Sechs

 

 

Eigentlich grenzt es an ein Wunder, dass ich trotz der ganzen Probleme die Nacht über sehr gut geschlafen habe. Ich war nur ein einziges Mal wach und das auch nur, weil Seth relativ nah bei mir gelegen und seine Hand meinen Rücken berührt hat. Merkwürdigerweise tat es gut, zu wissen, dass jemand bei mir ist, und so habe ich nur erneut die Augen geschlossen und mich auf die Finger konzentriert, die mich leicht, aber dennoch merklich berührt haben. Jetzt, nachdem ich die Augen geöffnet und mich aufgesetzt habe, bemerke ich, dass ich allein im Raum bin. Die Tür zum Zimmer steht auf und ich höre Geräusche aus der Küche.

Seth scheint Kaffee zu kochen, denke ich und der angenehme Geruch, der mir daraufhin bewusst in die Nase steigt, bestätigt dies. Lächelnd schiebe ich die Decke zur Seite und schlüpfe in meine Klamotten, bevor ich das Zimmer verlasse und mich in die Küche begebe. Wie erwartet steht Seth an der Küchenzeile und bereitet das Frühstück vor, allerdings habe ich nicht damit gerechnet, dass er dies nur in Boxershorts macht. Sein Anblick allein lässt das Blut durch meine Adern rauschen, obwohl ich bereits gestern Abend einen kurzen Blick auf seinen Körper erhaschen konnte. Breite Schultern, gut definierte Muskeln und ein verdammt heißer Hintern fallen mir ins Auge. Zudem scheint er gerade unter der Dusche gewesen zu sein, denn die Tropfen aus seinem noch nassen Haar perlen langsam an seiner Haut herunter.

Die Lippen aufeinandergepresst, versuche ich meine Atmung zu kontrollieren, da mich sein Anblick in der Tat durcheinanderbringt. Seth ist verdammt sexy und dazu noch wahnsinnig intelligent. Sarkastisch, lustig, aber auch ernst.

Ich sollte aufhören, ihn so anzustarren, bevor er davon noch etwas mitbekommt.

„Kaffee?“, fragt er plötzlich, dabei war ich mir sicher, dass er mich noch nicht bemerkt hat. „Oder lieber was Kaltes zum Abkühlen?“

Er dreht sich zu mir um und hat keinesfalls vor, das Grinsen in seinem Gesicht zu verbergen. Kopfschüttelnd schließe ich einen Moment lang die Augen, bevor ich ihn wieder ansehe.

„Kaffee klingt gut und du hör auf, dir einzubilden, als wärst du unwiderstehlich.“

Ich gehe auf ihn zu, nehme ihm die Tasse Kaffee aus der Hand, die er zuvor festgehalten hat, und setze mich anschließend an den Tisch. Genau wie gestern hat er bereits ein paar Sandwiches zubereitet.

„Ich bin unwiderstehlich. Das brauche ich mir nicht einbilden.“

Er setzt sich in Bewegung und sich anschließend zu mir an den Tisch.

„Ist dir nicht kalt?“

Seth hebt eine Augenbraue. „Wir haben Sommer, Miles. Jetzt sag mir bitte nicht, dass du frierst.“

„Nein, ganz sicher nicht, aber …“ Ich muss lachen und schüttle den Kopf. „Bist du schon lange wach?“

„Seit vier Uhr, ja. Die Arbeit macht sich nun mal nicht von allein.“

„Wow.“ Ich trinke einen Schluck Kaffee. „Ich glaube, das würde ich echt nicht hinbekommen.“

„Alles eine Frage der Disziplin.“ Er lächelt, nimmt sich eines der Sandwiches und beißt hinein. „Was machst du eigentlich beruflich? Ich schätze mal, dass du nicht in der Firma deines sehr sympathischen Ex-Freundes arbeitest.“

„So weit kommt es noch“, erwidere ich und verziehe die Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. „Nein, ich arbeite als Lehrer an einer Grundschule in Miami. Kinder liegen mir weitaus besser als dieser starre Bürokram.“

„So habe ich dich auch nicht eingeschätzt. Aber sag mal …“

Er sieht mich an, als müsste er überlegen, ob er mich überhaupt danach fragt.

