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- SALVATORE -

Samstag

D ie Nachtschicht auf meiner Station ist offiziell beendet und ich mache mich auf den Weg in die Notaufnahme, wo ich den Rest des Tages verbringen werde. Ich hoffe, ich kann mich gleich ein bisschen aufs Ohr hauen.

Vielleicht träumst du ja von einem gewissen Mann, mit dem du gestern den Nachmittag und Abend verbracht hast und der dir viel mehr unter die Haut gegangen ist, als du zugeben magst.

Wie die letzten Stunden auch verdränge ich jeden Gedanken an die überraschend angenehme Zeit mit Agent Robert Flinn, als ich eine glücklicherweise ruhige Notaufnahme betrete und Richtung Ruheraum abbiege.

»Wenn du mich brauchst, weck mich, okay?«, rufe ich Sharon zu, bevor ich irritiert stehen bleibe und sie frage: »Sag mal, kommst du überhaupt noch heim?«

Sie zuckt die Schultern und beugt sich über den Tresen der Anmeldung – eine kommentarlose Aufforderung, näher zu treten. »Was soll ich sagen, ich war doch erst vor zwei Tagen zu Hause. Mein Mann war total panisch und wollte wissen, wer ich sei, schließlich würde er nicht jeden ins Haus lassen.« Sie lacht und winkt ab. »Du kennst das Spiel. Unterbesetzt, da zu wenig Pflegekräfte, und dann schlägt die jährlich grassierende Grippewelle zu. Irgendeiner muss ja die Stellung halten. Es fragt niemand, ob wir damit einverstanden sind oder unsere Familien uns überhaupt noch erkennen. Und ganz ehrlich? Wenn es mir zu bunt wird, kann ich ja kündigen und das Angebot von einer der Leasingfirmen annehmen, die immer mal wieder ihre Angel hier auswerfen.« Sie senkt die Stimme. »Die zahlen Gehälter, da wird einem schwindlig. Kein Wunder, dass alle das Weite suchen.«

Ich blicke mich vorsichtig um, ehe ich ebenso leise entgegne: »Nicht, dass ich dich loswerden will, aber warum tust du es nicht einfach?«

»Dummheit? Nein, nicht wirklich. Ich habe hier gelernt, weißt du. Mittlerweile arbeite ich seit über zwanzig Jahren im Sinai. Es ist mein zweites Zuhause geworden.« Sharon verzieht den Mund und gesteht: »Wenn ich ungebunden und kinderlos wäre, hätte ich es wahrscheinlich längst getan. Also das Handtuch geworfen.«

»So lange bist du schon hier? Wow!« Mein innerer Detective, von dem ich nicht einmal wusste, dass er existiert, drängt mich, mir die Gelegenheit nicht entgehen zu lassen. »Dann kannst du sicher viele Geschichten erzählen.«

»Darauf kannst du deinen süßen Hintern verwetten«, raunt sie mir zu und lacht, als ich sie perplex mustere.

Ihre kumpelhafte Vertrautheit überrascht mich. Ich räuspere meine Verlegenheit weg, nicke in Richtung Kaffeeautomaten und schlage vor: »Kann ich dir einen ausgeben? Ich finde, das ist längst überfällig, meinst du nicht?«

Jetzt sieht Sharon mich verwundert an. »Wirklich?«

»Sicher.«

»Oh, ich dachte immer, du bist wie alle unsere Kittelträger und betrachtest uns Schwestern als notwendiges Übel.« Sie kneift die Augen zusammen. »Wobei, so schlimm wie unsere Chirurgen bist du gar nicht. Im Gegenteil, mir wird gerade klar, dass ich inzwischen zu viele Vorurteile gegenüber euch Ärzten pflege.« Sie klatscht enthusiastisch in die Hände. »Wird Zeit, einem von euch eine Chance zu geben. Also ja, Kaffee klingt perfekt.«

Dass Sharon mich bisher mit unseren Überfliegern verglichen hat, schockiert mich. »Hör mal, wenn ich abweisend rübergekommen bin, entschuldige ich mich von Herzen. Ohne euch würde hier alles ins Chaos stürzen.« Ich klatsche ebenfalls in die Hände, meine Müdigkeit ist verflogen und hat einer unterschwelligen Aufregung Platz gemacht. »Wer hat gerade noch Schicht?«

»Mary und ein paar Auszubildende. Der Rest kommt in ein, zwei Stunden.«

»Weißt du was? Sag doch Mary, sie soll zwanzig Minuten für dich übernehmen. Vorausgesetzt, du traust ihr das zu. Ich lade dich in die Cafeteria ein.«

»Ja, sie wird das schon packen. Ist ja eh nichts los und wir sind nicht aus der Welt.«

»Gut. Richte ihr aus, wir bringen ihr einen ihrer heiß geliebten Donuts mit.«

»Du weißt, dass sie für Donuts töten würde?«, will Sharon erstaunt wissen.

