13

- ROBERT -

E s war ein langer Tag und er scheint noch viel länger zu werden.

Sal sieht mich über den Tisch hinweg an und wartet darauf, dass ich ihn auf den neusten Stand bringe.

»In den letzten Stunden ist einiges passiert. Um ehrlich zu sein, weiß ich grad nicht, wo ich anfangen soll.«

»Wie wär’s mit Sharon?«, schlägt Sal vor, bevor er sich eine weitere Gabel mit Hähnchen in den Mund steckt.

Ich beobachte ihn dabei, wie er mit Appetit sein Essen verschlingt, und spüre eine innere Zufriedenheit. Doch dann denke ich wieder an Sharon und Wut köchelt in mir hoch.

Sal blickt zu mir auf. Die schlechten Nachrichten muss er mir ansehen, denn er lässt seine Hand sinken, lehnt sich zurück und sagt leise: »Oh mein Gott, was ist passiert? Sie war doch stabil.«

»Sharon ist ins Koma gefallen. Doktor Levine kann es sich nicht erklären. Ich sollte wohl besser sagen, sie konnte es sich nicht erklären. Inzwischen ist sie schlauer. Du hattest sie gebeten, auf ungewöhnliche Anzeichen zu achten. Daher ordnete sie einen Tox-Screen an.«

»Und? Sag nicht, sie wurde vergiftet oder … Moment.« Salvatore murmelt leise vor sich hin, ehe er mit entsetzter Miene erklärt: »Sie hatte eine Überdosis, richtig?«

»Wie kommst du darauf? Aber ja.«

»Die Symptome passen. Und in Anbetracht dessen, was wir inzwischen glauben zu wissen, scheint es sogar naheliegend. Wieso habe ich nicht gleich daran gedacht? Verdammte Scheiße! Wir hätten verhindern können, dass sie …«

»Wenn du mehr Zeit gehabt hättest, hättest du sicher eins und eins zusammengezählt. Aber wie du dich bestimmt erinnerst, brach im selben Augenblick die Hölle über euch herein. Sal, ich bin immer noch total verblüfft, wie ruhig du bei all dem geblieben bist. Du hattest alles im Griff. Und heilige Scheiße, niemand, aber auch wirklich niemand hat deine Autorität infrage gestellt. Nicht einmal die Oberärzte, die zu eurer Unterstützung herbeigeeilt sind.«

»Ich hätte es dennoch sehen müssen«, murmelt Sal und kämmt sich fahrig durch sein blondes Haar.

»Hör auf, dich fertigzumachen.«

Sein Kopf ruckt hoch. »Scheiße, glaubst du, das hat ihr jemand verabreicht, ohne dass sie es gemerkt hat? Und was genau war es eigentlich?« Sal springt auf. »Wir müssen zu ihr. Wenn es jemand auf sie abgesehen hat, darf sie nicht …«

»Sie ist nicht allein. Shaun ist bei ihr. Jetzt weißt du auch, wo er ist.«

»Dann habe ich recht?«, flüstert Sal voller Entsetzen und sinkt zurück auf den Stuhl.

»Levine hat Sharon gründlich untersucht und keine Hinweise auf irgendwelche Einstichstellen gefunden. Sie muss es oral zu sich genommen haben.«

»Dann hat sie es absichtlich getan? Das kann ich nicht glauben. Ich meine, sie hat Familie. Sie liebt ihre Kids.«

»Sal, es ist möglich , dass sie es selbst getan hat. Aber ebenso möglich ist, dass es ihr jemand …« Sein fassungsloses Gesicht lässt mich kurz verstummen. »Nachdem Levine uns über den Befund informiert hat, wollte sie die Polizei rufen. Wir schlugen ihr vor, dass wir uns der Sache annehmen könnten, wo wir schon einmal da wären. Im ersten Moment dachte ich, sie würde uns aus dem Krankenhaus jagen wollen, doch dann schien sie einzusehen, dass es Sinn ergibt, uns das Feld zu überlassen. Jedenfalls haben wir in einer Schublade an der Anmeldung einen halb vollen Thermobecher mit lauwarmem Kaffee gefunden.«

»Lag eine Handtasche mit einer Schachtel Zigaretten daneben?«

»Ja. Mary meinte, Sharon würde dort immer ihr Zeug bunkern, wenn sie Schicht hat. Und sie hätte gesehen, wie sie sich den Kaffee zuvor aus dem Automaten holte, nachdem sie einen Moment vor der Tür war.«

»Wir waren doch erst kurz davor einen trinken. Komisch. Wobei, eigentlich auch nicht. Sharon war seit gestern früh hier. Sie muss völlig übermüdet gewesen sein«, sinniert Sal, bevor er mich entsetzt ansieht. »Willst du mir etwa sagen, dass sie es mit dem Kaffee eingenommen hat?«

»Es wurde eine hohe Konzentration Oxycodon nachgewiesen.«

Er seufzt resigniert. »Dann hat sie es mit Absicht getan. Aber wieso?«

»Du sagtest eben, sie würde das nie tun.«

»Oxy hat einen salzig-bitteren Geschmack. Glaub mir, das schmeckt man raus. Außer …« Sals Augen werden erneut kugelrund. »Oh mein Gott, es hat jemand auf sie abgesehen.«

»Warum bist du dir plötzlich so sicher?«

Er sieht mich nachdrücklich an und erklärt: »Mir ist schon vor Monaten aufgefallen, dass Sharon ihren Kaffee pappsüß mag. Also wenn der, den ihr gefunden habt, ebenfalls derart stark gesüßt war …«

»Konnte sie es nicht herausschmecken«, beende ich Sals Satz.