„Was denn?“

„Hast du schon einen Plan, wie du nach deinen Eltern suchen willst? Ich meine, hast du irgendwas in der Hand? Namen? Eine Straße? Oder musst du auf gut Glück recherchieren?“

„Na ja, ehrlich gesagt, werde ich es wohl auf gut Glück versuchen müssen.“ Ich seufze. „Nach dem tödlichen Unfall meiner Eltern habe ich in ihren persönlichen Sachen nur einen Brief und eine Postkarte gefunden. In dem Brief stand, entschuldigend von meiner Mom, dass sie mich als Baby adoptiert haben, aber sie mir sonst nichts weiter sagen können. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich den Brief überhaupt jemals zu lesen bekommen hätte, wenn sie nicht gestorben wären. Dieser Brief ist mein einziger Anhaltspunkt. Und eine Postkarte aus Lightley.“

„Das heißt, du weißt nicht einmal, ob die beiden Dinge miteinander in Verbindung stehen.“

Ich schüttle den Kopf. „Nein, leider nicht. Aber weil sie zwischen dem Brief steckte, dachte ich …“

„Ich verstehe schon.“ Seth verschränkt die Finger miteinander, stellt die Ellenbogen auf dem Tisch ab und legt das Kinn auf seine Hände. Er denkt nach, doch mir geht in diesem Moment nur eine Frage durch den Kopf: Warum? Warum macht sich dieser Mann, der mich seit nicht einmal achtundvierzig Stunden kennt, mehr Gedanken über mich als der Mann, mit dem ich die letzten Jahre über zusammen gewesen bin? Warum hat er mehr Verständnis als meine Schwester, die die ganze Zeit über dagegen war, dass ich überhaupt hierherfliege. Sicher, er hat selbst nie etwas über seine Herkunft erfahren können, aber ob das der einzige Grund ist? „Das Beste wird sein, wir laufen nachher erst einmal ins Dorf und sehen uns ein bisschen um. Ich war selbst noch nicht da, aber der Vermieter hat mir bei meiner Ankunft gesagt, dass man im Lokal im Ort wunderbar essen kann. Vielleicht gehen wir hin, sehen uns um und essen dann eine Kleinigkeit. Ich schätze, sofort mit der Tür ins Haus zu fallen, ist in so einem kleinen Ort nicht sonderlich angebracht. Außerdem sind Kellnerinnen in dem Fall immer etwas gesprächiger.“

„Wieso sagst du Kellnerinnen?“ Ich muss lachen. „Meinst du nicht, Männer sind da genauso gesprächig?“

„Eher weniger. Du weißt doch, Frauen reden gern.“ Jetzt grinst er. „Aber mal im Ernst, vielleicht finden wir auf diesem Weg irgendetwas heraus. Es ist natürlich nicht leicht, wenn man so gar nichts in der Hand hat, aber wir haben ja ein paar Tage Zeit. Es sei denn, du hast eine bessere Idee, dann werde ich mich dir natürlich anschließen.“

„Glaube mir, wenn ich eine hätte, würde ich sie dir sagen. Essen und spazieren gehen klingt gut. Aber eine Frage habe ich noch.“

„Und welche?“

„Wenn du nie ins Dorf gehst, wie gehst du dann einkaufen? In die Stadt ist es doch viel zu weit.“

Seth sieht mir in die Augen und legt den Kopf schief. „Ich bin neben Pornofilmproduzent und Autor eben auch noch Zauberer. Was dachtest du denn?“

„Und ein Idiot, nicht zu vergessen.“ Ich schüttle schmunzelnd den Kopf. „Bekommt man von dir auch ab und zu eine normale Antwort?“

„Wäre das nicht langweilig?“ Seine Mundwinkel verziehen sich. Er lächelt. „Ich brauche nicht viel und das, was ich brauche, bringt mir eine nette alte Dame, die mit im Haus des Vermieters wohnt, einmal die Woche vorbei. Wir trinken dann einen Kaffee zusammen und sie ist glücklich darüber, auch mal ein bisschen aus dem Haus zu kommen. Aber wenn du möchtest, können wir nachher trotzdem ein paar Dinge einkaufen. Du magst sicherlich andere Sachen als ich.“

„Hast du andere Dinge als Sandwiches und Nudeln im Schrank?“ Sein Blick verrät mir, dass ich mit meiner Vermutung richtig liege. „Dann müssen wir definitiv einkaufen.“

 

•••

 

Ich liebe das Geräusch von knarzenden Stöcken unter meinen Schuhen, den Geruch der Bäume und die Ruhe, die uns umgibt, während wir durch den Wald Richtung Dorf laufen. Das Wetter ist wundervoll. Die Sonne scheint und der Himmel ist strahlend blau. Keine einzige Wolke befindet sich über uns. Es ist angenehm, neben Seth herzulaufen und zu schweigen, obwohl ich das Gefühl habe, dass er es nicht ohne Grund macht. Schon als wir losgelaufen sind, wirkte er auf gewisse Art und Weise abwesend. Allerdings habe ich keine Ahnung, warum das so ist. Seth ist ein Buch mit sieben Siegeln, die ich gerne öffnen würde, nur weiß ich zurzeit noch nicht, wie ich das anstellen soll. Er ist offen und direkt und auf der anderen Seite wieder völlig in sich gekehrt. Also eine echte Herausforderung.

