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- SALVATORE -

D ie Tür steht sperrangelweit offen, der Schließmechanismus scheint ruiniert. In meinem Wohnzimmer schläft ein Mann den Schlaf der Gerechten, der noch vor Kurzem mit der Waffe vor unseren Nasen herumgefuchtelt hat. Ob gerecht oder nicht, wird sich herausstellen. Die Sache mit meiner Schwester nicht zu vergessen. Und dann war da das Geständnis von Bobby, also die Sache in San Francisco, was wirklich schlimm für ihn gewesen sein muss. Dennoch kann ich nur an die Worte am Schluss denken. Er hat die Zeit mit mir genossen und wünscht sich mehr? Bei Gott, ich auch.

Jedenfalls sollte mich all das ernsthaft zum Nachdenken bringen. Tut es aber nicht. Na ja, ein bisschen, bloß nicht so, wie ich es erwartet hätte. Im Gegenteil, ich fand, wir haben ein überraschend gutes Team abgegeben, als wir vor Gardner eine Show abgezogen haben. Um ehrlich zu sein, hat mir das sogar Spaß gemacht. Verrückt? Kann schon sein.

Wie dem auch sei, trotz dem, was in der vergangenen Stunde – schätzungsweise – passiert ist, habe ich ständig Bobbys Lächeln vor Augen.

Ich will ihn küssen, meine Finger in seinen Nacken krallen und ihn mit Haut und Haaren verschlingen, bis er um mehr bettelt. Ich will ihm mein Zeichen aufdrücken, um aller Welt zu zeigen, dass dieser Mann vom Markt ist, weil er verdammt noch mal mir gehört. Wenn man genauer darüber nachdenkt, ist das schon ziemlich starker Tobak. Schließlich ist es nicht mal eine Woche her, als ich ihn noch am liebsten von hinten gesehen habe. Okay, das hat sich nicht wirklich geändert, eigentlich nur die Motivation dahinter. Was? Er hat einen tollen Arsch, soweit ich das beurteilen kann.

All das lässt mich jedoch nicht derart wegtreten, als dass ich mich nicht beherrschen könnte. Für den Moment jedenfalls. Also beuge ich mich vor und küsse ihn lediglich sanft auf den Mund, um sofort wieder Abstand zu gewinnen. Ich muss vermeiden, dass er mich packt und den Kuss erwidert, vielleicht sogar vertieft. Das wäre es dann bezüglich stählerner Selbstbeherrschung.

»Der muss fürs Erste langen«, erkläre ich und schlendere ins Wohnzimmer, während mir ein sehnsüchtig seufzender Bobby folgt. Ich kann mir mein zufriedenes Grinsen nicht verkneifen.

So huschen wir zur Couch und bleiben wie zwei stolze Elternteile, die ihrem Baby beim Schlafen zusehen, hinter der Lehne stehen. Völlig irre.

»Er schläft tatsächlich tief und fest«, flüstert Bobby. »Hast du ihm was gegeben?«

»Nein. Ich denke, er stand dermaßen unter Adrenalin, dass es ihn jetzt einfach ausgeknockt hat. Und wenn ich mir seinen Gesundheits- und Allgemeinzustand ansehe, hat er ein paar harte Monate hinter sich. Der Mann weist Anzeichen von Mangelernährung auf. Sieh dir nur seine Fingernägel an. Fallen dir die Verfärbungen auf?«

»Was ist damit?«

»Ihm fehlen Vitalstoffe wie Vitamine, Mineralstoffe, Spurenelemente und ungesättigte Fettsäuren. Das erklärt auch, dass ihm seine Hose um mindestens zwei Nummern zu groß ist. Siehst du, dass der Gürtel stümperhaft enger gemacht wurde?«

»Er wirkt beinahe bedauernswert.«

»Genau. Ihm muss übel mitgespielt worden sein.«

Schritte im Flur lassen uns herumwirbeln. Bobby zieht sofort wieder seine Waffe und schiebt mich hinter sich, während er in Stellung geht.

»Ich bin’s«, meldet sich Shaun an, bevor er ins Wohnzimmer tritt und uns sieht. Er deutet mit dem Daumen über seine Schulter. »Da hat aber jemand ganze Arbeit geleistet. Geht’s euch beiden gut?«

Bobby steckt die Waffe weg. Meine Hand liegt auf seiner Seite und ich spüre nicht nur seine verführerische Wärme durch das Shirt sickern, sondern auch, wie er sich entspannt. Ich schaue an seinem Kopf vorbei und begrüße Shaun: »Willkommen in Absurdistan. Und ja, uns geht’s gut.« Vielleicht sollte es sich lächerlich anfühlen, von Bobby schon das zweite Mal wie ein hilfloses Prinzesschen schützend hinter ihn geschoben worden zu sein. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Ich mag seinen Beschützerinstinkt und fühle mich dadurch geschätzt – wie etwas Besonderes. Obwohl mein Verstand mir sagt, dass er das für jeden tun würde, der in Gefahr ist.