Ich zucke lässig die Schultern. »Ich bin zwar ein Kittelträger, aber ich kriege alles mit, was hier passiert. Ich weiß auch, dass du deinen Kaffee schwarz mit unfassbar viel Zucker magst.«

»Pst! Das darf niemand erfahren. Sie ziehen mich immer damit auf, dass ich strikt auf Süßes verzichte. Wenn sie herausfinden, dass ich das mit meinem Kaffee kompensiere, bin ich geliefert. Gib mir eine Minute.«

Ich nicke und bleibe an der Anmeldung stehen. Als ich mich umsehe, komme ich mir wie ein Wachhund vor, der einen leeren Garten bewacht. Am frühen Morgen ist selten viel los. Die erste Welle rollt meist nicht vor neun Uhr an. Scheint, als würden die Patienten ausschlafen, bevor sie sich auf den Weg machen. Sollte in der Zwischenzeit ein ernsthafter Notfall eintreffen, wird Mary uns anrufen und wir sind in Nullkommanichts zurück.

»Bin fertig«, verkündet Sharon. Sie öffnet eine Schublade, wühlt in ihrer Handtasche und steckt sich etwas in ihren Kasacks, das verdächtig nach Glimmstängel und Feuerzeug aussah.

»Ich rate mal. Wir machen einen Abstecher vor die Tür, um frische Luft zu schnappen?«

Sharon zieht den Kopf ein und wirft mir einen entschuldigenden Blick zu. »Auf dem Rückweg. Ich weiß, das ist ungesund und überhaupt. Mein Mann schimpft auch mit mir und meint, ich soll den Scheiß endlich sein lassen. Aber weißt du …«

Ich hebe die Hand. »Hey, du bist erwachsen und musst dich mir gegenüber nicht rechtfertigen. Aber wenn du ohne Fallschirm aus einem Flugzeug springen willst, tu mir den Gefallen und sag mir vorher Bescheid, damit ich nicht in der Notaufnahme bin. Nein, im Ernst, wenn du rauchen willst, ist das deine Entscheidung.«

Ein lang gezogener Seufzer entkommt ihr und sie fischt die Schachtel Zigaretten samt Feuerzeug wieder aus ihrer Hemdbluse, um alles zurück in ihre Handtasche fallen zu lassen.

»Wegen mir musst du das nicht tun«, erkläre ich.

Sie schaut mich an und lacht. »Dein unerwartetes Verständnis beschert mir aber ein schlechtes Gewissen. Fühlt sich unschön an. Ich kann besser damit umgehen, wenn ich wegen der Qualmerei angemosert werde.«

Ich lache. »Seltsame Logik. Aber gut zu wissen, dass es funktioniert.«

»Nennt man auch umgekehrte Psychologie. Wende ich ständig bei meinen Kindern an. Jetzt durfte ich es das erste Mal am eigenen Leib erfahren. Nun tun mir meine Kids leid.«

»Ihr seid ja immer noch hier«, stellt Mary fest, als sie aus dem Schwesternzimmer kommt.

»Wir sind schon weg«, flötet Sharon und hakt sich bei mir unter.

Zwei Minuten später sitzen wir in einem nahezu leeren Gastraum. Hinter dem Verkaufstresen steht eine ältere Dame. Nachdem sie uns mit Kaffee versorgt und einen Donut für Mary eingepackt hat, belegt sie nun Sandwiches und Bagels, die sie für das Frühstück in die Vitrine legt. Besucher sind keine da, dafür ist es zu früh. Aber links von uns sitzt ein Kollege von mir. Sein Tablet liegt vor ihm auf dem Tisch. Er scheint sich Notizen zu machen, während er nebenbei eilig einen Muffin vertilgt und in großen Schlucken seine Tasse leert. Ja, so sehen die meisten Pausen aus. Wirklich zur Ruhe kommt man eher selten.

Ich nippe an meinem Kaffee, der erstaunlich gut ist und meine Lebensgeister weckt. »Zwanzig Jahre sind eine unglaublich lange Zeit.« Irgendwie muss ich ja das Gespräch ins Rollen bringen.