»Es muss jemand gewesen sein, der von ihrer heimlichen Leidenschaft wusste«, sinniert Sal.

»Wieso heimlich?«

»Sie wollte nicht, dass ihre Kollegen davon erfahren.« Sal lacht harsch. »Die Frau ist ein Widerspruch in sich. Sie predigt anderen, gesünder zu leben und auf zu viel Süßkram zu verzichten, raucht aber selbst gern mal eine Zigarette und wirft tonnenweise Zucker in ihren Kaffee.«

»Als leitende Oberschwester der Notaufnahme wollte sie vielleicht ein gutes Vorbild abgeben. Nicht nur das, du hast gesagt, sie hat Kinder. Es ist nicht immer leicht, den Erwartungen anderer zu entsprechen.«

»Stimmt.«

»Sal, es wurde außer Oxy noch eine weitere Substanz nachgewiesen.«

»Wirklich? Welche?«

Wie hatte Levine die Substanz doch gleich genannt? »Ketoconazol. Ich hoffe, ich spreche es richtig aus.«

Sal zieht die Stirn kraus. »Okay, was meinte Brooke dazu?«

»Als ich sie fragte, was es damit auf sich hätte, schien sie plötzlich eine Nachricht auf ihrem Handy erhalten zu haben. Daraufhin verabschiedete sie sich übereilt wegen eines Notfalls. Sie rief mir noch zu, dass wir das leider später klären müssen und werden. Aber ich habe sie seitdem nicht gesehen. Weißt du, was das für eine Substanz ist?«

»Es handelt sich dabei um ein Fungizid. Aber wieso sollte Sharon … Oh, Fuck!«

»Was ist?«, hake ich nach, als Sal entgeistert den Kopf schüttelt.

»Ketoconazol hemmt das Isoenzym CYP3A4, womit die Wirkung von Oxycodon um ein Vielfaches verstärkt wird.«

Fassungslosigkeit beschreibt nicht einmal annähernd, was ich gerade empfinde. Und Sals Miene nach zu urteilen, geht es ihm wie mir.

Für einen langen Moment herrscht nachdenkliches Schweigen. Als müssten wir beide das Gesagte erst einmal verdauen.

Bis Sal leise fragt: »Was machen wir jetzt?«

Ich muss die Informationen weitergeben. Aber vorher wird es Zeit, ihm etwas zu beichten. Ich greife über den Tisch und lege meine Hand auf Sals. »Es tut mir leid. Aber …«

»Ihr habt es Ledecky erzählt.« Sal klingt in keiner Weise anklagend.

Ich nicke. »Uns blieb nichts anderes übrig. Er hat den Fall übernommen. Heißt, wir ermitteln jetzt offiziell. Fallon und Louis sind demnach mit an Bord.«

»Ist okay. Hatte Shaun nicht sowieso vor, sie einzuweihen? Egal. Ich würde dir niemals einen Vorwurf daraus machen.« Er zuckt die Schultern, setzt sich wieder gerade hin und stochert in seinem Essen herum. »Ist vielleicht auch besser so.«

»Fürs Erste geht’s nur um Sharon. Aber ja, wie es aussieht, werden wir deinen Namen früher oder später nicht mehr raushalten können.«

Mit geschlossenen Augen atmet Sal tief durch. Dann sieht er mich traurig lächelnd an. »Das war’s dann wohl für meine Karriere.«

»Wir tun alles, was in unserer Macht steht, um das zu vermeiden«, versichere ich Sal.

Sein Blick sinkt auf den halb leeren Teller und er schluckt hart, bevor er leise sagt: »Ich weiß. Aber seien wir mal ehrlich, am Ende wird es keinen Unterschied machen. Ich danke dir dennoch, dass du es versuchst. Ich meine, ihr.«

Ich könnte ihm hier und jetzt Ledeckys Angebot unterbreiten. Doch ich entscheide mich dagegen. Ich käme mir vor, als würde ich seine Notlage ausnutzen. Und bisher ist ja nicht absehbar, in welche Richtung sich der Fall entwickelt. Statt ihn also verbal zu beruhigen, stehe ich in der nächsten Sekunde neben seinem Stuhl, ergreife seine Hand, ziehe ihn auf die Beine und in meine Arme.

Mit einem kellertiefen Seufzer ergibt sich Sal mir und schmiegt sich an mich, schlingt seine Arme um meine Mitte und bettet seinen Kopf auf meine Schulter.

Ich reibe ihm sanft über den Rücken. »Alles wird gut, vertrau mir.«

Sal hebt den Kopf und sieht mir fest in die Augen. Dann nickt er. »Das tue ich.« Daraufhin sinkt sein Blick auf meinen Mund und seine Zungenspitze huscht über seinen Lippen.

Mir wird schlagartig heiß und ich will nichts lieber tun, als ihm zu geben, wonach er sich zu sehnen scheint. Doch ehe sich mein Urteilsvermögen verabschiedet, ziehe ich die Reißleine und trete einen Schritt zurück.

