig an einen blondierten Iltis denken, der sich krampfhaft am Schädel festkrallt und dem Mann schlicht und ergreifend die Show stiehlt. Ich reiße mich von seinem Anblick los. Die Ergüsse dieses Kerls kann ich am frühen Morgen wirklich noch nicht ertragen. Er führt alles ad absurdum, was das amerikanische Volk je erreicht hat. Es ist mir unbegreiflich, wie es passieren konnte, dass eine stolze Nation wie die unsere einen Mann wählt, der ernsthaft glaubt, Paris läge in Deutschland. Ihm sollte mal jemand einen Atlas schenken.

Bevor mir aufgrund seiner offensichtlichen Dummheit die Galle hochkommt, zappe ich durch die Programme, um mir etwas Magenschonenderes zu suchen, und bleibe bei einer Wissenschaftssendung mit Morgan Freeman hängen, der mir die Mysterien des Weltalls näherbringt. Viel besser.

Dennoch kann ich mich nicht konzentrieren. Mein Blick wandert permanent zu meinem Handy, das in Griffweite neben mir auf dem Sofa liegt. Jedes Mal, wenn ich nach der Uhrzeit schaue, sind gerade mal zwei oder drei Minuten vergangen.

So quäle ich mich durch den Vormittag, bis es endlich so weit ist, mich auf den Weg zu machen.

Über die I-710 brauche keine halbe Stunde zum Renata’s und stelle meinen Wagen fünf Minuten vor der vereinbarten Zeit auf dem dazugehörenden Parkplatz ab. Ich schnappe mir Handy und Geldbörse, um beides in meiner Jacke zu verstauen. Nachdem ich ausgestiegen bin und die Türen verriegelt habe, bleibe ich einen Moment stehen, atme tief durch und straffe meinen Rücken, bevor ich entschlossenen Schrittes auf die Eingangstür zusteuere und schließlich eintrete.

Natürlich ist der Laden gerammelt voll. Immerhin ist Mittagszeit und nicht wie beim letzten Mal ein Uhr nachts.

Laurel eilt mit einem voll beladenen Tablett auf mich zu, stoppt kurz vor mir und lächelt mich freudig an. »Einen wunderschönen guten Tag, mein Lieber. Schön, dich so schnell wiederzusehen.« Sie nickt über ihre Schulter zur linken Wand und beugt sich dann zu mir, um leise hinzuzufügen: »Dein nächtliches Date wartet schon auf dich.«

»Danke«, erwidere ich, ohne sie darüber aufzuklären, dass Flinn und ich kein Date hatten. Ich folge Laurels Blick und erstarre, während Laurel sich an mir vorbeimanövriert und die Gäste neben uns bedient.

Mit Flinn sitzt noch ein Mann am Tisch. Zwar mit dem Rücken zu mir, aber ich erkenne ihn. Es ist Agent Serkis. Entsetzen, gepaart mit Enttäuschung, kocht in mir hoch, als ich auf sie zugehe. Der Geräuschpegel ist enorm. Es wird laut erzählt und gelacht. Dennoch nehme ich es kaum wahr. Auf halber Strecke bemerkt mich Flinn und springt erschrocken auf.

Zwei Meter vorher fängt Flinn mich ab, will etwas sagen.

Doch ich bin schneller. »Sie haben mir versichert, ich könne Ihnen vertrauen. Sie haben mich nicht einmal vorgewarnt, dass Sie Ihren Partner mitbringen.« Ich versuche, leise zu sprechen. Wir erregen auch so schon genug Aufmerksamkeit.