Sharon nickt. »Wem sagst du das. Wenn ich zurückblicke, wirken so viele Begebenheiten verschwommen. Ich frage mich manchmal ernsthaft, wo die Zeit geblieben ist. Es ist, als hätte ich mich durch die letzten zwei Jahrzehnte mit einem Tunnelblick gekämpft. Weißt du, man sagt sich immer wieder, ich werde dies oder das in vollen Zügen genießen, nur um sich dabei zu erwischen, dass man es doch nicht tut. Na ja, so ist das Leben, richtig? Wie ist es mit dir?«

»Nicht viel anders. An erster Stelle steht mein Job, dann kommt meine Familie. Wobei es eigentlich andersherum sein sollte. Dann kommt eine ganze Weile nichts und ganz weit hinten mein Privatleben. Aber hey, ist ja nicht so, als hätte ich nicht gewusst, auf was ich mich einlasse. Du hast sicher einige kommen und gehen sehen. Wer war dir bisher die liebste Person?«

Sie grinst mich an. »Ich könnte schwören, du fischst nach Komplimenten, mein Lieber.«

Ich lache. »Nein, so war das nicht gemeint. Aber du willst mir doch nicht weismachen, dass alle Ärzte herzlose, arrogante Idioten sind.«

»Zu 99,9 % ist das leider genau so.« Sie deutet auf mich. »Doch hin und wieder wird man positiv überrascht.«

»Jetzt werde ich glatt rot.«

»Das ist nicht nötig, obwohl ich es dir inzwischen abnehmen würde. Zurück zu deiner Frage. Es gab bisher nur einen Mann, dem wohl jeder von uns sein letztes Hemd geschenkt hätte, egal ob Arzt, Pfleger oder Servicekraft.«

»Ach. Kenne ich ihn? Vielleicht kann ich mir eine Scheibe von ihm abschneiden.«

Sharon lächelt gedankenverloren, ehe ihre Miene traurig wird. »Ich denke nicht. Das war noch vor deiner Zeit hier in der Notaufnahme. Könnte höchstens sein, dass ihr euch unbewusst über den Weg gelaufen seid. Er verschwand vor drei Jahren von heute auf morgen. Natürlich fiel seine Abwesenheit auf und wir machten uns Sorgen. Seltsamerweise ergaben Nachfragen über seinen Verbleib überhaupt nichts. Er war nicht einmal mehr telefonisch erreichbar, geschweige denn per Mail. Wie vom Erdboden verschluckt. Einige Wochen später sickerte das Gerücht durch, er hätte sich das Leben genommen.« Sharon seufzt. »Entschuldige, das ist ein deprimierendes Thema. Obwohl es nun schon eine gefühlte Ewigkeit her ist, macht mich das traurig. Er war so ein netter Mensch, immer guter Laune, hatte für jeden ein offenes Ohr. Keiner von uns hätte je gedacht, dass er sich etwas antun würde. Seine ganze Person war so lebensbejahend.«

»Du sagtest, es wäre ein Gerücht gewesen. Vielleicht stimmt es ja nicht und er hat woanders komplett neu angefangen. Wer weiß schon, was in seinem Privatleben los war.«

»Über Letzteres wissen wir wohl alle nicht viel von unseren Kollegen, das ist traurig, aber wahr. Leider stellte sich dieses Gerücht im Nachhinein als Wahrheit heraus. Ein Surfer fand seinen leblosen Körper in einem Bootshaus am Strand von Malibu. Die Obduktion ergab eine Opioid-Überdosis, die zur Atemlähmung führte. Schon seltsam, wenn man bedenkt, dass er einer der wenigen Ärzte war, der nicht sofort darauf zurückgriff. Er versuchte die Schmerzen seiner Patienten erst einmal mit Alternativmedizin zu lindern. Nur wenn nichts anschlug, verabreichte er Schmerzmittel.« Sie lächelt mich traurig an. »Ihr hättet euch bestimmt angefreundet. Er war so wie du.«

»Wie ich? Hattest du nicht bis vor einer Viertelstunde behauptet, ich wäre wie alle anderen hier?«

»Den Irrtum habe ich längst zugegeben«, schmollt Sharon gespielt. »Nein wirklich, mir ist schon früher aufgefallen, dass du Köpfchen hast und freundlich mit den Patienten umgehst. Du warst nur so unnahbar, wenn es um uns ging, daher habe ich dich dummerweise in die Schublade der Idioten einsortiert. Mea culpa.«

Irgendwie muss ich sie dazu bringen, mir den Namen des beklagenswerten Kerls zu nennen. »Ich überlege die ganze Zeit, wer es war.«

»Wen meinst du?«

»Na, die arme Seele, von der du mir gerade erzählt hast. Vielleicht sind wir uns tatsächlich mal begegnet.«

»Roger Thompson hieß er. Seine Familie lebte früher in Seattle. Sie zogen hierher, als er aufs College kam, glaube ich. Sein Dad war in der Politik zu Hause, bevor er sich entschloss, sein Geld mit Investments zu verdienen.«

»Der Name sagt mir nichts.«

»Nach Rogers Tod sind die Thompsons zurückgegangen.« Sie seufzt. »Was ich verstehen kann. Hier wird sie alles an ihren Sohn erinnern. Ich könnte nicht damit leben. Herrje, wenn ich mir nur vorstelle, eins meiner Kinder würde …« Sie winkt ab. »Lass uns über nettere Dinge reden.«

Ich nicke und mache mir eine gedankliche Notiz: So schnell wie möglich Robert anrufen.