Sal wirkt, als hätte ihm einer einen Eimer Eiswasser übergekippt. Seine Miene wechselt von Sehnsucht zu Unverständnis, bevor er sich enttäuscht von mir abwendet und sagt: »Ich brauche ein paar Stunden Schlaf.«

»Und ich muss ins Büro.« Ich räuspere mich und erkläre leichthin: »Das war dann ein äußerst kurzer Urlaub.« Ich nehme mein Geschirr und drehe mich zu Sal um. »Lass mich dir vorher beim Aufräumen helfen.«

Er nimmt mir alles aus der Hand. »Du hast das Essen besorgt. Ich räume auf. Das ist nur fair.«

»In Ordnung.«

Erneut sehen wir uns an und kommen uns unweigerlich Millimeter um Millimeter näher. Es scheint uns unmöglich zu sein, Abstand zu halten. Doch diesmal ist es Sal, der sich mit einem Räuspern abwendet, davonstapft und mit rauer Stimme verkündet: »Du musst los.«

Ich folge ihm, biege aber in die entgegengesetzte Richtung ab und stoppe an der Haustür, drehe mich um und sehe Sal mit dem Geschirr in der Hand am Ende des Flurs stehen. Er wirkt verloren. Wieder einmal fällt es mir schwer, mich von ihm zu verabschieden. »Wie ist dein Schichtplan?«

Sal runzelt überrascht die Stirn. »Ich habe morgen Spätschicht.«

»Ich hol dich ab.«

»Nein, das musst du nicht. Ich …«

»Du hast kein Auto. Es macht mir nichts aus, dich zu fahren. Und denk dran, du wolltest zu deinen Eltern.« Und ich bin der größte Idiot auf Gottes Erden, dass ich ihn erneut daran erinnere. Doch sein Lächeln, das er mir schenkt, lässt mich jegliche Dummheit vergessen.

Ich weiß, ich bringe mich in Teufels Küche, nicht nur, weil ich ihm immer noch nicht von Nicoletta und mir erzählt habe. Obendrein kann ich nicht anders, als den Abstand zwischen uns zu überbrücken, sein Gesicht wie ein kostbares Gut mit meinen Händen zu umschließen und ihm einen festen Kuss auf die Lippen zu drücken. »Alles wird gut. Versprochen. Und jetzt schlaf dich aus«, murmle ich gegen seinen Mund, bevor ich abrupt kehrtmache, im Eiltempo zur Tür hinaus verschwinde, in mein Auto springe und Gas gebe, als wäre der Leibhaftige hinter mir her.

* * *

Es ist kurz nach fünf, als ich zu Ledecky, Shaun, Louis und Fallon stoße, die sich im Konferenzraum eingerichtet haben.

Auf dem Monitor an der Wand werden das Konterfei und die Profildaten eines Mannes angezeigt, dessen Name mir nichts sagt. Miguel Hernández ist kahl geschoren. Tja, vertrauenserweckend sieht anders aus, das steht mal fest. Eine lange Narbe ziert seine linke Gesichtshälfte, während unter seinem rechten Auge zwei Tränen tätowiert sind. Also entweder der Mann hat zwei Morde begangen, oder er saß bereits zwei Mal im Bau. Klar, die Tattoos könnten auch für die Trauer nahestehender Verstorbener stehen. Aber das schließe ich eher aus.

Bevor ich allerdings fragen kann, was es mit dem Kerl auf sich hat, erkundigt sich Fallon: »Wie geht’s dem Doc?«

Ich nehme mir einen Kaffee und setze mich zu den vieren an den ovalen Konferenztisch. »Ich würde sagen, den Umständen entsprechend.« Daraufhin bringe ich sie auf den neusten Stand bezüglich der zweiten in Sharons Kaffee gefunden Substanz.

»Scheiße, da wusste jemand genau, was er zu tun hat, würde ich behaupten«, erklärt Ledecky, während er sich durch einen Stapel Akten kämpft. »Verdammt, ich hätte den Doc gern hier. Wenn schon nicht als offizielles Mitglied unseres Teams, dann zumindest in beratender Funktion.« Er blickt mich abrupt an. »Übrigens eine weitere Option, die Sie ihm alsbald unterbreiten sollten. Ich gehe davon aus, Sie beide haben dieses Gespräch bisher noch nicht geführt?«

»Nein, Sir. Er war wirklich …«

Ledecky winkt ab. »Jeder andere an seiner Stelle wäre wahrscheinlich bereits vor Stunden einfach umgekippt. Lebensverändernde Entscheidungen fällt man nicht im ausgelaugten Zustand. Wie er nach seiner regulären Schicht auch noch eine in der Notaufnahme dranhängen kann, ist mir schleierhaft. Na, jedenfalls hätte ich ihn gern hier. Er könnte uns vielleicht weiterhelfen.«

»Wobei?«, will ich wissen. Ich nippe an meinem Kaffee – keine Ahnung, wie viele ich heute intus habe – und beuge mich vor, um an Fallon vorbeizuschauen, die manisch auf ihren Laptop hämmert.

»Wäre möglich, dass er einen von diesen Typen hier im Sinai gesehen hat. Die Chance ist gering, schon klar.« Ledecky wühlt weiter in den Akten, während Shaun in einem schwindelerregenden Tempo eine öffnet, durchblättert und wieder schließt, um diese dann an Ledecky weiterzureichen oder auf einen anderen Stapel zu legen. »Wir haben uns alle Fälle kommen lassen, die etwas mit dem Arzneimittelschwarzmarkt zu tun haben. Das LAPD war erschreckend zuvorkommend.« Ledecky deutet über seine Schulter. »Dieser sympathisch wirkende Kerl saß bis vor drei Jahren wegen illegalem Handel mit Betäubungsmitteln in San Quentin ein. Nichts Außergewöhnliches, wenn man bedenkt, dass er der kleine Bruder von Mateo Hernández ist.«

»Mit dem er in San Francisco einige Dealer belieferte, bis beide von ihren Leuten aus der Stadt gejagt wurden«, wirft Louis erklärend ein.

»Muss ich die kennen?«, frage ich. Wahrscheinlich nicht, da Drogenhandel in den Zuständigkeitsbereich der DEA fällt. Die Drug Enforcement Administration , eine dem Justizministerium unterstellte Strafverfolgungsbehörde mit Sitz in Arlington, Virginia.