Flinn wirkt geknickt und meint: »Ich dachte, Sie würden nicht kommen, wenn ich das täte. Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht …« Er schluckt hart und legt mir sanft eine Hand auf den Arm und drückt leicht zu. »Bitte, nur eine Minute. Wir erklären Ihnen alles. Anschließend liegt es bei Ihnen, ob Sie uns Ihr Vertrauen schenken oder gehen wollen.«

Ich schaue an Flinn vorbei zu Serkis, der sich umgedreht hat und in einem Lächeln versucht, das mich eher abschreckt als beruhigt. In einer anderen Situation hätte ich gelacht. Aber im Moment ist mir wirklich nicht danach zumute.

»Also gut«, gebe ich klein bei und folge Flinn zum Tisch.

Serkis steht auf und begrüßt mich mit Handschlag. »Doc, reißen Sie Bobby nicht den Kopf ab. Er hatte keine Chance.«

Ich rutsche Serkis gegenüber in die Sitzecke. Flinn folgt mir und sitzt mir so nah, dass mir sein Duft in die Nase steigt. Fuck! Denk an was anderes. »Keine Chance?«, frage ich Serkis und schaue zu Flinn, der die Augen verdreht.

»Wissen Sie«, setzt Serkis mit einem ulkig väterlichen Blick auf seinen Partner an, »man sagt mir nach, sobald ich auch nur den Verdacht hege, es würde mir jemand etwas verheimlichen, wäre ich wie ein Hai, der Blut gerochen hat. Bobby hat sich wirklich standhaft gewehrt, er war felsenfest entschlossen, Ihr Geheimnis zu wahren. Aber, na ja …«

»Hör auf!«, mahnt Flinn, bevor er sich mir zuwendet. »So war das nicht.«

»Was kann ich den Gentlemen bringen? Bobby, Rühreier wie immer?«

Flinn nickt. »Du weißt, wie du mich glücklich machen kannst.«

Sie notiert sich seine Bestellung. »Gut, einmal Rührei ohne Zwiebeln.« Sie sieht mich fragend an. »Und einmal mit?«

Mir rumort es im Magen, weil ich viel zu nervös bin, um Hunger zu haben. Daher fehlt mir die Lust, darüber nachzudenken, was ich jetzt essen könnte. »Klingt perfekt«, entgegne ich lächelnd.

Daraufhin richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf Serkis, der erst mich, dann Flinn mustert und anschließend meint: »Dann schließe ich mich meinen Freunden an. Eier gehen immer. Oh, ich möchte Speck, Zwiebeln und gegrillte Tomaten dazu. Geht das?«

Laurel lacht. »Schätzchen, hier geht alles.« Bevor sie abrauscht, fügt sie an mich gerichtet hinzu: »Getränke? Was anderes als Kaffee?«

Ich seufze. »Um Gottes willen, Kaffee bitte.«

Erneut lacht Laurel. »Oje, das klingt nach einem Eimer. Kommt sofort.« Sie deutet auf meine Tischnachbarn. »Ihr seid noch versorgt?«

Beide nicken einhellig und Laurel huscht davon.

»Es war nicht ganz so, wie mein Partner das darstellt«, nimmt Flinn den Faden wieder auf. »Ich denke, wir sind besser dran, wenn wir ihn mit an Bord holen. Das werden Sie sehen, wenn wir Ihnen erklären, was wir uns überlegt haben.«

Ich beuge mich vor und sage leise: »Nichts gegen Sie, Agent Serkis, aber es gibt einen Grund, weshalb ich es inoffiziell halten wollte.«

»Was es ja ist und auch so lange bleibt, bis sich etwas ergibt, das uns zwingt, die Angelegenheit zu einer offiziellen Sache zu machen«, erklärt Serkis gelassen, bevor er einen Schluck Kaffee nimmt und Flinn zunickt, als würde er ihm das Wort erteilen.

»Das mag jetzt vielleicht verrückt klingen, aber Shaun hat eine Idee, wie ich mich im Krankenhaus umsehen kann, ohne aufzufallen, während Sie weiterhin Ihrer Arbeit nachgehen.«

Laurel stellt mir einen riesigen Pott Kaffee vor die Nase und schwirrt sofort wieder ab. Ich schüttle amüsiert den Kopf, bevor ich mir einen seligmachenden Schluck des Wachmachers einflöße.