„Hattest du ein gutes Verhältnis zu deinen Eltern?“

Ich drehe den Kopf zur Seite und sehe ihn einen Moment lang an, während wir weiterlaufen. Nachdem ich den Blick zurück nach vorn gerichtet habe, schiebe ich die Hände in die Hosentaschen.

„Ja, das hatte ich. Ein sehr gutes sogar. Ich hatte also nie das Gefühl, dass ich nicht zur Familie gehöre, falls du das meinst. Sie haben Miley und mich immer gut behandelt und mich in allem, was ich machen wollte, unterstützt. Sie waren wirklich sehr liebevoll. Ich vermisse sie wahnsinnig.“

Im Augenwinkel sehe ich, dass Seth leicht lächelt. „Miley ist deine Schwester?“

Ich nicke zustimmend. „Meine große Schwester. Sie hat immer auf mich aufgepasst. Das macht sie heute noch.“

„Vor dem Idioten hat sie dich allerdings nicht bewahrt.“

Jetzt muss ich lachen. „Nein, allerdings muss ich dazu sagen, dass sie es einige Male versucht hat. Sie fand Cole von Anfang an nicht sonderlich sympathisch, aber das hat mich natürlich nicht interessiert.“

„Ja, manchmal ist die rosarote Brille ein echtes Hindernis.“ Er grinst und richtet den Blick zu Boden. „Sie würden verstehen, dass du versuchst, sie zu finden. Da bin ich mir sicher.“

Es ist, als könnte er meine Gedanken lesen, denn genau daran habe ich in diesem Augenblick mal wieder gedacht. Oft frage ich mich, ob es in Ordnung ist, dass ich einfach so meine Vergangenheit hinterfrage und ob sie nicht vielleicht traurig wären, weil ich mich nicht mit dem zufriedengebe, wie es war.

„Ich hoffe es, wirklich.“ Erneut sehe ich ihn an und vernehme, wie er nickt. Noch immer glaube ich, dass er nicht ganz bei mir ist. Auch seine Gedanken scheinen ununterbrochen zu rotieren. „Gab es keine Familie, in der du dich wohl gefühlt hast?“

Wir laufen weiter und ich finde mich damit ab, dass Seth eine ganze Weile lang nichts mehr sagt. Ich habe nicht das Gefühl, als müsse er groß über meine Frage nachdenken. Aber ich glaube, dass es ihm schwerfällt, sich die Wahrheit einzugestehen.

„Ich glaube kaum, dass ich mich in meinem Leben überhaupt schon mal irgendwo wohlgefühlt habe.“ Er seufzt, legt den Kopf in den Nacken und schließt einen Moment lang die Augen, dann sieht er wieder nach vorn. „Das Heim, in dem ich aufgewachsen bin, hat nicht gerade mit Liebe und Zuneigung gestrotzt und so ging es auch weiter, als ich mit acht in meine erste Pflegefamilie kam. Ich war einer unter vielen, die Mutter heillos überfordert und der Vater ständig unterwegs. Ich war der jüngste von sechs Kindern, eines schlimmer als das andere. Hänseleien lagen an der Tagesordnung, genau wie Gewalt. Ich habe versucht, mich durchzusetzen, aber als kleiner, schmächtiger Junge hast du dem nicht viel entgegenzusetzen. Zwei Jahre ging ich durch die Hölle, bis sie mich und die anderen da rausgeholt haben. Besser wurde es allerdings nicht. Also habe ich angefangen, eine Mauer um mich herum aufzubauen. Ich habe niemanden mehr an mich herangelassen, nur noch Scheiße gebaut und na ja …“ Er zuckt mit den Schultern und bleibt kurz darauf stehen. „Wir sind da.“

Mit aller Macht versuche ich, den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken, den seine Erzählung in mir auslöst, doch ich schaffe es nicht. Ebenso wenig wie ich die richtigen Worte finde, doch ich möchte das Ganze auch nicht unkommentiert lassen. Seth verdient es zu wissen, dass auch ich mich für sein Leben interessiere.