Shaun schnaubt. »Absurdistan trifft es wohl.« Er schaut um uns herum. »Sagt nicht, der Kerl schläft.«

»Adrenalin«, erklärt Bobby schulterzuckend und sehr leise, um Gardner nicht zu wecken.

»Ah, macht Sinn«, fährt Shaun ebenfalls leise fort. »Sal, du solltest deine Tür richten lassen. Ich wollte sie schließen, aber das ist im Moment ein aussichtsloses Unterfangen.«

»Oh, Mist, ich hatte es befürchtet.«

»Bevor du Gardner zu Ledecky bringst … Deswegen bist du ja hier, oder?«, richtet Bobby an Shaun.

»Genau.« Er holt eine Paar Handschellen aus seiner Gesäßtasche.

Auf die Handschellen deutend schüttle ich den Kopf. »Können wir einen Moment damit warten? Ich würde gern mit ihm reden.« Shaun mustert mich, als hätte ich den Verstand verloren. »Ich muss es wissen«, erkläre ich flehend.

»Wieso ich wie ein totaler Narr in Ihr Haus eingebrochen bin?«, fragt Gardner mit belegter Stimme.

Überrascht wenden wir uns dem Mann zu. Während dieser sich ächzend in eine sitzende Position hochkämpft, suchen wir uns jeder einen Platz. Ich falle in den Sessel, Bobby sinkt auf dessen Armlehne, von der er sofort wieder aufspringt, nach hinten greift, Gardners Waffe und Magazin hervorholt, diese zusammensetzt und kommentarlos Shaun überreicht.

Der verfrachtet das Ding in seine Jackentasche und lehnt sich anschließend mit dem Allerwertesten gegen das Sideboard, auf dem mein Fernseher steht. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und nickt Gardner auffordernd zu. »Sie haben fünf Minuten. Ich bin übrigens …«

»Ich weiß, wer Sie sind, Agent Shaun Serkis.« Gardner verzieht den Mund zu einem müden Lächeln.

»Gut, dann wissen Sie sicher auch, dass mein Partner« – er deutet auf Bobby – »und ich keine Sperenzchen dulden. Wir sehen nur davon ab, Ihnen ein hübsches Armband zu verpassen, weil unser Doc uns darum gebeten hat. Also? Was haben Sie zu sagen?«

Gardners Blick huscht von Shaun zu Bobby und bleibt schließlich bei mir hängen. »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Und ich weiß, meine Erklärung erscheint dürftig. Mir sind schlicht und ergreifend die Sicherungen durchgebrannt, als ich erfahren habe, dass Sharon im Krankenhaus liegt. Ich bin nicht grundlos abgetaucht, wissen Sie. Ich wollte meine Familie schützen.«

»Sie wollten Ihre Familie beschützen?«, schnaubt Shaun. »Das fällt mir schwer zu glauben, Mister.«

»Shaun«, geht Bobby dazwischen. »Lass ihn ausreden.«

Shaun presst muffelig seine Lippen aufeinander, nickt aber. »Also gut.« Er wendet sich Gardner zu. »Sie waren Cop, dennoch werde ich Ihnen jetzt Ihre Rechte verlesen.« Genau das tut Shaun dann auch. Nachdem Gardner die Frage, ob er alles verstanden hätte, mit einem Nicken bestätigt, fährt Shaun fort: »Ihnen ist hoffentlich klar, dass Sie, egal was Sie jetzt sagen, nichts davor rettet, mitzukommen und vernommen zu werden. Und zwar von einem unserer Verhörspezialisten. Ich habe ein gutes Gedächtnis und werde alles, was jetzt aus ihrem Mund kommt, mit dem abgleichen, was Sie später zu Protokoll geben. Und sollte auch nur der geringste Verdacht aufkommen, dass Sie …« Ich beuge mich zu ihm rüber und umfasse Shauns Unterarm, was mir sofort seine ungeteilte Aufmerksamkeit sichert. »Was?«

»Ich denke, das ist ihm klar.« Ich lächle Shaun dankbar an. »Ich weiß es dennoch zu schätzen, dass du dich für mich einsetzt. Also danke.« Daraufhin schaue ich zu Gardner und nicke diesem ermutigend zu.