»Wenn ich so viel Kaffee trinken würde, könnte ich die nächsten Tage durcharbeiten«, erklärt Serkis schnaubend.

Ich zucke die Schultern. »In meinem Job geht’s hin und wieder nicht ohne eine ordentliche Dosis Koffein.« Mein Blick wandert automatisch zu ihm. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es bei Ihnen beiden anders sein soll.«

»Ist es nicht«, bestätigt Flinn und zieht meine Aufmerksamkeit auf sich.

»Also, wie lautet der Plan?«, frage ich mutig. Irgendwie habe ich den Verdacht, er wird mir nicht gefallen, so wie sie sich verstohlen ansehen. »Na los, raus damit. Ich werde schon nicht schreiend wegrennen.«

»Das wird sich gleich zeigen«, hüstelt Serkis hinter vorgehaltener Hand, bevor er Offensichtliches ausspricht. »Ihre Flucht würde schwierig werden, da Bobby sie verhindert.«

Ich schnaube amüsiert und blicke fragend zu Flinn.

»Shaun ist der Meinung, dass ich als Patient auf Ihrer Station unbemerkt ermitteln könnte.«

Ich zucke die Schultern. »Okay.« Mal schauen, wohin die Sache führt. Im Moment bin ich noch skeptisch.

»Na ja, nicht nur als einfacher Patient«, fügt Serkis schmunzelnd an.

»Wie dann?«

»Als Ihr …« Flinn stoppt und wirft Serkis einen Hilfe suchenden Blick zu.

Der grunzt und meint: »Mach nicht mehr draus, als es ist, Bobby.« Dann wendet er sich mir zu. »Es würde nicht seltsam erscheinen, wenn Sie regelmäßig nach Bobby sehen und mehr Zeit mit ihm verbringen als mit den anderen Patienten, wenn ihr zwei ein Paar wärt.«

Ich verschlucke mich vor Schreck am Kaffee, der mir um ein Haar aus der Nase wieder herauskommt. Mit rauer Stimme sage ich: »Sehr witzig.«

»Sorry, aber das war kein Witz. Es liegt doch auf der Hand. Niemand würde Verdacht schöpfen«, erklärt Serkis und lehnt sich lässig zurück.

»Es ist natürlich bloß ein Vorschlag. Denken Sie drüber nach. Das Angebot steht jedenfalls von unserer Seite.«

Die zwei meinen das todernst. Und was noch viel verrückter ist, ich denke nicht nur darüber nach. Ob ich will oder nicht, die Idee, Flinn als meinen Freund oder besser gesagt Lebenspartner auszugeben, spricht eine Sehnsucht in mir an, die ich seit Jahren versuche zu unterdrücken. In meinem Job ist es so gut wie unmöglich, eine langfristige Beziehung einzugehen, ohne den Partner bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu enttäuschen. Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich spontan Schichten übernehmen musste oder mitten in der Nacht zu einem Notfall gerufen wurde. In letzter Zeit häufig von Flinns Team, wie mir unvermittelt klar wird. Aber das ist sicher Zufall. Unsere Einsätze haben sich womöglich nur zeitlich überschnitten.

Apropos Job. »Wie soll das gehen?«, frage ich beide.

Bevor Flinn antworten kann, sagt Serkis: »Doc, Sie werden doch wohl wissen, wie man eine Beziehung führt.«

Ich lache. »Auch wenn ich mich dahin gehend etwas schwertue und es einige Zeit zurückliegt, habe ich das sicher nicht vergessen. Hab gehört, das soll wie Fahrradfahren sein. Das ist aber nicht, was ich meinte. Wie können Sie mir helfen, wenn Sie im Einsatz sind? Oder wollen Sie mir erzählen, dass Sie keinen Fall haben, den Sie aktuell bearbeiten?«

»Um ehrlich zu sein, verhält es sich genau so. Weswegen uns der Chief beurlaubt hat, nachdem wir ihm von …« Flinn unterbricht sich, als ich schockiert zische.

