Zwei

 

 

Vielleicht wäre es besser, wenn ich jetzt zu Hause wäre, um mich mental auf den Urlaub vorzubereiten, aber ich kann es einfach nicht. Ich habe nicht die Ruhe, mich auf die Couch zu setzen, fernzusehen oder mich mit irgendwelchen anderen Dingen zu beschäftigen. Cole musste noch ein letztes Mal in die Firma und so habe ich beschlossen, mich noch einmal mit meiner Schwester zu treffen, um mit ihr über das kleine Örtchen zu sprechen, in das Cole und ich fliegen werden. Ich habe noch immer die Hoffnung, dass sie mehr über meine Herkunft weiß, als sie zugibt, auch wenn sie beteuert, dass ihr selbst nicht viel über meine Adoption bekannt ist. Sie hat es selbst erst vor ein paar Monaten erfahren und doch …

„Miles? Was machst du denn hier?“, fragt sie überrascht, nachdem sie die Tür geöffnet hat. Ich habe ihr nicht Bescheid gesagt, dass ich noch einmal vorbeikommen werde. „Ich dachte, du musst deinen Koffer für morgen packen.“

„Habe ich schon“, erwidere ich und sehe ihr in die blauen Augen. Es ist verrückt, aber erst seit ich weiß, dass wir keine richtigen Geschwister sind, ist mir überhaupt aufgefallen, dass wir keine Ähnlichkeit miteinander haben. Sie hat langes, blondes Haar und blaue Augen, während ich mit dunkelbraunem Haar und braunen Iriden gesegnet bin. Sie sieht aus wie unsere Mom. Ich hingegen sehe natürlich weder ihr noch unserem Dad ähnlich. „Kann ich reinkommen? Ich würde gern noch ein paar Dinge mit dir besprechen.“

„Aber klar, komm nur.“

Sie geht einen Schritt zur Seite und ich betrete das Haus, in dem sie nun schon seit einigen Jahren wohnt. „Wo sind denn Alex und die Kinder?“

„Sie sind mit den Rädern zu ihrem Lieblingsplatz gefahren. Du weißt ja, Fahrradfahren ohne Hindernisse ist ja so langweilig.“ Sie beginnt zu lachen, doch an der Art und Weise, wie sie erzählt, erkenne ich, dass sie alles andere als begeistert davon ist. Alex hatte vor einigen Jahren einen schweren Unfall, weshalb er seinen großen Traum, Profisportler zu werden, aufgeben musste. Dennoch möchte er sein Können und Talent an die beiden Jungs weitergeben. „Möchtest du etwas trinken? Ich kann uns einen Kaffee machen.“

„Nein, danke. Ich denke, ich werde sowieso nicht allzu lange bleiben.“

Wir gehen ins Wohnzimmer und setzen uns auf die Couch, während Miley mich noch immer skeptisch betrachtet. Sie wird wissen, was ich möchte, und sie weiß ebenso, dass sie mir nicht das sagen kann, was ich mir erhoffe. Es ist dumm von mir, es überhaupt wieder zu versuchen, aber ich kann eben nicht anders.

„Was ist los, Miles?“

Ich zucke die Schultern. „Das kannst du dir doch denken, oder?“

„Ja, natürlich. Aber glaubst du ernsthaft, ich kann dir mehr sagen als in den letzten Wochen? Ich weiß nicht mehr als das, was ich dir schon erzählt habe, Miles.“

„Hm.“ Ich seufze und lehne mich nach hinten an die Couch. „Bist du dir sicher? Ich meine, vielleicht haben sie ja mal was gesagt, was dir nicht so bewusst war. Irgendetwas, das mir sagt, wonach ich überhaupt suchen muss.“

„Miles …“ Sie seufzt ebenfalls. „Ich verstehe sowieso nicht, warum du unbedingt nach ihnen suchen möchtest. Du hattest doch eine tolle Kindheit. Warum willst du denn in der Vergangenheit herum graben? Ich finde das überhaupt nicht gut.“

Das ist eine Frage, die ich mir auch schon oft gestellt habe, die ich mir aber nur halbwegs beantworten kann. Ja, ich hatte eine wundervolle Kindheit. Ich hatte tolle Eltern und eine ebenso tolle Schwester. Im Grunde hat es mir an nichts gefehlt, aber seit ich weiß, dass ich nicht aus den Verhältnissen stamme, an die ich die ganzen Jahre über geglaubt habe, bekomme ich einfach keine Ruhe.

