Zwölf

 

 

Es ist das erste Mal, seit ich hier bin, dass ich mit einem Lächeln und einem verdammt guten Gefühl aufwache, obwohl ich nur zum Teil einen Grund dafür habe. Natürlich, es ist ja nicht so, dass ich vergessen habe, was ich gestern alles erfahren habe, aber die Nacht mit Seth hat zumindest dafür gesorgt, dass es mir jetzt viel, viel besser geht. Das alles war so … Ich kann es noch immer nicht in Worte fassen. Wann habe ich das letzte Mal so viel Leidenschaft, Sehnsucht und ja … Liebe verspürt? Niemals. Nie. Nein. Noch nie zuvor hat ein Mann das in mir ausgelöst, was Seth in mir ausgelöst hat. Noch nie zuvor habe ich so intensiv gefühlt.

Wer hätte gedacht, dass Seth sich nun doch so sehr auf mich einlässt? Dass er mich küsst? Dass er mir Dinge sagt, von denen ich nicht einmal zu träumen gewagt hätte? Das alles ist so schön und jetzt bin ich mir sicher, dass ich mit ihm an meiner Seite auch diese schlimme Zeit überstehe. Ich werde mit dem, was passiert ist, zurechtkommen. Und Seth … Er wird mir dabei helfen.

Ich öffne die Augen und drehe mich zur Seite, um mich an den Mann, in den ich mich binnen kurzer Zeit verliebt habe, zu kuscheln, muss jedoch schnell feststellen, dass er längst nicht mehr neben mir liegt.

Nicht einmal heute macht er eine Ausnahme , denke ich und schüttle schmunzelnd den Kopf, bevor ich mich aufsetze und aus dem Bett springe. Schnell habe ich mir Shorts, Jeans und ein T-Shirt übergezogen, dann mache ich mich direkt auf den Weg ins Wohnzimmer. Wie zu erwarten, sitzt Seth an seinem Schreibtisch, doch heute bleibe ich nicht in der Tür stehen und warte darauf, dass er mich bemerkt. Nein, ich gehe direkt auf ihn zu. Mit klopfendem Herzen und weichen Knien bleibe ich hinter ihm stehen und lege meine Arme um seinen Hals.

Das tut so unglaublich gut.

„Hättest du nicht wenigstens heute eine Ausnahme machen können?“, frage ich und drücke ihm einen Kuss auf die Wange, doch er reagiert zunächst nicht. „Es wäre schön gewesen, wenn wir noch ein bisschen gekuschelt hätten.“

„Nein, hätte ich nicht“, sagt er, windet sich aus meiner Umarmung und steht auf. Er sieht mich nicht einmal an, während er hinüber zur Tür läuft. „Die Arbeit macht sich nicht von allein, das solltest du mittlerweile wissen.“

„Ja, natürlich, aber ich dachte, dass …“ Er bleibt mit dem Rücken zu mir stehen, während ich ihm nachsehe und nicht weiß, wie mir gerade geschieht. Wieso ist er schon wieder so kühl? Warum verhält er sich so abweisend? „Das sollte kein Vorwurf sein, Seth.“

„Schon gut.“ Jetzt dreht er den Kopf zu mir, sieht mir unsicher in die Augen. „Möchtest du auch einen Kaffee? Dann bringe ich dir einen mit.“

„Ich denke nicht, nein.“ Mir ist gerade weder nach trinken noch nach essen. Vielmehr verstehe ich die Welt nicht mehr. Heute Nacht war alles so schön und jetzt … Jetzt spielt er plötzlich wieder den Unnahbaren. Ich verstehe das alles nicht. „Vielleicht später.“

„Wie du möchtest. Ich werde mir aber noch einen holen.“

„Ist gut“, erwidere ich, während ich ihm nachsehe und er das Wohnzimmer verlässt.

Das kann doch schon wieder nicht sein. Erst so, dann so. Was ist denn nur los mit ihm?