»Mist!«, raunt Serkis. »Gut gemacht, Bobby.«

Empört knalle ich die riesige Tasse auf den Tisch, an der ich mich bis eben festgehalten habe. Kaffee schwappt über den Rand und ergießt sich über die zerschlissene Vinylbeschichtung.

Flinn und Serkis beseitigen hektisch den Kaffeesee mit Servietten aus dem Besteckkorb in der Mitte.

»Agent Ledecky weiß Bescheid? Wie konnten Sie nur …«

»Ganz ruhig, Doc«, brummt Serkis. »Was Besseres konnte uns nicht passieren. Wir stehen Ihnen beide zur Verfügung und können auf Ressourcen zurückgreifen, die uns womöglich bei den Ermittlungen unterstützen.«

Inzwischen ist Laurel zurück. Derweil sie unser Essen serviert, lasse ich mir die Sache gründlich durch den Kopf gehen. Serkis hat recht. Warum beschwere ich mich eigentlich? Ledecky weiß Bescheid, na und? Er wird mich nicht am höchsten Baum aufhängen. Wieso auch immer, bei ihm bin ich mir sicher, dass er mir sogar helfen will und die Angelegenheit für sich behält. Jedes Mal, wenn sich unsere Wege kreuzen, behandelt er mich, als gehöre ich zu seinem Team. Was sich verrückt anhört, aber irgendwie toll ist.

Und wieso hast du Flinn statt ihn angerufen? Darüber will ich jetzt nicht nachdenken.

Obwohl mich wegen der Pseudokrankheit, die wir Flinn andichten müssten, ein ungutes Gefühl plagt, frage ich wild entschlossen: »Also gut, wie soll das ablaufen?«

Was mir Flinns erstaunten Blick einbringt. »Wow! Sie wollen das ernsthaft durchziehen?«

Ich zucke die Schultern. »Ihr Jungs wisst, was ihr tut. Das hoffe ich zumindest. Ich kann mir eigentlich niemand Besseren vorstellen, der mir in meiner misslichen Lage helfen könnte. Und Ledecky hat wirklich kein Problem damit?«

Serkis grinst mich wieder mit diesem beängstigenden Gesichtsausdruck an, als er in einen Tonfall verfällt, der unheimlich Ledeckys ähnelt. »Was auch immer nötig ist, um diesem Mann zu helfen, ihr zwei habt meinen Segen.«

Flinn lacht. »Ja, das war eindrucksvoll. Ich sehe ihn direkt vor mir.«

»Wow! Das ist … Keine Ahnung, was ich sagen soll«, stammle ich fassungslos.

»Na gut, Mädels, lassen wir unser Essen nicht kalt werden«, fordert Serkis, bevor er eine riesige Portion Ei samt Zwiebeln, Speck und Tomate in sich hineinschaufelt und vor Wonne summend die Augen verdreht. Mit vollem Mund murmelt er: »Wusstet ihr eigentlich, dass Eigelb und Eiweiß eine wichtige Funktion haben?«

Flinn jammert: »Oh, bitte nicht, Shaun.«

Serkis wedelt mit der Gabel vor Flinns Gesicht. »Das muss man doch wissen. Der Eidotter ist die Nahrung für die ungeschlüpften Küken und wird durch eine keimtötende Schicht geschützt. Die kleine Luftkammer im Ei …«

»Ich will nichts über Küken hören, wenn ich Eier esse. Schlucks runter!«, fordert Flinn mit mörderischem Blick in Serkis Richtung, der daraufhin leise vor sich hinmurmelt.

Ich verstehe nur irgendwelche Prozentzahlen, bevor er sich wieder zu einem lustvollen Schnurren hinreißen lässt.

