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- ROBERT -

S al zu küssen war unglaublich. Eine Offenbarung, um genau zu sein. Was ein Spaß sein sollte, fühlte sich an, als wäre es die Erfüllung all meiner Träume. Es kostete mich sämtliche Selbstbeherrschung, die ich aufbringen konnte, um mich von ihm loszueisen.

Schließlich bin ich nicht hier, um meinen Mann zu besuchen, auch wenn wir dieses Täuschungsmanöver als Vorwand nehmen, uns umzuhören, wie Shaun es gerade getan hat.

Die Zeit drängt. Der Meinung ist auch Shaun, als wir uns vorhin abseits der Öffentlichkeit im Keller des FBI unterhielten und er mir erzählte, was er noch herausgefunden hatte. Der Grund, weshalb er Sharon auf den Zahn fühlen wollte.

»Also, wie hat sie reagiert?«, frage ich Shaun, kaum dass wir uns unter sechs Augen befinden.

Sals Blick huscht verwirrt von mir zu Shaun.

Der schaut sich prüfend um und lehnt sich mit verschränkten Armen lässig gegen die Flurwand. »Ich habe ein jugendliches Anekdötchen mit meinem Bruder zum Besten gegeben und …«

»Du hast keinen Bruder«, stelle ich reflexartig fest.

»Was du nicht sagst«, schnaubt Shaun. »Jedenfalls lenkte ich das Gespräch geschickt in eine Richtung, in der mir die Mädels von ihren Geschwistern erzählen sollten. Subtil, versteht sich.«

»Wozu sollte das gut sein?«, fordert Sal zu wissen.

»Gib mir eine Sekunde, dann verstehst du es.« Shaun sieht mich wieder an und grinst hintertrieben. »Sharons Gesichtsausdruck spiegelte für einen winzigen Moment Panik wider. Du weißt schon, aufgerissene Augen, offen stehender Mund. Ihre Gesichtsfarbe wechselte von einem aufgeregt rosigen Teint zu aschfahl. Wie gesagt, nur kurz. Sie fing sich so schnell, ich hätte es wahrscheinlich nicht wahrgenommen, hätte ich sie nicht genau im Auge behalten. Dann setzte sie eine wehmütige Miene auf und meinte, sie wüsste nicht, wie das wäre, Geschwister zu haben. Und sie beneide jeden darum. Angeblich hätte sie immer einen großen Bruder haben wollen.«

»Wenn das nicht verdächtig ist, weiß ich auch nicht«, murmle ich vor mich hin.

Sal brummt: »Sorry, Leute, aber kann mir mal jemand erklären, was das zu bedeuten hat?«

Daraufhin erzählt ihm Shaun von Police Officer Mason Gardner. »Die liebe Sharon hat gelogen. Denn eben jener Mason Gardner ist ihr Bruder.«

»Er hat Thompsons Akte in den Tiefen des Archivs verschwinden lassen? Oh mein Gott, das hast du mit unter anderem gemeint. Und ihr glaubt, Sharon hat etwas damit zu tun?« Sal wird blass um die Nase und sieht zwischen uns hin und her. »Gut, dass ich das nicht vorher gewusst habe. Ich hätte uns wahrscheinlich gleich auffliegen lassen, als wir beide zurück in die Notaufnahme gekommen sind. Wenn das wahr ist und …« Sal greift sich entsetzt an den Hals. »Verdammt, was für ein perfides Spiel treibt sie da mit mir? Wir waren vorhin Kaffee trinken und sie war so nett und freundlich. Wobei, nur Sekunden bevor Robert aufgetaucht ist, sah sie mich irgendwie seltsam an.«

»Es besteht zumindest eine Verbindung. Ob und in welchem Maß Sharon tatsächlich involviert ist, müssen wir herausfinden«, erkläre ich.

»Na ja, Shaun hat doch bereits Anzeichen dafür gesehen, dass sie etwas verheimlicht. Warum sonst sollte sie ihren Bruder verleugnen?«, sinniert Sal.

»Eben.«

»Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen, ehe wir nicht über mehr Hintergrundinformationen aus Sharons Leben verfügen. Vielleicht haben sich die zwei zerstritten. Keine Ahnung, es gibt viele Gründe, warum man nichts mehr mit der Familie zu tun haben möchte«, gebe ich zu bedenken.