„Und ich bin mir sicher, dass du irgendwann ankommen wirst. Bei jemandem, bei dem du dich wohlfühlst. Und dann ist alles andere vergessen.“

Seth sieht mich an. In seinen Augen liegt … Ich weiß nicht. Traurigkeit? Verzweiflung? Es ist schwer zu sagen. „Hast du Angst? Oder wollen wir uns in die Höhle des Löwen stürzen?“

„Wirst du den Löwen für mich erlegen?“, frage ich grinsend.

Seth‘ Mundwinkel zucken leicht. „Nein, aber ich kann ein bisschen auf dich aufpassen.“

 

•••

 

Dass er tatsächlich auf mich aufpassen muss, erwarte ich im Grunde nicht. Niemand hier kennt uns und wird uns großartig Beachtung schenken, obwohl ich zugeben muss, dass ich mich über den einen oder anderen merkwürdigen Blick schon wundern muss. Die Menschen hier sollten es gewohnt sein, Touristen zu sehen, die vor allem aus der Gegend der Hütten kommen. Warum auch immer man uns teilweise regelrecht anstarrt, kann ich mir nicht erklären. Aber ich versuche, es zu ignorieren.

„Es ist schön hier, nicht wahr? Klein, romantisch, sogar irgendwie beruhigend.“

Ich lasse den Blick schweifen und betrachte die kleinen Häuser, die neben vielen Bäumen und Sträuchern dicht an dicht stehen. Es gibt einen Supermarkt, einen Friseur und eine schnuckelige Bäckerei, einen Springbrunnen in der Mitte des Marktplatzes und viele Bänke, auf denen sich vor allem ältere Leute niedergelassen haben. Am Ende der Straße bellt ein Hund, während einige Meter neben uns zwei kleine Kinder fangen spielen und das schöne Wetter genießen. Tauben sitzen auf dem grauen Asphalt und lassen sich vom Drumherum nicht aus der Ruhe bringen.

„Ja, definitiv. Wenn wir nachher zurückgehen, sollten wir das am Fluss machen. Ich habe gesehen, dass da hinten eine kleine Brücke auf die andere Seite führt. Dort kann man sicherlich auch sehr gut spazieren gehen.“ Seth bleibt kurz stehen und sieht sich um. Ich schätze, er sucht nach dem Restaurant. „Diese vielen Farben sind faszinierend. Erst ein Haus in Blau, dann eines in Pink. Weiß, Grün …“ Seth‘ Augen leuchten wie die eines kleinen Kindes, was mich auf der Stelle zum Lächeln bringt. Es ist das erste Mal, seit wir unterwegs sind, dass sie nicht mehr diese Leere ausstrahlen. „So etwas bekommt man in einer Großstadt auf diese Art und Weise nicht zu sehen.“

„Du kommst also aus einer Großstadt“, stelle ich fest, woraufhin er mich wieder ansieht.

„Ja, sieht wohl so aus.“

„Und aus welcher?“, frage ich nach, glaube aber nicht, dass ich darauf eine Antwort bekomme.

„Es ist sehr unwahrscheinlich, dass wir uns schon einmal über den Weg gelaufen sind, also ist es uninteressant für dich.“

„Wie schön, dass du für mich entscheidest, was ich interessant oder uninteressant finde“, erwidere ich lachend und sehe mich ebenfalls um. „Hast du das Restaurant schon entdeckt? Ich habe mittlerweile tierischen Hunger.“

Er macht eine Kopfbewegung nach vorn, woraufhin ich das blaue Schild mit dem Aufdruck Ashleys entdecke. „Ich schätze, da sind wir genau richtig.“

„Na, dann komm, bevor ich noch verhungere.“ Ich umfasse sein Handgelenk und ziehe ihn hinter mir her, bis wir direkt vor dem Gebäude stehen. Der Versuch, die Tür zu öffnen, scheitert allerdings, da sie verschlossen ist. „Ach komm schon, das ist doch ein schlechter Scherz.“

„Ich schätze nicht.“ Seth tritt neben mich und zeigt auf das Schild, das ich übersehen habe. „Montags geschlossen.“

„Das darf echt nicht wahr sein.“ Ich schnaufe genervt. „Mein Magen knurrt. Interessiert das etwa keinen?“

Seth beginnt zu lachen. „Wirst du etwa ungemütlich, wenn du Hunger hast?“

„Nicht nur das. Ich fange dann auch mit Vorliebe an, die Menschen um mich herum aufzuessen.“