Flinn beäugt seinen Partner mit einem skeptischen Blick. Als er bemerkt, dass mich Serkis’ lautstarker Genussanfall amüsiert, zwinkert er mir verschwörerisch zu und flüstert bühnenreif: »Man könnte fast annehmen, die Eier schmecken ihm.«

Serkis gestikuliert erneut mit der Gabel gefährlich nahe vor Flinns Gesicht. »Statt mich beim Essen zu beobachten, solltest du deine letzte Mahlzeit außerhalb der Klinik genießen. Wir wissen doch alle, was dich armer Tropf dort erwartet. Und wenn du mich ärgerst, überlege ich mir zweimal, ob ich dir bei einem meiner Krankenbesuche etwas Genießbares reinschmuggle.«

Flinns Miene wechselt von vergnügt zu schockiert. In der nächsten Sekunde macht er sich über seine Eier her, als gäbe es kein Morgen.

Ich muss an mich halten, um nicht laut loszulachen, und überwinde mich dann doch, einen Bissen zu mir zu nehmen. Ich habe sehr früh gelernt, dass man als Arzt essen sollte, sobald sich einem die Gelegenheit dafür bietet. Es gibt einfach keine Gewissheit, wann man wieder dazu kommt. Vor allem, wenn man wie ich in der Notaufnahme eingeteilt ist.

In einhelligem Schweigen leeren wir unsere Teller.

»Woran genau leiden Sie eigentlich?«, wende ich mich an Flinn, der mich darauf irritiert ansieht. »Na, ich meine, Sie werden doch darüber nachgedacht haben, was Ihnen fehlt, um eingewiesen zu werden. Es sollte etwas sein, um zu rechtfertigen, dass Sie auf meiner Station landen.«

Serkis schnaubt. »Solange es nichts mit Knochen oder Hirnschmalz zu tun hat, sollte das doch gehen, oder?«

»Na ja, wie Sie wissen, bin ich Facharzt für Allgemeinmedizin. Im Grunde arbeite ich mit meinen Kollegen Hand in Hand und erbitte ein Konsil, falls erforderlich.«

»Da fällt mir spontan was zu ein«, verkündet Serkis, der Flinn ansieht, als führe er etwas im Schilde.

Flinn funkelt seinen Partner an. »Ach ja?«

»Sagen Sie, Doc, wie heißt die Krankheit, wenn man sich einigelt und nie aus dem Haus kommt, außer man geht arbeiten?«

Ich mustere die beiden Männer und durchschaue Serkis. Er zieht seinen Partner mit etwas auf, das er scheinbar nicht das erste Mal kritisiert. Schmunzelnd erkläre ich: »Das müssten Sie einen Seelenklempner fragen. Aber ich habe mal gehört, dass sie Ich-hab-kein-Bock-auf-Leute heißt.« Ich zucke die Schultern und verkneife mir gleichzeitig ein Grinsen, als ich mit meiner Arztstimme verkünde: »Agent Flinn, damit ist wirklich nicht zu spaßen.«

Am Tisch herrscht für eine Sekunde Grabesstille, dann brechen beide in haltloses Gelächter aus. Und genau das gibt mir ein so fantastisches Gefühl von Zugehörigkeit, dass ich nicht anders kann, als mit einzufallen. So etwas erfahre ich nicht allzu oft. Eigentlich nie. Na gut, mit meiner Familie.