»Die Brüder haben sich in L.A. niedergelassen und betreiben in South Pasadena eine Tuning-Werkstatt für Edelkarossen«, erklärt Shaun, dessen Augen gleichzeitig über die vor ihm liegenden Akten gleiten. »Trotz Ächtung bleiben sie dem Familiencredo Chillen mit Pillen treu.«

Ich verkneife mir ein Prusten. Shaun kann manchmal erschreckend ironisch sein. Wer ihn nicht kennt, würde es für bare Münze nehmen.

»Kein Wunder«, redet er unbeeindruckt weiter. »Die zwei haben die Dealerei in die Wiege gelegt bekommen. Dummerweise dachten die Idioten, sie könnten ihrer eigenen Familie Konkurrenz machen. Ganz blöde Idee. Sie verschwanden für eine Weile von der Bildfläche und tauchten dann hier auf, um sich als geläuterte Exknackis einen Namen in der Tuning-Szene aufzubauen. Inzwischen sind Gerüchte im Umlauf. Angeblich verkaufen sie alles Mögliche unter dem Ladentisch. Seltsamerweise ist es bisher niemandem gelungen, ihnen etwas nachzuweisen.«

»Wie kommt es, dass du so gut über sie Bescheid weißt?«, hake ich verwundert nach.

»Das musst du wirklich noch fragen?«, murmelt Louis, der wie ich Shaun fasziniert dabei beobachtet, wie er jedes Dokument gründlich unter die Lupe nimmt, indem er in unnatürlicher Schnelligkeit Blatt für Blatt abzuscannen scheint und in seinem Gehirn abspeichert, wo es auf ewig verbleiben wird. »Gott, ich beneide ihn«, höre ich Louis seufzend sagen. »Warum hab ich kein fotografisches Gedächtnis? Das würde so vieles erleichtern.«

»Eidethisch«, verbessert ihn Fallon nebenher und klimpert weiter auf ihrer Tastatur herum. Ein Blick auf ihren Bildschirm verrät mir nur, dass sie auf der Suche nach irgendetwas ist. Permanent öffnen sich Fenster und schließen sich im nächsten Augenblick wieder, um erneut Platz für andere zu machen. Im Hintergrund laufen Zahlenkolonnen von links nach rechts. Wahrscheinlich irgendein Suchalgorithmus.

»Es ist nicht nachgewiesen, dass es das überhaupt gibt«, erklärt Shaun weiterhin auf die Akten konzentriert. »Davon abgesehen, dass sich die Wissenschaftler nicht einigen können, welchen Begriff sie verwenden wollen. Unterm Strich ist beides richtig. Oh, und Louis, du hast kein eidethisches Gedächtnis, weil das rein statistisch unmöglich ist.«

»Ach, na das ist interessant«, murmelt Fallon und schiebt ihren Laptop zu Ledecky. »Schau’n Sie sich das mal an, Sir.«

»Mach’s nicht so spannend. Was hast du gefunden?«, drängt Louis.

»Nicht was, sondern wen«, erklärt Fallon mit einem selbstzufriedenen Grinsen. Ihre Augenbrauen wandern in die Höhe und sie sieht mich fragend an.

»Himmel, Fallon, spann mich nicht auf die Folter.«

»Sie kann die größte Nervensäge auf diesem Planeten sein«, murmelt Louis, der sich daraufhin einen stechenden Blick von ihr einfängt.

»Im bekannten Universum wolltest du sagen«, berichtigt ihn Shaun.

»Faszinierend«, wiederholt Ledecky.

Louis hängt dem Chief nahezu über der Schulter, als er die geheimnisumwobenen Informationen ansieht. Sein Blick hebt sich langsam und er schaut nun mich seltsam an. Oder besser gesagt, genauso fragend wie Fallon zuvor.

»Okay, Leute, was steht da, verdammt noch mal?!«

Ich will gerade aufspringen, als mich Ledecky mit einer Handbewegung davon abhält und fragt: »Sie haben doch noch Kontakt zu Vega, richtig?«

Ich sinke verwirrt gegen die Stuhllehne. »Bitte?«

Fallon sieht mich selbstzufrieden an. »Ich habe einen kleinen virtuellen Abstecher bei unseren Freunden von der DEA eingelegt und bin auf einen internen Bericht gestoßen, laut dem sie mit Hilfe von Bailey & Vega Security einen gewissen Hektor Hernández hochgenommen haben.« Sie deutet in Richtung Wand auf den Monitor. »Der Onkel unseres Freundes hier.«

»Ja und?«, frage ich verständnislos.

Fallon verzieht das Gesicht und legt eine Hand demonstrativ auf eine Akte neben sich.

Ich mache einen langen Hals und versuche die Aufschrift zu entziffern. »Das ist Thompsons«, stelle ich verwirrt fest.

»Ja, der Fall, der von Gardner eröffnet und geschlossen wurde. Ebenso wie einige weitere Fälle, die – Trommelwirbel bitte – in Verbindung mit Mateo und Miguel Hernández stehen.«

»Sagst du gerade, dass Gardner korrupt war?«

»Wenn man das große Ganze betrachtet und alles in Beziehung stellt, ergibt sich ein Bild, das mir nicht gefällt«, verkündet Ledecky angesäuert.