Shaun sieht mich mitleidig an und nickt. »Du hast recht.«

Sal reibt mir tröstend den Arm. »Shaun sagt es. Ich neige dazu, gewisse Dinge aus meiner Sicht zu beurteilen, und vergesse, dass nicht jeder so ein gutes Verhältnis zu seiner Familie hat wie ich.«

Ihr Mitgefühl ist mir unangenehm. Ich blicke von einem zum anderen und schnaube abfällig, setze ein unbeschwertes Lächeln auf und meine: »Kommt schon, Leute, mir geht’s gut, okay? Konzentrieren wir uns doch bitte wieder auf unseren Fall.«

Einen kurzen Blickwechsel zwischen Shaun und Sal später zuckt Letzterer die Schultern und fragt: »Also gut. Wie geht’s jetzt weiter?«

»Ich rede mit Fallon«, antwortet Shaun. »Derweil macht ihr zwei euer Ding.«

»Wie ich Robert bereits gesagt habe, hatte ich Mary und Sharon angeboten, den Vorratsschrank für die Medikamente zu checken.«

»Es wird sich doch niemand daran stören, wenn dir dein Mann dabei Gesellschaft leistet, oder?«

»Ich würde jetzt nicht behaupten, dass es gern gesehen ist. Aber ich kann’s damit rechtfertigen, dass wir durch unsere Jobs viel zu wenig Zeit füreinander haben. Und na ja, da ist ja noch die Partyplanung.«

»Dann mal los.« Shaun tippt sich ans Ohr. »Und denkt dran.«

»Oh, stimmt«, entgegnet Sal, der Shauns Geste nachahmt und erstaunt zu mir sagt: »Ich hab das Teil tatsächlich vergessen.«

»Die sind echt cool, stimmt’s?« Shaun stößt sich von der Wand ab. »Oh, apropos vergessen, ich habe Sharon eine Wanze untergejubelt.«

»Wow, wie das?«, will Sal wissen.

»Noch so ein Wunder der Technik. Das Ding ist winzig klein und klebt wie die Hölle, bis es nach zwei Tagen von selbst abfällt. Es hängt wie eine aufdringliche Zecke in ihrem Nacken. Bevor ihr fragt, wie ich da rangekommen bin, ich habe ihren Kragen zurechtgerückt.«

Ich muss unwillkürlich lachen. »Ja, das würde niemand, der dich kennt, seltsam finden. Dein Ordnungsfimmel ist legendär.«

»Das erklärt einiges«, prustet Sal.

»Hey, was soll das denn heißen?«

Sal schenkt ihm ein breites Grinsen. »Das verrat ich dir ein andermal, okay?«

Shaun zieht eine Augenbraue hoch. »Versprochen?«

»Versprochen.«

»Zurück zu Sharon«, klinke ich mich wieder ein. »Wird sie nicht merken, dass ihr was im Nacken hängt? Es könnte auch jemand anderes sehen.«

»Ich konnte sie ziemlich weit oben nahe am Haaransatz anbringen. Ein paar Locken kräuseln sich darüber. Das Teil ist wirklich äußerst winzig. Es wäre ein Wunder, würde sie jemanden auffallen.«

»Aber wer überwacht, was sie sagt?«

Shaun tätschelt seine Hosentasche, wo ein Umriss seines Handys zu erkennen ist, dann deutet er auf sein Ohr, diesmal sein linkes. »Sie steckt sozusagen in meinem Kopf. Alles, was sie sagt, wird über eine App gespeichert, die mir Elliot vorhin aufgespielt hat.«

»Derweil wir uns hier unterhalten, hörst du, was sie sagt?« Sals Augen werden vor Erstaunen immer größer. »Oh mein Gott, ihr hofft, dass ihr über sie an Gardner rankommt, oder?«

»Der Gedanke liegt nahe. Wer, wenn nicht seine Schwester, würde wissen, wo er sich aufhält, vorausgesetzt er lebt noch. Zumal Sharons Reaktion beinahe einem Schuldbekenntnis gleichkam. Ich hoffe nur, meine Story und die der anderen Ladys haben sie melancholisch genug werden lassen, um ihren Bruder zu kontaktieren.«

»Du bist ein wirklich guter Schauspieler, Shaun«, bewundert ihn Sal.