Als wir uns wieder beruhigt haben, meint Flinn: »Also wenn wir besagten Plan umsetzen wollen, sollten wir dringend was nachholen.« Serkis und ich blinzeln Flinn fragend an. »Also ich habe noch von keinem Paar gehört, dass sich nicht mit Vor- oder irgendeinem Kosenamen anspricht.«

Serkis schlägt spontan die flache Hand auf den Tisch, was Flinn und mich zusammenzucken lässt. »Guter Einwand, Bobby. Und wo wir gerade so schön dabei sind« – er hebt seine Kaffeetasse und prostet mir zu – »Nenn mich Shaun.«

Ich erwidere seine Geste. »Salvatore. Für Familie und Freunde Sal oder Sally. Wobei mir Sal lieber ist. Klingt nicht so sehr nach Mädchen mit Zöpfen.«

Flinn prustet und hebt ebenfalls seine Tasse hoch, sodass wir drei uns über der Mitte des Tisches treffen. »Robert oder Bobby.«

Wir stoßen an, als Shaun gespielt beleidigt brummelt: »Mich nennt alle Welt einfach nur Shaun.«

»Oh, armes Häschen«, säuselt Robert mit einem Augenaufschlag, der absolut lächerlich ist. »Lass mich kurz nachdenken.«

»Brauchst du nicht«, mault Shaun.

Plötzlich fällt mir etwas ein. »Die Tochter meiner Cousine … Meine Großcousine? Egal. Francesca ist fünf und liebt Knetfiguren. Die schaut mit Hingabe diese Kindersendung mit dem Schaf. Kennt ihr die?«

»Ich glaube, da lief mal was auf Disney«, meint Robert.

Shaun zieht eine Augenbraue hoch und starrt mich an, als wolle er jede Sekunde seine Waffe ziehen, um mir das Hirn wegzublasen. »Du redest von Shaun the Sheep ? Willst du sagen, ich sehe aus wie ein Schaf?«

»Oh, du kennst es«, stelle ich erfreut und zugleich wachsam fest. »Und nein, ich wollte nicht behaupten, du würdest wie ein Schaf aussehen. Obwohl …«

»Doc!«, brummt Shaun.

»Er hat recht, das wäre der perfekte Spitzname für dich.« Robert ist ganz begeistert.

»Wovon zum Henker redet ihr zwei Deppen da?«

Als hätten wir es einstudiert, platzen Robert und ich heraus: »Sheepi.«

»Schht«, macht Shaun und blickt sich hektisch um. »Wenn das jemand hört.«

»Was denn? Angst, dass dein Image des knallharten Agents flöten geht?« Robert wirkt vergnügt.

Shaun beugt sich über den Tisch, sieht uns beide eindringlich an und knurrt: »Nennt mich Sheepi und ihr zwei seid erledigt.«

Eigentlich sollten wir in Deckung gehen, doch stattdessen treffen sich Roberts und mein Blick und wir prusten ausgelassen.

Was Shaun dazu bringt, genervt zu stöhnen und mit den Augen zu rollen. »Worauf hab ich mich da nur eingelassen, verdammt.«

»Oh, stimmt, wir wollten noch klären, was mir fehlt«, greift Robert unser Gespräch auf, bevor es aus dem Ruder gelaufen ist.

»Ich muss dafür sorgen, dass mich kein Kollege ersetzt.« Eine Gefahr, die nicht zu unterschätzen ist und die mir Bauchschmerzen verursacht. Aber im Moment habe ich keine bessere Idee. »Schließlich bin ich als dein« – ich male Gänsefüßchen in die Luft – »Lebenspartner zu nah dran, was als Befangenheit ausgelegt werden könnte. Emotional involviert zu sein ist nie gut. Man neigt dazu, Fehler zu machen. Das Haus sieht es ungern, wenn die Ärzte ihre Familienangehörigen behandeln. Im Normalfall sehe ich es wie sie. Aber …« Mir fällt etwas ein. »Mein Dad hatte vor einiger Zeit Herzprobleme. Es wäre eine logische Erklärung, warum ich dich bei mir auf Station haben will. Ihr wisst schon, aus Angst um meinen Partner und so. Wobei mich die Sache mit Dad tatsächlich mitgenommen hat. Was auch meinen Kollegen nicht entgangen ist.« Sie waren alle überraschend lieb zu mir. Nicht, dass ich bisher nicht gut mit ihnen ausgekommen bin, doch die Beziehungen zu ihnen war immer rein beruflicher Natur. Das Gleiche gilt für alle anderen, die im Sinai arbeiten. Man könnte es als höflich distanziert bezeichnen.