Ich denke einen Moment darüber nach und muss Ledecky recht geben. »Lasst uns die Sache durchspielen. Die Hernández-Brüder suchen sich also jemanden beim LAPD, der ihnen den Rücken freihält. Das ist Gardner. So weit, so gut.« Ich schaue zu Louis. »Das erklärt, warum sie so seltsam brav wirken. Bloß wie passt Sharon ins Bild? Und was ist mit Thompson?«

Louis lehnt sich mit verschränkten Armen gegen das Sideboard, auf dem die Kaffeemaschine steht. »Gute Frage.«

Es ist Shaun, der erneut aus dem Nähkästchen der Brüder plaudert. »Mateo und Miguel wollten schon immer ihr eigenes Ding durchziehen. Das ist hinreichend bekannt. Nachdem ihr Onkel sie aus der Stadt gejagt hat, mussten sie sich also neu orientieren, wenn man so will. Eine neue Quelle auftun, verstehst du?«

»Du meinst, sie beschaffen sich das Zeug aus dem Sinai«, schlussfolgere ich. »Nun ja, wir wissen nicht, wie viel wirklich verschwunden ist, aber dennoch wird es nicht so viel sein, um damit verlässlich den Schwarzmarkt bedienen zu können. Denn wenn dem so wäre, hätte es doch schon längst jemand bemerkt.«

»Dann haben sie eben mehr als eine Quelle«, brummt Fallon.

»Möglich.«

»Und um nicht persönlich durch die Gänge schleichen zu müssen …«

»Suchen sie sich einen armen Tropf, der das für sie übernimmt«, spinnt Louis den Faden weiter.

»Jemanden wie Sharon, die im Grunde zu allem Zugang hat«, führe ich aus. »Aber wieso sollte sie sich auf so etwas einlassen?«

»Erpressung«, wirft Fallon ein.

»Meinst du?«

Sie zuckt die Schultern. »Ist das nicht naheliegend? Du hast doch erzählt, der Doc hätte gemeint, sie würde ihre Familie über alles lieben, richtig?«

»Ja?«

»Und wir wissen, dass Gardner ihr Bruder ist. Ergo …«

»Das halte ich für plausibel«, mischt sich Ledecky ein.

»Soll heißen, sie hat Medikamente gestohlen, um ihre Familie zu schützen? Dann fielen Thompson Ungereimtheiten auf und er meldete das? Ausgerechnet bei Gardner? Das ist doch ein sehr großer Zufall, findet ihr nicht?«, gebe ich zu bedenken.

»Vielleicht hat Thompson mit Sharon darüber gesprochen und ihr gesagt, dass er es anzeigen will«, sinniert Shaun. »Sie könnte ihm den Tipp gegeben haben, zu ihrem Bruder zu gehen.«

»Und warum sollte Sharon Sal davon erzählen? Sie hat ihn ja geradezu mit der Nase darauf gestoßen«, werfe ich ein.

»Na ja, sie könnte sich nichts dabei gedacht haben. Warum auch? Woher sollte sie wissen, dass er Verdacht schöpft? Es gäbe da allerdings noch eine Erklärung. Was wäre, wenn sie wirklich darin verwickelt ist und die Nase voll hat? Vielleicht will sie der Sache ein Ende bereiten«, erklärt Fallon.

»Das könnte sein«, stimme ich ihr zu. »Sal meinte, als Sharon über Roger sprach, wirkte sie untröstlich.«

»Ach komm schon. Das wäre ich auch, wenn ich für jemandes Tod verantwortlich wäre«, stellt Fallon trocken fest.

»Das ist nicht bewiesen«, entgegnet Ledecky.

»Stimmt«, pflichte ich ihm bei. »Okay, Gardner schließt die Akte und verschwindet, nachdem Thompson Suizid begangen hat. Warum sollte Sharon weiterhin für die Hernández-Brüder arbeiten?«

»Du sagst es doch. Gardner ist weg. Es ist also niemand mehr da, der ihnen gefährlich werden könnte. Sie setzen Sharon weiterhin unter Druck. Vielleicht drohen sie, ihren Kindern oder ihrem Mann etwas anzutun, wer weiß das schon. Vielleicht gibt es auch einen anderen Grund.«

»Unsere Arbeitstheorie in allen Ehren, aber wir treten auf der Stelle. Und da Sharon nicht ansprechbar ist, müssen wir uns jemanden suchen, der uns weiterhelfen könnte. Und zwar den ehemaligen Supervisory Special Agent Jeremy Vega.« Ledecky sieht mich an. »Der, wie wir wissen, ihr Chief war, bevor er in die freie Wirtschaft wechselte, um Kunstmuseen zu beraten. Und da kommen Sie ins Spiel, Bobby. Ich will, dass Sie ihn treffen und alles über den Onkel, diesen Hektor Hernández, herausfinden. Vegas Firma hat inzwischen die Fühler in alle Richtungen ausgestreckt, was in ihrem Metier unverzichtbar ist. Er wird uns womöglich wertvolle Hinweise geben können.«

»Er berät Kunstmuseen?«, wundert sich Fallon. »Ich dachte, die sichern irgendwelche Anwesen von stinkreichen Typen ab.«

»So ganz unrecht hast du nicht. Sie sind spezialisiert auf Schließ- und Überwachungssysteme sowie Cybersicherheit. Allerdings war ihr erster großer Auftrag das Museum of Modern Art«, spult Shaun die Informationen ab.

»Und wie kommt’s, dass sie mit der DEA zusammengearbeitet haben?«, will Louis wissen.

»Wie gesagt, sie betreuen außer dem MoMA weitere Kunden, wohl auch einige Anwesen der Familie Hernández«, berichtet Ledecky.

»Das lässt Vega nicht sehr sympathisch dastehen«, murrt Fallon. »Wie kann er als ehemaliger FBI-Agent für derartige Verbrecher arbeiten?«

»Vega würde nie etwas tun, das gegen das Gesetz verstößt«, nehme ich ihn reflexartig in Schutz.