»Sie sind ein guter Mann, Doc. Ich erzähle Ihnen alles. Auch wenn Sie mir nach dem, was ich gerade getan habe, nicht glauben werden.« Er wirft Shaun einen spitzen Blick zu, ehe er nachdrücklich anfügt: »Freiwillig. Und ich werde die volle Wahrheit sagen. Mir ist klar, dass ich für lange Zeit hinter Gittern komme. Aber ich will, dass Sie verstehen, wieso ich gehandelt habe, wie ich es tat.« Mason greift zu einem Glas Eistee, das ich ihm vorhin hingestellt habe, und nimmt einen tiefen Schluck, bevor er seufzend gegen die Couchlehne sinkt. »Vor vier Jahren steckte ich bis zum Hals in Spielschulden. Ich wusste nicht, wie ich den nächsten Tag überleben sollte. Also wendete ich mich an einen Mann, der unter der Hand Barkredite vergibt.«

»Kredithai«, wirft Bobby ein.

»Richtig.« Ein beschämtes Lächeln huscht über Masons Gesicht. »Es kam, wie es kommen musste, ich verspielte alles, bis auf den letzten Cent. Na ja, lange Rede, kurzer Sinn, man bestand darauf, dass ich meine Schulden abarbeitete. Sie können sich inzwischen bestimmt denken, wie. Ich half gewissen Kleinkriminellen und diversen Besitzern von illegalen Wettbüros, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Ja, ich wusste, was ich tat. Damals sah ich es als einzigen Ausweg. Heute schäme ich mich dafür. Zumal ich meine Familie in Gefahr gebracht habe. Das ist kein Heischen nach Mitleid. Es ist, wie es ist. Und ich bin bereit, die Konsequenzen zu tragen.« Er atmet tief durch. »Jedenfalls tauchten vor gut drei Jahren zwei Typen bei mir auf. Die Hernández-Brüder. Sie setzten mich darüber in Kenntnis, dass sie meine Schulden bei besagtem Geldgeber beglichen hätten und ich den Rest bei ihnen abzahlen müsste. Zu diesem Zeitpunkt erfuhr ich, dass Sharon eine illegale Anlaufstelle für Obdachlose in Downtown betreibt. Sie hat sich vor Jahren ein altes Wohnmobil besorgt und fährt seitdem jeden dritten Tag durch Skid Row, um die Leute medizinisch zu versorgen. Ich flehte sie an aufzuhören, bevor sie auffliegt und ich nichts mehr für sie tun könne. Doch es war bereits zu spät. Die Hernández-Brüder hatten sie längst aufgespürt und erpressten uns gegenseitig damit, den jeweils anderen ans Messer zu liefern. Sie boten ihr an, sollte sie Stillschweigen bewahren, könne sie ihre Praxis behalten. Doch das war nicht alles. Sie verlangten, dass sie einen regelmäßigen Obolus in Form von Opioiden abliefert.«

»Mein Gott, dann hat Sharon die Medikamente gestohlen, um Bedürftige zu versorgen?«, stelle ich erschüttert und zugleich bewundernd fest. »Deshalb hat sie auch nicht gekündigt.«

»Ja und nein. Ja, sie hat Bedürftige unterstützt und nein, sie ist im Sinai geblieben, weil sie dem Krankenhaus loyal ergeben ist, obwohl sie es gehasst hat, dass das Missmanagement auf den Rücken der Patienten und Pfleger ausgetragen wird.«

»Was ist mit Thompson?«, wirft Bobby ein.

Mason seufzt und schüttelt traurig den Kopf. »Der arme Kerl. Sharon schickte ihn zu mir. Wir wollten so nicht mehr weitermachen und waren uns einig, dass all das ein Ende haben muss. Kurz nachdem er bei mir war, tauchten die Brüder auf und drohten, Sharons Familie etwas anzutun, sollte ich die Akte nicht sofort verschwinden lassen. Ich tat es, weil ich Angst um meine Familie hatte. Es ist erbärmlich, ich weiß. Ich hatte aber keine Wahl. Mir wurde klar, dass sie nur davon erfahren konnten, weil sie außer mir noch jemanden im Department hatten, der Informationen über mich weitergab. Das war der Moment, als ich untertauchte, um auf eigene Faust gegen die Brüder zu ermitteln.«

»Sie wollen uns verarschen, oder?«, spuckt Shaun aus.

»Nein. Ich habe tatsächlich die vergangenen drei Jahre damit zugebracht, sie zu beschatten. Bis vor ein paar Tagen konnte ich ihnen nichts nachweisen. Ich bin aber überzeugt, dass sie Roger Thompson ermordet haben. Inzwischen verfüge ich jedoch über Beweise für andere Tätigkeitsfelder der Brüder.«

»Tja, jetzt wird mir klar, warum Sie plötzlich trällern wie ein Vögelchen in der Balz. Sie wollen als Kronzeuge aussagen und so Ihren Arsch retten«, hält Bobby ihm vor.