„Na, dann wollen wir mal dafür sorgen, dass es gar nicht erst so weit kommt. Ich würde nämlich gern noch ein bisschen leben.“ Er verdreht schmunzelnd die Augen und wendet sich anschließend von mir ab. Dennoch durchströmt mich ein gutes Gefühl, das ich so in der Art schon lange nicht mehr gefühlt habe. Seth‘ Gegenwart tut mir gut und sie hilft mir dabei, die Geschehnisse der letzten Tage gut zu verarbeiten. „Entschuldigen Sie bitte, aber können Sie mir sagen, ob wir hier in der Nähe sonst noch etwas zu essen bekommen? Leider hat das Ashleys ja geschlossen.“

Die alte Dame, die Seth angesprochen hat, möchte etwas sagen, als sie mich jedoch sieht, stockt ihr förmlich der Atem. Sie starrt mich an, als wäre ich aus einer anderen Welt oder quasi das Schlimmste, das sie in der letzten Zeit zu sehen bekommen hat. Unwohl trete ich wie von selbst einen Schritt zurück, als sie plötzlich aufsteht und auf mich zukommt. Ich kann es mir nicht erklären, aber da liegt Hass in ihren Augen. Hass, den ich nicht verstehe und der mir auf der Stelle Angst macht. Was ist denn hier nur los?

„Sie, Sie sollten alle beide schleunigst von hier verschwinden. Menschen wie Sie möchte hier niemand sehen. Sie haben genug angerichtet. Dass Sie sich nach all den Jahren überhaupt noch hierher trauen, ist unfassbar. Verschwinden Sie aus unserem Dorf. Oder wollen Sie der Familie noch mehr Schmerz zufügen? Das ist doch ungeheuerlich.“

Mittlerweile stehe ich an der Wand. Angewurzelt und starr wie ein Baum, bin ich nicht mehr in der Lage, mich zu bewegen. Was geht hier nur vor sich? Und was will diese Frau von mir?

„Hören Sie auf damit“, sagt Seth plötzlich und stellt sich zwischen uns. „Was soll denn das?“ Sie versucht, an ihm vorbei zu sehen, doch Seth lässt ihr die Chance dazu nicht. Tausend Gedanken schwirren mir durch den Kopf. Ob sie mich verwechselt? Mich für jemand anderen hält? „Wir waren noch nie hier, also warum gehen Sie ihn jetzt so an?“

„Mörder!“, höre ich sie sagen. Ein kalter, unangenehmer Schauer läuft mir über den Rücken. Meine Knie zittern. Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten. „Verschwinden Sie und kommen Sie nie wieder her!“

Ihre Stimme hebt sich noch einmal, dann wendet sie sich von Seth ab und läuft langsam die Straße entlang. Immer wieder dreht sie sich zu uns um. Fast so, als wolle sie sicher gehen, dass wir ihr nicht folgen. Erst jetzt fallen mir die Blicke anderer Menschen auf. Unwissende Blicke, die sich jedoch dieselbe Frage stellen wie ich mir selbst: Warum nannte sie mich einen Mörder?

„Ist alles in Ordnung?“

Ich hebe den Blick und sehe direkt in Seth‘ braune Augen. „Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher“, gebe ich zu, weshalb Seth sich noch einmal umdreht, um der alten Dame nachzusehen. Mein Herz klopft wie verrückt. Es möchte sich gar nicht beruhigen. „Glaubst du, sie ist verrückt?“

Seth zuckt die Schultern, dann dreht er sich zu mir zurück. „Davon ist auszugehen, ja. Wer weiß, wen sie in dir gesehen hat. Vielleicht ist sie auch dement und kann gewisse Situationen nicht mehr richtig einordnen. Ich weiß es nicht.“ Dass Seth‘ Atmung so schwerfällig ist wie meine, fällt mir sofort auf, doch ich sage nichts dazu. Allerdings bin ich mir sicher, dass er an der Demenzversion genauso sehr zweifelt wie ich. „Vielleicht ist es besser, wenn wir jetzt erst einmal zurückgehen. Dann können wir eine Kleinigkeit essen und überlegen, wie wir weiter vorgehen. Hierbleiben wird jetzt erst einmal nichts bringen, zumal die nette Dame gerade alle um uns herum in Aufruhr gebracht hat.“

Ich sehe mich um. Noch immer stehen die Menschen um uns herum und starren uns an. Es ist … gruselig. „Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt wieder hierher zurückkommen möchte.“

Seth lächelt schwach und streicht kurz mit dem Handrücken über meine Wange. „Lass uns zurück zur Hütte gehen. Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Okay?“

„Ich will es hoffen.“

 

•••

 

Wir sind natürlich nicht mehr auf der anderen Seite des Flusses spazieren gegangen. Ich war vielmehr aufgewühlt, als dass ich für so etwas auch nur ansatzweise Nerven gehabt hätte. Die Worte dieser Frau gehen mir nicht aus dem Kopf. Und wenn ich ehrlich bin, machen sie mich fertig.