»Richtig«, bestätigt Ledecky. »Er und Bailey haben für die DEA die Vorarbeit geleistet. Er hat für diese Aktion sogar den Ruf seiner Firma aufs Spiel gesetzt. Er hatte über Monate Kontakt zu Hernández und verfügt womöglich über Informationen, die uns weiterhelfen können.«

»Die DEA wird nicht erfreut sein, wenn sie erfährt, dass wir in ihrem Teich fischen gehen«, wirft Louis ein.

»Daher der Umweg über Vega. Ich will den Fall bei uns behalten. Schon allein wegen Bonasera. Sobald wir die DEA kontaktieren, war’s das für uns.«

In mir sträubt sich alles. Ja, zwischen Jeremy und mir hat sich eine Freundschaft entwickelt. Doch die habe ich seit Monaten vernachlässigt. Hin und wieder zu telefonieren ist eine Sache, ihm leibhaftig gegenüberzustehen eine andere. Denn dazu müsste ich nach San Francisco. Nur daran zu denken, schwemmt all die unschönen Dinge an die Oberfläche. Dennoch wurde Jeremy nicht müde, mich bei jeder Gelegenheit zu fragen, wann ich endlich den Arsch hochkriegen würde und sie besuchen käme.

»Sorry, Chief. Ich kann das nicht.« Ich bin ein verdammter Feigling.

»Tut mir leid, Bobby, aber ich verspreche mir zu viel von Vega und Sie sind genau der Richtige, um mit ihm zu reden. Behördenübergreifende Zusammenarbeit mit der DEA? Ein schöner, wenn auch unrealistischer Traum. Mir ist schleierhaft, wie Vega das vollbracht hat, ohne wahnsinnig zu werden.«

»Warum rufen Sie ihn nicht an, Sir?«, greife ich nach dem letzten Strohhalm.

Ledecky lächelt mich verständnisvoll und doch mit einem Hauch Durchtriebenheit an. »Das könnte ich natürlich tun. Aber ich möchte, dass Sie das übernehmen, wie gesagt persönlich.«

Ich starre Ledecky fassungslos an. Und plötzlich raffe ich es. Er zwingt mich nach San Francisco, um endlich mit allem abzuschließen, einen sauberen, wie auch immer gearteten Schlussstrich unter meine Vergangenheit zu ziehen. Ich mustere meine Kollegen, einen nach dem anderen. Louis steht immer noch hinter Ledecky und lächelt mich aufmunternd an, sagt jedoch kein einziges Wort.

Shaun beugt sich über den Tisch und legt seine Hand auf meinen Arm. Als ich ihm einen Blick zuwerfe, bietet er mir trotz Ledeckys Anweisung an: »Ich kann das übernehmen.«

Ich schlucke meine aufwallenden Emotionen runter. Nein, ich bin kein Feigling. Wenn ich hier in L.A. ein neues Zuhause und Freunde finden will, muss ich meine Vergangenheit endlich hinter mir lassen. Dazu gehört nicht nur, mich Jeremy, oder besser gesagt, San Francisco zu stellen, sondern auch Sal reinen Wein einzuschenken. Ich atme tief durch und schüttle den Kopf. »Danke, Shaun. Ich weiß dein Angebot wirklich zu schätzen. Doch der Chief hat recht. Das ist etwas, das ich tun muss.«

»Reicht es nicht, wenn wir Vega anrufen?«, will Fallon mit verwirrter Miene wissen. Sie blinzelt ein paar Mal, bis sich ihre Augen auf uns fokussieren. Offensichtlich war sie erneut in ihrer Suche nach wer weiß was versunken und hat bloß die Hälfte mitbekommen.

Louis steht plötzlich hinter mir und seine Hände massieren sanft meine Schultern. »Hier geht’s nicht nur um den Fall.«

Ich atme abermals tief durch, bevor ich zu Fallon sage: »Ich habe in San Francisco noch etwas zu Ende zu bringen.«

Fallon sieht Louis vorwurfsvoll an. »Du weißt, worum’s hier geht?«

Louis drückt ein letztes Mal Mut machend meine Schultern, ehe er sich neben mich setzt. »Mobbing, um es mit einem Wort zu umschreiben.«

Ich werfe Ledecky einen bösen Blick zu.

»Nicht erschießen«, entgegnet er mit erhobenen Händen. »Ich habe mit niemandem über Sie geredet.«

Mein Blick wandert zu Shaun, der nachdrücklich den Kopf schüttelt. »Sieh mich nicht so an. Ich hau doch meinen Partner nicht in die Pfanne.« Ich schenke ihm ein entschuldigendes Lächeln, woraufhin er abwinkt und hoheitsvoll meint: »Ich vergebe dir, Kumpel.«

Ich schnaube amüsiert und wende mich Louis zu, der sofort das Wort ergreift. »Ich bin Profiler. Schon vergessen? Ich studiere und analysiere jeden um mich herum. Ich kann das nicht so einfach abstellen. Und ich habe gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen.« Er seufzt und sieht mich schuldbewusst an. »Und na ja, um meine Erkenntnisse zu verifizieren, habe ich vielleicht ein paar Erkundigungen eingeholt. Natürlich nur bei vertrauenswürdigen Leuten, die mir nie und erst recht nicht meinen Freunden in den Rücken fallen würden. Also ja, ich kenne deine Geschichte. Und wenn du einverstanden bist, bringe ich Fallon nachher auf den neusten Stand.«

Ich bin hin- und hergerissen. Einerseits wärmt es mir das Herz, zu hören, dass Louis mich zu seinen Freunden zählt, andererseits würde ich ihm gern für die Dreistigkeit, über mich Informationen ohne mein Einverständnis einzuholen, den Hals umdrehen. Ich entscheide mich dagegen und vergebe ihm. »Ist okay. Und ja, Fallon kann ruhig alles erfahren.«

»Ich fühle mich jetzt nicht sehr geschätzt«, nörgelt Fallon. »Wieso bin ich wieder die Letzte, die alles erfährt?«

Louis lacht und wirft ihr einen Handkuss zu. »Sorry, Schätzchen. Als Entschuldigung darfst du dir was aussuchen, oder ich lasse dich am Montag beim Dart gewinnen.«

Sie grinst ihn fies an. »Ich habe eine bessere Idee. Ich brauche einen Begleiter für nächsten Freitag.«

»Begleiter?«, wiederholt Louis drei Oktaven höher, während ihm seine Augen nahezu aus dem Kopf ploppen.