Entschlossen beschließe ich, diese Abweisung nicht auf mir ruhen zu lassen, und folge ihm in die Küche. Er muss doch gemerkt haben, was mir diese Nacht bedeutet hat. Und ich dachte eigentlich, dass er …

Kopfschüttelnd betrete ich die Küche. Ich habe schon viel zu oft gedacht, dass das, was zwischen uns ist, auf Gegenseitigkeit beruht. Warum sollte es dieses Mal anders sein? Aber ich kann mir das Gefühl, dass er mir heute Nacht geschenkt hat, nicht eingebildet haben. Ich hab …

„Möchtest du doch einen Kaffee?“, fragt er, als er mich entdeckt hat, und sieht mir in die Augen.

Erneut schüttle ich den Kopf, dann schiebe ich die Hände in meine Hosentaschen.

„Nein, ich … Ich frage mich nur, was ich schon wieder angestellt habe.“

Er hebt eine Augenbraue. „Was sollst du denn angestellt haben? Und vor allem, warum schon wieder?“

Ich zucke die Schultern. „Keine Ahnung, das frage ich dich. Warum bist du so abweisend zu mir? Ich meine …“

„Ich bin nicht anders als sonst zu dir, Miles.“ Dass er mich unterbricht, zeigt mir nur, dass er kein Interesse daran hat, mit mir über die ganze Sache zu reden, dass er jedoch genau weiß, worum es geht. „Also hör auf, mir so was vorzuwerfen.“

Er geht an mir vorbei, weshalb ich zunächst die Lippen aufeinanderpresse, um nichts Falsches zu sagen. Dass seine Worte mir wehtun, zeigt mir jedoch mein Herz. Es schmerzt. Viel zu sehr.

„Du hast mich geküsst.“

Die Worte kommen viel zu schnell aus meinem Mund, als dass ich es noch irgendwie verhindern kann, mich nicht vollkommen zum Affen zu machen. Aber was soll’s … Ich werde eh bald wieder nach Hause fliegen und wenn das alles wirklich nicht von Bedeutung für ihn war, kann ich zumindest versuchen, ihn schnell wieder zu vergessen.

„Das habe ich, ja.“ Er bleibt stehen und ich beobachte im Augenwinkel, wie er sich zu mir umdreht. Mit schwerem Herzen wende ich mich ihm zu, gefasst auf jede Antwort, die er mir jetzt geben kann. „Das ändert aber nichts an den Gegebenheiten, Miles. Die Situation war einfach eine andere. Du warst fix und fertig und ich wollte für dich da sein. Da hat es sich einfach ergeben. Das ändert aber nichts daran, dass das zwischen uns …“

„Eine belanglose Affäre ist, ich weiß schon.“ Schwer atmend versuche ich, mir nicht anmerken zu lassen, was seine Antwort mit mir macht. Dass sie mich mit voller Wucht von meiner rosaroten Wolke wirft und mir förmlich das Genick bricht. Es tut weh zu wissen, dass ich offenbar für jeden nur ein nettes Sexspielzeug bin. Mehr scheine ich offensichtlich nicht wert zu sein. „Du solltest dich an dein Manuskript setzen. Nicht, dass dein Verlag noch Stress macht, weil du nicht pünktlich lieferst.“

Ich gehe an ihm vorbei, vermeide es jedoch, ihm direkt in die Augen zu sehen. Er braucht den Schmerz, den er mir zufügt, nicht zu sehen. Ich will mir diese Blöße nicht geben.

„Miles …“

Ich bleibe noch einmal stehen, als er meinen Namen so sanft und liebevoll ausspricht, wie ich es gewohnt bin. Wieder einmal keimt die Hoffnung in mir auf, dass ich nicht ganz so dumm bin, wie ich mich gerade fühle. Dass er endlich einsieht, dass wir füreinander bestimmt sind.