Gardner lacht schroff. »Natürlich müssen Sie das denken, Agent. Und das nehme ich Ihnen wirklich nicht übel.«

»Als würde meinen Partner interessieren, was Sie von ihm halten«, murmelt Shaun.

»Aber das ist nicht der Fall. Genau wie meine Schwester will ich einfach nur, dass all das ein Ende hat. Mir ist bewusst, was ich getan habe, und ich werde meine Strafe absitzen.«

»Warum hat Sharon mich ausgesucht?«, will ich wissen. »Sie hätte doch Shaun darauf stoßen können. Immerhin kennt sie ihn recht gut, wie mir heute aufgefallen ist.«

»Sie steckte in der Zwickmühle. Wie ich vor drei Jahren steht auch sie unter Beobachtung. Ich habe bis heute nicht herausgefunden, wer es ist, der den Brüdern Informationen über sie zukommen lässt. Aber ich weiß inzwischen, wer mich verraten hat.«

»Klingt alles ziemlich an den Haaren herbeigezogen«, brummt Shaun.

»Shaun, lass ihn doch ausreden.« Bobby nickt Mason auffordernd zu.

»Die Brüder überwachten jeden ihrer Schritte. Sie hatte Angst, dass wenn sie Sie direkt ansprechen würde …«

Shaun schnaubt abfällig. »Also schickt sie einen unschuldigen Mann vor, der ihre Schlachten austrägt? Wenn ihr mich fragt, macht das Sharon nicht sympathischer. Angst hin oder her.«

»Sharon erzählte mir, dass sie Sie einige Male dabei beobachtet hat, wie Sie den Medikamentenschrank aufmerksam inspizierten«, wendet Mason sich an mich. »Es war wie bei Thompson damals. Nur diesmal hoffte sie auf Ihre Freundschaft zum FBI.« Er deutet auf Shaun. »Sie war sich sicher, dass Sie nicht wie Thompson allein dastehen.« Mason seufzt. »Sharon und ich tragen die Schuld an Thompsons Tod. Wir wollten nicht noch jemanden opfern. Es tut mir aufrichtig leid, Doktor.«

»Bin mir nicht sicher, wie Ihr Auftritt von vorhin in Ihre Geschichte passen soll«, sinniere ich.

»Ich sagte doch schon, ich bin durchgedreht. Ich hatte mich heute mit Sharon verabredet. Als sie nicht auftauchte, rief ich sie an. Nichts. Zu Hause war sie auch nicht. Also versuchte ich mein Glück bei Mary, der Neuen in der Notaufnahme, und gab mich als Sharons Vater aus. Ich weiß, das muss für Sie absolut unlogisch klingen. Doch in dem Moment, als ich hörte, dass meine Schwester im Koma liegt, gab ich Ihnen die Schuld.«

Bobby legt seine Hand auf meine Schulter. »Dieser Mann hier ist der Grund, weshalb Ihre Schwester überhaupt noch lebt.«

Mason starrt mich mit großen Augen an. »Wirklich?«

Ich winke ab, weil ich nicht als der Held dastehen will, der ich nicht bin. »Ich habe nur meinen Job gemacht. Eine Frage brennt mir allerdings unter den Nägeln. Was ist mit dem Tablettenröhrchen? Hat Sharon das getan?«

»Was meinen Sie?«, erwidert Mason und sieht mich an, als hätte er tatsächlich keinen Schimmer, wovon ich rede.

»Vor ein paar Wochen erhielt ein Patient ein Schmerzmittel, auf dem mein Name als behandelnder Arzt steht. Ich habe diesen Mann jedoch bis vor einigen Tagen noch nie zuvor gesehen. Hat ihm Sharon das Medikament verordnet?«

»Doc, ich versichere Ihnen, das würde Sharon nicht tun. Ja, sie stiehlt Medikamente und Verbandszeug, aber sie würde niemals den Namen eines Arztes missbrauchen.«

»Nein, sie sorgt nur dafür, dass ein Arzt sein Leben verliert«, wirft Shaun leise, aber bissig ein.

»Wer soll es dann gewesen sein?«, ignoriere ich Shauns Kommentar.

Mason zuckt mit den Schultern. »Ich weiß nicht«, murmelt er, wirkt allerdings, als würde er scharf darüber nachdenken.

Irritiert blicke ich zu Bobby auf, der mich mitfühlend ansieht und meint: »Wir finden es raus.«

Schweigen breitet sich in meinem Wohnzimmer aus. Es fühlt sich dick und sirupartig an, erschwert mir das Atmen. Die nächsten Worte kommen mir nur mit Mühe über die Lippen: »Es gibt also noch jemanden, der sein Unwesen in der Klinik treibt.«