»Nichts Dramatisches. Nur ein Cocktailabend bei Francine.«

Louis sinkt in sich zusammen. »Du willst mich auf eine dieser Partys deiner Schwester zerren? So schlimm war’s nun auch wieder nicht, dass ich dir nichts gesagt habe. Warum musst du mich derart bestrafen?«

»Ich weiß gar nicht, was Sie haben, Louis. Francines Partys sind legendär«, mischt sich Ledecky ein.

»Da schwirrt nur die Crème de la Crème aus Hollywood herum. Ich hasse diese arroganten und aufgetakelten Schnösel.« Er wendet sich sofort Fallon zu. »Was nicht bedeutet, ich würde dich nicht sehr gern begleiten.« Das klingt so heuchlerisch, dass Ledecky, Shaun und ich lachen müssen.

Fallon beugt sich an mir vorbei und tätschelt Louis’ Wange. »Du weißt, sie liebt dich. Francine wäre bestimmt traurig, wenn sie erfahren würde, dass du ihre Zwillingsschwester der Ahnungslosigkeit überlässt.«

»Das würdest du nicht tun. Sag mir, dass du das nicht vorhast.«

»Doch.«

»Das kannst du nicht machen.«

»Doch.«

»Also gut. Zurück zum Thema«, unterbricht Ledecky. »Bevor wir uns zusammensetzten, habe ich im Krankenhaus angerufen. Sharon, also Mrs Phelps’ Zustand ist weiterhin unverändert.«

»Wer kümmert sich eigentlich um ihre Sicherheit, wenn Shaun hier ist?«, fällt mir schlagartig ein.

»Ich habe zwei unserer Leute abgestellt, die auf sie aufpassen«, entgegnet Ledecky. »Sowie sich ihr Gesundheitszustand verändert, bekomme ich Bescheid. Ich hoffe wirklich, sie erholt sich wieder. Sie würde uns sicher einige interessante Antworten liefern. Aber gut, uns bleibt fürs Erste bloß abzuwarten. Ach ja, ich habe auch jemanden zum Haus der Phelps’ geschickt, um ihre Familie im Auge zu behalten. Ihr Mann ist natürlich außer sich vor Sorge, hält sich aber gut. Vor allem vor den Kindern. Fallon, Sie durchforsten weiterhin das Darknet. Vielleicht ergibt sich etwas, das sich lohnt, genauer unter die Lupe genommen zu werden. Louis, Sie und ich unterhalten uns mit Mateo und Miguel Hernández, sobald unsere Kollegen vom LAPD die zwei herchauffiert haben. Shaun, ich möchte, dass Sie Robert begleiten. Ich erwarte von euch allen, auf dem Laufenden gehalten zu werden.«

Ich fasse einen Entschluss. »Ich reise allein nach San Francisco, Sir. Ich möchte, dass Shaun ein Auge auf Doktor Bonasera hat.« Schutz, den ich eigentlich selbst übernehmen wollte.

»Wie Sie meinen«, kommt mir Ledecky entgegen.

»Danke. Ich fahre nur schnell nach Hause und mache mich dann auf den Weg.«

»Sie wollen heute noch los?«, erkundigt sich Ledecky erstaunt.

»Ja. So könnte ich morgen früh mit Jeremy reden und am Abend zurück sein.«

»Sie wissen aber schon, dass es Linienflüge gibt, oder? Wir könnten Ihnen ein Ticket für die nächste Maschine buchen.«

»Am Wochenende sind die Flüge größtenteils ausgebucht. Das wissen Sie doch. Es wäre möglich, dass ich erst morgen Abend fliegen kann.«

»Nun gut. Wenn Sie merken, dass Sie müde werden, nehmen Sie sich ein Zimmer. Ich will nicht, dass Sie einen Unfall bauen, verstanden?«

»Ich könnte Francine fragen, ob sie uns ihren Firmenjet ausleiht«, bietet Fallon überraschenderweise an. »Wenn ich mich nicht irre, steht der eh die nächsten Tage rum, weil sie mit den Vorbereitungen ihrer Party beschäftigt ist.«

»Deine Schwester besitzt ein Flugzeug?«, platzt es mir heraus.

»Ihre Firma.« Fallon runzelt die Stirn, ehe sie fortfährt: »Die ihr gehört. Also ja, irgendwie gehört es ihr. Ist das wichtig?«

»Nein.« Aber es wäre absolut perfekt. So könnte ich früh genug zurück sein und mit Sal zu seiner Familie fahren – um dort auf seine Schwester zu treffen, die mich höchstwahrscheinlich gleich wieder vor die Tür setzt. Woraufhin Sal nie wieder ein Wort mit mir reden wird. Gott, das muss ich unbedingt regeln. Ich schaue Ledecky fragend an.

Der zuckt die Schultern. »Klärt das unter euch. Solange die Spesenabrechnung nicht unser Budget sprengt, ist mir wurscht, ob ihr mit Rollschuhen oder Learjet von A nach B kommt.«

»Kein Learjet, sondern eine Cessna Citation X+«, berichtigt ihn Shaun.