„Hm?“

Seth seufzt, dennoch drehe ich mich ein Stück weit zu ihm um. „Dein Großvater hat gestern gesagt, dass du gerne zum Mittagessen vorbeikommen kannst. Sie wohnen im letzten Haus auf der rechten Seite. Ein mintgrünes mit großem Apfelbaum vor der Tür.“

„Das klingt, als würdest du mich nicht begleiten“, stelle ich dummerweise fest und ärgere mich erneut über mich selbst.

Ich bin so ein Idiot.

„Es ist deine Familie, Miles. Nicht meine. Ich habe getan, was ich tun konnte. Jetzt bist du an der Reihe.“

Ohne etwas zu sagen, schüttle ich den Kopf und drehe mich wieder von ihm weg, um die Tränen zu verbergen, die ich nicht mehr aufhalten kann.

Er ist so ein Arschloch. Er ist so ein selten dämliches Arschloch!

 

•••

 

Ich habe lange überlegt, ob ich den Weg zu Jack und den anderen auf mich nehme und ich muss zugeben, dass ich es mir alles andere als leicht gemacht habe. Aber letztendlich kann und möchte ich nicht einfach so verschwinden, ohne noch einmal in Ruhe mit ihnen gesprochen zu haben. Sie haben sich die Zeit genommen, mir alles zu erklären und sich auf eine Reise in die Vergangenheit begeben, die ihnen sicherlich alles andere als gutgetan hat. Ich fühle mich auf gewisse Art und Weise verpflichtet, mich noch einmal bei ihnen zu melden. Außerdem sind sie, wie Seth vorhin so schön sagte, meine Familie. Eine Familie, die ich bisher nicht kannte, die ich aber jetzt, wenn auch nicht unter schönen Bedingungen, dazugewonnen habe. Jack ist mein Großvater. Henry mein Onkel. Und Nora … Sie ist meine Cousine. Ja, es wäre definitiv feige und vor allem nicht fair, jetzt einfach zu verschwinden, obwohl das, ehrlich gesagt, genau das ist, was ich gerne tun möchte. Mich in den Flieger setzen und mich auf den Weg nach Hause machen. Weit weg von all dem Mist hier und vergessen, in was ich mich, idiotischerweise, verrannt habe. Vergessen, wie oft mich dieser Mistkerl zum Lachen gebracht hat. Wie oft die Schmetterlinge in meinem Bauch in seiner Gegenwart geflogen sind. Vergessen wie gut der Sex mit ihm war. Vergessen, wie gut mir seine Nähe tat. Ja, ich spreche bewusst in der Vergangenheit. Denn zwischen uns wird definitiv nie wieder etwas passieren.

Ich seufze und bleibe stehen, als ich an dem Haus, das Seth mir beschrieben hat, ankomme. Es ist nicht groß, aber wirklich sehr schön, wirkt in seiner mintgrünen Farbe wie etwas sehr Besonderes. Langsam trete ich an den weißen Zaun heran und versuche das mulmige Gefühl, das mich umgibt, etwas zu unterdrücken. Hier hat sie gewohnt. Hier ist sie aufgewachsen. Und hier … hier ist sie vielleicht auch gestorben. Auch wenn ich es nicht hundertprozentig weiß, so klingt das alles nach einem verdammten Thriller, der vielleicht sogar aus der Feder von Seth entsprungen sein könnte. Einer Fantasie, die vor einigen Jahren bittere Realität geworden ist. Und die mit meinem Leben stärker verknüpft ist, als ich jemals erwartet hätte. Ob es Zeitungsartikel darüber gibt? Mit Sicherheit. Ich könnte im Internet darüber recherchieren, falls sie mir nichts darüber erzählen wollen. Aber ob mir das helfen würde? Bestimmt nicht. Am Ende würde es mich nur noch tiefer in ein dunkles Loch ziehen.

Plötzlich muss ich an Miley denken. An ihre Reaktion, als ich ihr sagte, dass ich nach meinen leiblichen Eltern suchen möchte. Ihre Versuche, mich davon abzuhalten, hierherzufliegen, um herauszufinden, was passiert ist. Ich frage mich, ob sie gewusst hat, warum unsere Eltern mich adoptiert haben. Ob sie mich vielleicht nur schützen wollte?