„Möchtest du dich ein bisschen hinlegen, bis das Essen fertig ist?“ Ich stehe im Wohnzimmer am Fenster und blicke nach draußen in den Wald, als Seth plötzlich in der Tür steht. „Du kannst aber auch an meinem Laptop einen Film oder eine Serie gucken, wenn du möchtest.“

Ich drehe mich zu ihm um. „Ich dachte, hier gibt es kein Internet.“

„Nein, aber auf Netflix kann man downloaden.“ Er zwinkert mir zu. „Einmal die Woche laufe ich zum Vermieter, wähle mich in sein WLAN und aktualisiere alles. Also wenn du möchtest, such dir ruhig was aus. Ich weiß halt nur nicht, ob etwas für dich dabei ist.“ Er kommt näher und bleibt an seinem Schreibtisch stehen, betrachtet besagten Laptop. Mein Blick wandert über sein Gesicht. Seine dunklen Augen. Die schmalen Lippen. Den Dreitagebart, der ihm wahnsinnig gut steht, obwohl ich glaube, dass er ihn normalerweise so nicht trägt. Das kleine Grübchen an seiner linken Wange, wenn er lächelt, ist gerade nicht zu sehen. „Du starrst mich an.“

Ich muss lachen. „Das hängt nur damit zusammen, dass du in den letzten Tagen netter zu mir bist als Cole in den letzten Monaten.“ Seufzend wende ich mich von ihm ab und setze mich auf die Couch. „Das mit Netflix ist lieb von dir, aber allein hab ich keine Lust darauf. Vielleicht sehen wir uns nachher zusammen etwas an?“

„Das können wir machen. Ich gebe nur keine Garantie darauf, dass ich viel mitbekomme. Ich bin schon lange wach, wie du weißt.“

Er kommt mir hinterher und nimmt mir gegenüber auf einem Stuhl Platz. Nachdenklich ruhen seine Augen auf mir.

„Was ist?“, frage ich, woraufhin er mit den Schultern zuckt.

„Na ja, wenn ich ehrlich bin, dann mache ich mir ein bisschen Sorgen um dich. Du hast viel mitgemacht in der letzten Zeit. Erst der Tod deiner Eltern. Dann dein idiotischer Ex-Freund, der sich dir gegenüber verhalten hat wie der letzte Mensch. Die Trennung. Und jetzt vorhin diese Frau. Das ist alles ein bisschen viel auf einmal.“

Trotz seiner Worte muss ich unwillkürlich lächeln. Es ist schön, dass er sich Gedanken und Sorgen um mich macht, vor allem, da wir uns noch nicht lange kennen. Das Merkwürdige ist, dass es sich absolut nicht so anfühlt. Vielmehr könnte man meinen, wir kennen uns schon seit Ewigkeiten.

„Glaube mir, bei dem ganzen Chaos ist Cole mein kleinstes Problem.“

„Ach, ist das so?“

Er runzelt die Stirn und ich verstehe, dass er mir diese Aussage nicht so ganz abnimmt. Aber es ist tatsächlich so. Seit Cole weg ist, fühle ich mich besser. Irgendwie befreiter. Dabei habe ich mir lange Zeit nicht vorstellen können, ohne ihn zu sein.

„Ja, das ist so, auch wenn es sich komisch anhört. Aber weißt du, die letzten Monate waren wirklich nicht das, was ich mir unter einer Beziehung vorgestellt habe. Dieser offene Kram war nichts für mich, auch wenn ich es mir ständig eingeredet habe. Zu wissen, dass er jederzeit einen anderen vögeln konnte, hat mich in den Wahnsinn getrieben, aber ich war zu feige, um es ihm zu sagen.“

„Und wie lange wolltest du dieses Spiel noch spielen?“

Ich zucke die Schultern. „Ich wollte diesen Urlaub nutzen, um es ihm zu sagen. Ihm klarmachen, dass es unter diesen Umständen nicht mehr weitergeht mit uns. Und das habe ich ja auch, allerdings war es da schon zu spät.“

Seth betrachtet mich und mittlerweile kenne ich diesen Blick gut genug. Er denkt darüber nach, ob er das, was in seinem Kopf vorgeht, auch aussprechen kann. Etwas, das ich sehr an ihm mag. Er wählt seine Worte mit Bedacht aus.