»Denkst du, sie nehmen dir das ab?«, fragt Shaun. »Übrigens tut es mir für deinen Dad leid. Ich hoffe, er ist wieder auf dem Damm.«

»Ist er. Danke der Nachfrage. Wie gesagt, die Sache mit Dad hat mich wirklich schwer getroffen, da ich es einfach nicht gesehen habe. Und alle im Sinai haben unglaublich toll reagiert. Sie boten uns jede Unterstützung an und waren damit einverstanden, dass er auf meiner Station bleibt.«

»Das muss schlimm gewesen sein«, sinniert Robert.

»Er hatte Glück. Dennoch hängt mir das noch nach. Also ja, unsere angebliche Beziehung wäre eine durchaus plausible Erklärung, ihn in meine Obhut zu nehmen.«

Robert nickt beifällig. »Gut. Und wie läuft das jetzt ab?«

»Am besten setzt ihr zwei euch zusammen und lernt euch kennen«, schlägt Shaun vor, ehe er mich fragt: »Du musst heute in die Nachtschicht, richtig?«

»Ja.« Dass er das weiß, erstaunt mich. Ach ja, ich hatte es Robert erzählt.

»Perfekt, so habt ihr genug Zeit.«

»Wofür?«, will ich wissen.

»Na ja, ihr spielt ein Liebespaar. Das sollte man euch bitte auch abnehmen. Im Moment wirkt ihr viel zu reserviert. Wer euch beobachtet, würde nie annehmen, dass ihr zwei euch voller Ekstase gegenseitig die Klamotten vom Leib reißen wollt. Was haltet ihr also davon, wenn ich mich um die Technik kümmere, derweil ihr euch kennenlernt?« Er zwinkert mir zu und fügt leise hinzu: »Im biblischen Sinn ist optional.«

Er will mich natürlich foppen. Dumm nur, dass mein Körper dieser Idee gegenüber nicht abgeneigt zu sein scheint. Verdammt aber auch.

»Folgendes Fake-Szenario: Bobby, du kommst heute Abend zu mir«, erklärt Shaun, als hätte er nicht eben die Büchse der Pandora in meinem Kopf geöffnet. »Offiziell habe ich dich zu einem Fernsehabend eingeladen, damit du nicht allein bist, während dein Schatz schuften muss. Irgendwann bringe ich dich dann mit … Welche Symptome wären denn sinnvoll?«, richtet er an mich.

»Übelkeit, Schmerzen im Oberbauch. So was in der Art.« Ich blicke Robert an. »Du könntest sagen, dass du hin und wieder das Gefühl hast, dir käme das Herz zum Hals heraus, oder als würde es stolpern.« Die Idee fühlt sich immer noch nicht richtig an.

»Was ist mit Puls und Blutdruck?«, erkundigt sich Shaun.

»Ich kann vorher drei Runden um den Block sprinten«, bietet Robert an, der scheinbar ebenfalls nicht wirklich überzeugt von unserem Plan ist, seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen.

»Das würde zumindest einen Schweißausbruch simulieren«, bestätige ich. »Am besten ihr kommt und ich kümmere mich um den Rest. Mir fällt bis dahin hoffentlich was ein.« Wenn nicht, blase ich die ganze Aktion ab.

»Okay, ihr Turteltäubchen«, meint Shaun und steht auf. »Dann lass ich euch mal allein. Wir sehen uns später.« Er zwinkert uns beiden zu. »Tut nichts, was ich nicht auch tun würde.«

Das entlockt Robert ein verzagtes Stöhnen und mir ein dämliches Grinsen – warum auch immer.