Ledecky stöhnt. »Das war doch nur so dahingesagt.«

»Chief, da gibt’s exorbitante Unterschiede. Die Citation X+ erreicht beinah Mach 1. Im Vergleich dazu ist die Bombardier eine Schnecke. Und …«

»Serkis, halten Sie die Klappe!«, stoppt ihn Ledecky.

Shaun klappt mürrisch den Mund zu und beißt die Zähne so fest zusammen, dass seine Wangenmuskeln zucken. Wahrscheinlich kann ich mir bei der nächstbesten Gelegenheit anhören, was er noch alles über Jets weiß.

»Dann wären wir hier fertig.« Ledecky erhebt sich und schiebt Shaun die Akten rüber, der ihm daraufhin einen seltsamen Blick zuwirft. »Jetzt gucken Sie nicht so konsterniert. Ich würde Ihnen ja unheimlich gern beim Sortieren helfen, aber ich weiß, dass ich es eh nicht richtig mache.«

Shauns Miene ist zum Schießen. Dennoch fängt er sofort an, die Unterlagen fein säuberlich zusammenzusuchen und kleine Stapel vor sich zu bilden.

»Wann soll’s losgehen?«, erkundigt sich Fallon.

Ich werfe einen Blick auf die Uhr. »Wie gesagt, ich muss noch mal kurz zu mir. Aber ich könnte in anderthalb Stunden am Flughafen sein.«

»In Ordnung. Ich rufe gleich Franny an.«

Ich schenke ihr ein aufrichtiges Lächeln. »Danke, Fallon.«

»Ach was. Mach ich doch gern und Franny auch.« Sie klappt ihren Laptop zu, klemmt ihn sich unter den Arm und folgt Louis und Ledecky, die zuvor das Zimmer verlassen haben.

Shaun blickt von seinem Aktenberg auf. »Ich soll also deinen Doc im Auge behalten, hm? Wie hast du dir das vorgestellt? Soll ich ihn vom Auto aus observieren oder mich auf seiner Couch häuslich einrichten?« Ein schiefes Grinsen folgt seinen vor Ironie triefenden Worten.

»Sei kein Idiot.«

»Na ja, ich muss doch wissen, ob du damit einverstanden bist, wenn ich hilfreich an sein Bett eile, sollten ihn Albträume plagen.«

Ich erhebe mich bedrohlich, beuge mich zu ihm rüber und stütze mich mit meinen Händen auf dem Tisch ab. »Lass deine Finger von ihm«, warne ich ihn leise. Ich richte mich wieder auf, als er mich mit einem noch breiteren Grinsen anstarrt und seine Augenbrauen auf und ab hüpfen lässt. Ich schnaube und lasse mich in den Stuhl fallen. »Du siehst aus, als leidest du unter Krämpfen. Kann ich dir Alka Seltzer bringen? Soll gegen Sodbrennen helfen.«

»Touché!«, prustet Shaun. Innerhalb eines Wimpernschlags wechselt er in einen bitterernsten Modus. »Ich werde ihn beschützen, das weißt du, oder?«

»Ja. Sonst hätte ich dich nicht gebeten, sondern es selbst getan. Sollte ich nicht rechtzeitig zurück sein, Sal hat morgen Spätschicht und braucht eine Mitfahrgelegenheit. Sein Auto steht noch am Krankenhaus.«

»Soll ich ihm Bescheid geben oder redest du mit ihm?«

»Lass mich das machen.«

»In Ordnung. Schreib mir einen Text, sobald du das erledigt hast, dann setze ich mich mit ihm in Verbindung und kläre den Rest.« Er hebt besänftigend die Hände. »Und ich verspreche hoch und heilig, ihm nicht zu nahe zu kommen.«

»Das ist extrem nett von dir. Danke«, erwidere ich spitzzüngig.

Fallon schwebt elegant um die Ecke, ihr Handy am Ohr. »Alles klar, Süße. Ich richte es ihm aus. Und danke noch mal. Ach ja, wegen Freitag. Ich bringe Louis mit. Das geht doch in Ordnung, oder?« Sie sieht mich an, bedeutet mir mit erhobenem Zeigefinger kurz zu warten, und lacht ausgelassen. »Das werde ich ihm ganz sicher nicht ausrichten. Aber keine Bange, ich sorge dafür, dass er dem Dresscode entsprechend gekleidet erscheint. Ja, bis dann.« Sie legt auf und wendet sich mir zu. »Franny gibt ihren Piloten Bescheid. Sie meint, du sollst dich gegen halb zehn am Flughafen einfinden. Schneller geht’s nicht. Sie muss erst ihre Leute aus dem Wochenende holen und Flugpläne müssen eingereicht und genehmigt werden.«

»Wow, dass sie das für mich tut, ist toll. Danke.«

Sie tippt auf dem Display ihres Handys herum und in der nächsten Sekunde summt es in meiner Hosentasche. »Weitere Infos habe ich dir gerade geschickt«, erklärt Fallon, um sich gleich wieder von dannen zu machen und zu rufen: »Guten Flug.«

Ich wende mich Shaun zu, der auf seine Armbanduhr schaut und in einem seltsam endgültigen Tonfall meint: »Du hast dreieinhalb Stunden. Genug Zeit, um alles zu klären.«

»Was genau meinst du damit?«

»Ich denke, das weißt du. Jetzt hau schon ab.«

Als ich im Auto sitze, mich anschnalle und den Motor starte, grüble ich immer noch über Shauns Worte nach – und finde, dass er recht hat. Ich muss mit Sal reinen Tisch machen.

Niemand hätte mich auf das vorbereiten können, was auf mich zukommt.