»Wie kommst du darauf?«

»Wie kannst du so unbekümmert Witze reißen und die Leute amüsieren, während deine Zielperson direkt vor deiner Nase steht und du davon ausgehen musst, dass sie dich schlimmstenfalls durchschaut?«

»Alles eine Frage des Trainings, mein Bester«, entgegnet Shaun extrem selbstzufrieden. Am liebsten würde ich ihm das breite Grinsen, das er gerade Sal schenkt, aus dem Gesicht wischen. Es ist nicht nur einfach ein Grinsen, es hat etwas Lüsternes an sich, was mir überhaupt nicht behagt. Doch in die Verlegenheit, meinem Partner eine reinzuhauen, komme ich erst gar nicht.

Wie ein übermütiger Junge erklärt Sal mit strahlenden Augen: »Wow, Leute, das ist irgendwie total schräg und … Meine Güte, wenn man bedenkt, warum ihr hier seid, total unpassend. Denn es geht um etwas wirklich Übles. Aber ich komme mir vor, als wäre ich das Helferlein von James Bond und Sherlock Holmes. Oder Batmans kleiner Robin.«

Er wirkt dermaßen aufgekratzt, dass ich lachen muss. Ich lege meinen Arm um seine Schultern und drücke ihn freundschaftlich an mich. »Nicht klein.«

Sal dreht sein Gesicht zu mir und wir sind uns plötzlich gemeingefährlich nah. So nah wie vorhin in der Notaufnahme, als ich ihn geküsst habe.

»Okay, Männer, das war mein Stichwort. Sollte sich bei Sharon etwas ergeben, erfahrt ihr es als Erste.« Daraufhin macht er auf dem Absatz kehrt und stapft in Richtung Notaufnahme.

Sal geht auf Abstand und räuspert sich. »Komm, bevor doch noch die Hölle losbricht.«

Er lotst mich ebenfalls zurück in die Notaufnahme, aber dann weiter in einen angrenzenden Raum.

»Hier lagern wir alles, was benötigt wird. Vom Pflaster bis hin zu medizinischen Geräten wie ein mobiles Sonografiegerät.« Er deutet zu seiner Linken. »Das ist besagter Vorratsschrank.«

Zehn Minuten später haben wir die Bestände mit der Inventarliste abgeglichen und festgestellt, dass diese bis auf zwei fehlende Fläschchen Insulin stimmt.

»Das ist neu«, murmelt Sal.

»Dann haben bisher immer nur Schmerzmittel gefehlt?«, will ich wissen.

»Zumindest ist mir nichts anderes aufgefallen. Allerdings habe ich auch nicht explizit danach geschaut. Mir ging es in erster Linie um Analgetika.«

»Also wäre es denkbar, dass viel mehr weggekommen ist, als wir annehmen?«

»Tja, diese Möglichkeit besteht wohl tatsächlich. Aber macht das einen Unterschied?«

»Nicht unbedingt. Es deutet sogar noch mehr darauf hin, dass sich jemand auf dem Schwarzmarkt eine goldene Nase verdienen will. Insulin ist teuer. Es gibt leider viele Betroffene, die keine oder nur eine unzureichende Krankenversicherung haben. Einige von ihnen können es sich schlicht nicht leisten, Insulin legal zu erwerben.«

»Ich weiß, das ist ein untragbarer Zustand. Wenn ich könnte, würde ich etwas dagegen unternehmen. Und ganz ehrlich? Diese armen Menschen sind einfach zu bedauern. Sie werden von unseren Politikern dazu gezwungen, Straftaten zu begehen, um zu überleben. Schrecklich.«

Ich mustere Sal einen langen Moment. »Dir ist doch klar, dass wir keine Unterschiede machen können, oder?«

»Du meinst, sollten wir auf wundersame Weise herauskriegen, wer die Käufer sind, müssen wir ihre Namen preisgeben?«

»Ja. Es tut mir …«

»Um Himmels willen, Bobby, du musst dich nicht dafür entschuldigen, dass du dich an das Gesetz hältst.«

Ich atme erleichtert durch. »Danke. Ich weiß, dass die Gesetzgebung nicht immer fair erscheint. Leider gibt es auch Täter, die zugleich Opfer sind. Wir können nur auf das Rechtssystem vertrauen.«