„Weil ich es wissen muss, Miley. Kannst du das wirklich nicht verstehen? Würdest du nicht auch wissen wollen, wo du herkommst? Oder warum deine leiblichen Eltern dich abgegeben haben?“

„Ganz ehrlich? Nein, würde ich nicht. Du hattest eine erfüllte Kindheit. Eltern, die dich geliebt und in allem unterstützt haben. Ich würde nicht wissen wollen, aus welch banalen Gründen meine leiblichen Eltern mich weggegeben haben. Mir wäre so etwas nie in den Sinn gekommen. Ich habe meine Jungs von der ersten Minute an in meinem Bauch geliebt. Sei doch einfach zufrieden mit dem, was du hattest und hör auf, dir unnötig Gedanken zu machen. Am Ende tut es ja doch nur weh.“

Ich hebe den Kopf, um ihr in die Augen zu sehen, doch sie wendet den Blick sofort ab. Ob sie doch mehr weiß, als sie zugibt?

„Du bist also der Meinung, ich soll vergessen, dass ich adoptiert bin?“

Sie nickt zustimmend. „Dieser Meinung bin ich, ja. Schnapp dir Cole und flieg auf eine Insel oder so was. Aber nicht in dieses kleine Dorf. Wer weiß, was du anrichtest, wenn du plötzlich dort auftauchst. Da kennt doch sicherlich jeder jeden.“

„Und genau aus diesem Grund möchte ich dorthin“, erwidere ich und stehe auf. „Irgendjemand wird wissen, was mit meinen Eltern passiert ist und es mir erzählen. Da bin ich mir ganz sicher.“

„Und was, wenn nicht?“ Sie steht ebenfalls auf. „Was, wenn du nichts herausfindest? Du kannst die Vergangenheit doch sowieso nicht rückgängig machen. Lass doch alles so sein, wie es ist. Ich verstehe dich einfach nicht.“

„Ich möchte die Vergangenheit doch auch gar nicht ändern“, erwidere ich aufgebracht. „Ich will einfach nur verstehen, warum sie mich zur Adoption freigegeben haben. Das ist alles.“ Ich trete an ihr vorbei, enttäuscht darüber, dass sie mich offensichtlich nicht einmal ein bisschen verstehen möchte. Klar, ich hätte es wissen müssen, immerhin haben wir dieses Gespräch schon des Öfteren geführt. Ich bin nur froh, dass ich neben dem Brief meiner Mutter, den sie mir vermutlich niemals zeigen wollte, eine Postkarte aus Lightley gefunden habe. Aber wer weiß schon, ob diese überhaupt mit meiner Adoption in Verbindung steht. „Es tut mir leid, dass ich dich erneut damit belästigt habe, Miley.“

„Miles, warte.“ Ich bleibe stehen, drehe mich jedoch nicht zu ihr um. „Es tut mir leid, okay? Aber ich möchte nicht, dass du am Ende enttäuscht nach Miami zurückkommst. Versteh das doch.“

„Dann versuche du doch bitte auch, mich wenigstens ein bisschen zu verstehen. Mehr möchte ich gar nicht.“

Ohne ihre Antwort abzuwarten, setze ich mich in Bewegung und verlasse das Haus, höre, wie sie mich noch einmal zurückruft.

Doch es ist mir egal. Ich hätte es wissen müssen.