„Hast du ihn überhaupt noch geliebt?“

Diese Frage kommt überraschend, dennoch muss ich nicht lange darüber nachdenken. Ich schätze, der Zug ist schon lange abgefahren. „Nein, ich …“ Ich hebe den Kopf, um ihn besser ansehen zu können. „Ich habe es mir eingeredet, ja. Weil ich lange Zeit den Menschen gesucht habe, der er vorher war. Aber am Ende …“ Ich schüttle den Kopf. „Wohl kaum, sonst hätte ich ihn nicht einfach gehenlassen. Ich bin kein Mensch, der schnell aufgibt, aber irgendwann reicht es.“

Seth nickt, dann lächelt er. „Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du sehr viel Stärke bewiesen hast, und darauf kannst du stolz sein. Du hast die Seite zu einem neuen Kapitel aufgeschlagen und ihn aus dem Manuskript gestrichen. Besser hättest du es nicht machen können.“

Er steht auf und ich sehe ihm nach, bis er an der Tür steht. Ich finde es toll, wie gut er mit Worten umgehen kann. Vielleicht liest er mir ja irgendwann mal etwas aus seinem Buch vor. „Und wie sieht es bei dir aus?“

Den Kopf in meine Richtung gedreht, bleibt er stehen und sieht mir in die Augen. „Was meinst du damit?“

„Na ja, gibt es in deinem Manuskript jemanden, mit dem du zusammen bist, oder beschränkt es sich auf Mord und Todschlag?“

Seth grinst, wird aber sofort wieder ernst. Da ist es wieder, das Geheimnisvolle in seinen Augen. Die Mauer, die sich um ihn herum aufbaut, sobald es persönlich wird.

„Ich habe dir doch vorhin schon gesagt, dass es noch nie jemanden gab, bei dem ich mich wohlgefühlt habe. Glaubst du, das hat sich in den letzten Stunden geändert?“

„Nein, natürlich nicht.“

Keine Ahnung, was ich mir von meiner Frage erhofft habe, aber tief in meinem Inneren habe ich wohl gedacht, dass jemand wie er doch nicht allein sein kann. Die Frauen müssten ihm doch zu Füßen liegen. Oder die Männer?

„Ich habe in meinem Leben nie eine Beziehung gebraucht, okay? Und vielleicht ist es auch besser, dass es so gewesen ist. Wer weiß, was ich damit jemandem zugemutet hätte.“ Seine Augen verfinstern sich und ich bereue schon fast, ihm diese Frage gestellt zu haben. Aber auf der anderen Seite … Er möchte so viel von mir wissen und ist für mich da. Warum sollte es andersherum nicht genauso sein? „Möchtest du mir beim Kochen Gesellschaft leisten oder bleibst du hier und ruhst dich noch ein bisschen aus?“

„Ich kann dir auch helfen, wenn du möchtest“, sage ich und stehe auf, gehe ein paar Schritte auf ihn zu.

„Ich glaube kaum, dass Spaghetti mit Tomatensoße viel Hilfe braucht“, witzelt er und grinst leicht.

„O Mann, ich wusste, wir haben etwas vergessen“, erwidere ich schmunzelnd und schüttle den Kopf. „Morgen gehen wir definitiv einkaufen und dann kochen wir mal was Leckeres zusammen.“

 

•••

 

Nachdem Seth uns seine einzigartigen Spaghetti gekocht hat, haben wir uns gemeinsam an den Küchentisch gesetzt, gegessen, und uns dabei noch ein wenig in Ruhe unterhalten. Es waren keine besonderen Gesprächsthemen, eher hielten wir uns mit neutralen Dingen auf, sprachen über meine Heimat, das Wetter oder auch mal über unsere Hobbys. Viel hatte Seth auf dieses Thema auch dieses Mal nicht zu erzählen, aber daran gewöhne ich mich allmählich. Er braucht Zeit, allerdings antwortet er meist auch auf die Fragen, die ich ihm stelle, was das Ganze definitiv leichter macht. Und es war noch nie meine Art, jemanden zum Reden zu zwingen. Ich bin mir sicher, wenn er Bedarf danach hat, wird er es irgendwann von allein tun.