Sal winkt ab. »Im Augenblick will ich einfach nur wissen, was hier los ist.«

Ich lache. »Na, dann auf in den Kampf, Watson.«

Wir schauen uns einen Moment lang an, bevor wir in leises Gelächter verfallen, derweil Sal alles an seinen Platz sortiert und den Schrank schließt. »Ich gehe zur Hausapotheke und besorge die fehlenden Mittel. Willst du mitkommen?«

»Sicher. Du musst mir schließlich noch sagen, wie ich Nicolettas Party auszurichten habe.«

Sal lacht. »Da fällt mir ein: Warum guckst du eigentlich immer so drollig, wenn die Sprache auf meine Schwester kommt?«

»Ich gucke doch nicht drollig, wenn wir über Nicoletta reden. Und warum sagst du drollig? Das Wort ist irgendwie drollig.« Ich fasele dummes Zeug, ist mir klar.

Sal stoppt mich mit der Hand am Arm, bevor wir die Tür zum Flur erreichen, und deutet auf mein Gesicht. »Doch, tust du. Gerade eben wieder.«

Ich zucke die Schultern. »Ich bin nicht so firm, wenn’s um Familiengedöns geht. Vielleicht wirke ich deshalb drollig

Er beäugt mich eindringlich, während mir die Kehle eng wird, weil mir erneut einfällt, dass ich ihm die Wahrheit sagen sollte. Nein, muss. Aber hier und jetzt ist nicht der richtige Ort.

»Na gut, wenn du das sagst. Aber dir ist schon klar, dass du sie am Sonntag kennenlernst? Wenn du sie dann anstarrst, als hätte sie zwei Köpfe, könnte es sein, dass sie das nicht witzig findet.«

»Ähm, wegen Sonntag …«

Ernüchtert stellt Sal fest: »Du hast es dir anders überlegt.«

»Nein! Ich … Also … Na ja, ich will nur nicht, dass du enttäuscht bist, falls was dazwischenkommt.«

»Du hast doch Urlaub.« Sal schüttelt den Kopf. »Sorry. Ich bin ein Idiot. Du bist auf Abruf. Egal, ob du Urlaub hast oder nicht, richtig? Ich sollte es nun wirklich besser wissen.«

Wow, jetzt gibt er mir die Steilvorlage für eine perfekte Ausrede. Wenn es mal nicht armselig für mich ist, sie auch noch zu meinen Gunsten zu nutzen. »Ganz genau.«

Sal öffnet die Tür und lässt mir den Vortritt. »Ist okay. Solltest du verhindert sein, verschieben wir es auf ein andermal.«

Auf dem Weg zur Hausapotheke treffen wir einige von Sals Kollegen. Sie nicken freundlich, aber mehr nicht. Niemand spricht Sal an oder gibt Höflichkeitsfloskeln von sich. Kein Wie geht’s? , Was macht die Familie? oder dergleichen. Alle wirken distanziert. Und mir wird schlagartig klar, dass es umgedreht genauso ablaufen würde, wäre Sal bei mir im Büro zu Besuch und wir liefen Seite an Seite durch das FBI-Gebäude – na ja, mein Team ausgenommen.

Sals Handy klingelt. Er stoppt abrupt und nimmt umgehend das Gespräch an. »Bonasera hier.« Während er dem Anrufer lauscht, wandert sein Blick zu mir und wird mit jeder Sekunde düsterer. »Ich bin sofort da«, erklärt Sal, bevor er sein Telefon in die Jackentasche stopft, aus der bereits sein Stethoskop herausbaumelt. Er macht auf dem Absatz kehrt und knurrt: »Sharon ist zusammengebrochen.«

Erschüttert folge ich ihm. »Du meine Güte. Was ist passiert?«

»Ich weiß es nicht. Mary war außer sich und ich habe nicht viel mehr verstanden als das, was ich dir eben gesagt habe.«

Im Eiltempo rennen wir den Flur entlang in Richtung Notaufnahme. Ich tippe an mein Ohr und aktiviere damit das Mikro. »Shaun, wo bist du?«

»Hab gerade umgedreht. Bin in zehn Minuten bei euch.«

Gut, dann hat seine Wanze funktioniert und er alles mit angehört. Er wird uns also sagen können, was genau passiert ist.