„Und, wie sieht es aus? Möchtest du jetzt noch einen Film gucken oder eher nicht?“

Seth steht mit seinem Laptop in der Tür, während ich bereits im Bett liege und mit meiner Müdigkeit zu kämpfen habe. Der Tag war anstrengend und dass ich ununterbrochen an den Vorfall im Dorf denken muss, macht die Sache nicht besser.

„Ich glaube, ein Film ist nicht schlecht. Vielleicht was Lustiges, damit ich endlich diese dämlichen Gedanken aus dem Kopf bekomme.“

„Du sprichst von der Frau, hm?“ Ich nicke, während Seth neben mir auf dem Bett Platz nimmt. „Ich verstehe das, aber solange wir nicht wissen, was es tatsächlich zu bedeuten hat, solltest du dir nicht so viele Gedanken machen. Warten wir ab, was der Tag morgen bringt und dann sehen wir weiter. Du machst dich doch nur fertig, wenn du dir ununterbrochen den Kopf darüber zerbrichst.“

„Ja, ich weiß“, antworte ich seufzend und setze mich ein wenig auf. „Tut mir leid, aber manchmal kann ich nicht anders.“

„Dafür musst du dich sicherlich nicht entschuldigen.“ Seth lächelt, öffnet den Laptop und wartet, bis er hochgefahren ist. Anschließend öffnet er Netflix und scrollt seine Filme durch. Ich rutsche ein Stück näher, um besser sehen zu können, was er alles auf der Festplatte hat, doch es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Ich kann nicht leugnen, dass dieser Mann mich immer wieder fasziniert, und das nicht nur aufgrund seines Aussehens. Es ist seine ganze Art und die Tatsache, wie sehr er sich für mich und mein Befinden interessiert. Wie oft habe ich mir genau das von Cole gewünscht, aber es nie bekommen. „Wie wäre es mit dem hier?“, fragt er nach einer ganzen Weile, weshalb ich die Augen von ihm auf den Laptop richte.

„Hast du ihn schon gesehen?“

Seth schüttelt den Kopf. „Nein, aber den Trailer und den fand ich ganz gut. Lustig soll er mal sein, also wäre er perfekt. Hast du Lust?“

„Ja, von mir aus gern.“

„Gut.“ Er steht auf und ich sehe ihm nach, beobachte ihn dabei, wie er aus seiner Jeans und dem T-Shirt schlüpft. Im Gegensatz zu mir, der das T-Shirt immer anlässt, bevorzugt er es offenbar, nur in Shorts zu schlafen. Eine Tatsache, die mir im Grunde nichts ausmacht, die mich aber nervös werden lässt. Seth ist unbeschreiblich sexy und ich eben auch nur ein Mann. Außerdem bin ich Single und … „Miles …“

Ich verdrehe die Augen. Er hat es schon wieder bemerkt. „Seth?“

Er beginnt zu lachen. „Nimm mal die Flasche Wasser von deinem Nachtschrank, dann kann ich den Laptop dort hinstellen.“ Ohne ein Wort zu sagen, drehe ich mich um und nehme die Flasche herunter, stelle sie auf dem Fußboden ab. Kurz darauf senkt sich hinter mir die Matratze und Seth beugt sich über mich, um den Laptop abzulegen. Der schwache Duft des Parfums, das er trägt, schleicht sich in meine Nase und lässt mich einen Moment lang tief einatmen. „So, du kannst den Film anstellen, wenn du so weit bist.“

„Und was machst du?“, frage ich, da er sich neben mich legt und unter seine Decke schlüpft. So kann er definitiv nichts vom Film sehen.

„Was soll ich schon machen? Ich gucke mit, aber alt werde ich sowieso nicht.“ Als er sich in meine Richtung dreht, wird mir klar, was mich in meiner Konzentration definitiv beeinflussen wird. Seth rückt an mich heran und bettet seinen Kopf oberhalb von meinem. Ich spüre sein Kinn an meinem Haar und einen Teil seiner Haut an meinem Arm. Wenn er noch näher kommt, könnten wir fast miteinander kuscheln. „Bequem so? Oder soll ich mich anders hinlegen?“

Was auch immer seine Lippen jetzt an meinem Ohr verloren haben, so lösen sie eine Gänsehaut in meinem Nacken aus, die mich leicht erschaudern lässt. Die Lippen zusammengepresst, schließe ich einen Bruchteil von Sekunden die Augen.

Macht er das eigentlich extra?

„Nein, ist schon gut so“, erwidere ich nach viel zu langer Zeit und versuche unauffällig, aber tief einzuatmen.

Warum genau habe ich mich nicht gegen seine Gesellschaft in meinem Bett gewehrt?