Ich weiß es nicht.

Die Augen geschlossen, nehme ich einen tiefen Atemzug und trete durch das kleine Tor, das mich vom Vorgarten trennt. Vorbei am Apfelbaum und einigen Blumen, die gepflanzt wurden, begebe ich mich zur Haustür. Meine Knie sind noch weicher als auf dem Weg hierher. Meine Hände zittern, als ich mich entschließe, die Klingel zu drücken, und doch ziehe ich sie zunächst wieder weg. Mein Herz rast wie verrückt. Mein Kopf fühlt sich an, als hätte jemand Watte hineingepackt. Klar denken scheint gerade unmöglich.

Dennoch ringe ich mich schließlich dazu durch, die Hand erneut zu heben und die Klingel zu betätigen. Unsicher schiebe ich danach meine Hände in die Hosentaschen und warte darauf, dass sich im Inneren des Hauses etwas tut. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie nervös ich gerade bin, und doch bin ich froh darüber, dass mich das alles hier wenigstens von Seth ablenkt. Ich lerne die Familie meiner Mutter kennen und dann … Ach, ich weiß es doch auch nicht.

„Ja, ich mache schon auf“, höre ich eine Frau sagen und erwische mich dabei, wie ich einen Moment lang zusammenzucke. Wer sie wohl ist? Jacks Frau? Also meine Großmutter? Oder …

Ich erschrecke erneut, als sich die Tür vor mir öffnet und eine zierliche Frau mit ergrauten Haaren erscheint. Sie starrt mich an, als sie mich wahrnimmt, und ich bin mir sehr sicher, dass sie weiß, mit wem sie es zu tun hat. Ihr Mund öffnet sich leicht, doch kein einziges Wort kommt über ihre schmalen Lippen.

„Hallo, Misses …“, beginne ich, doch auch mir fällt es alles andere als leicht, weiterzusprechen. Ich bin durcheinander, aber sie offensichtlich auch. „Ich hab … Ich bin …“

„Ich weiß, wer du bist“, unterbricht sie mich schließlich mit einem leichten Lächeln auf den Lippen und tritt einen Schritt zur Seite. „Komm doch herein, Miles.“ Meinen Namen aus ihrem Mund zu hören, obwohl ich mich nicht einmal vorgestellt habe, ist merkwürdig, dennoch nicke ich und gehe anschließend an ihr vorbei ins Haus. Ich ziehe die Hände aus den Hosentaschen und bleibe stehen, während sie die Tür hinter uns schließt. „Ich habe nicht mit dir gerechnet. Jack hat erzählt, dass du gestern überstürzt davongelaufen bist.“

„Ja, das ist richtig“, erwidere ich und seufze. „Ich muss gestehen, dass ich mit der Situation sehr überfordert war. Und es ehrlich gesagt auch immer noch bin.“

„Das kann ich gut verstehen.“ Sie lächelt erneut. „Ich bin übrigens Hellen, Jacks Frau und deine …“

„Grandma …“, sage ich leise, was sie nicken lässt.

„Ganz genau. Los komm, gehen wir in den Garten. Jack kümmert sich gerade um unsere Blumen.“ Ich folge ihr durch das schöne und hell eingerichtete Haus. Vorbei an Möbeln aus weißem Holz, vielen Blumen und Bildern, die ich aber nur im Vorbeigehen überfliege. Auf einigen sind Kinder zu sehen, auf anderen ausschließlich Jack und Hellen. Ob meine Mutter ebenfalls zu sehen ist? „Jack? Kommst du mal bitte? Wir haben Besuch.“ Wir treten durch eine große Terrassentür in den riesigen Garten, der in der Mitte mit einem wunderschönen und großzügigen Teich ausgestattet ist. Unzählige Blumen, Bäume und Sträucher schreien geradezu nach verdammt viel Arbeit. Aber es ist unglaublich schön hier. „Setz dich, Miles. Möchtest du etwas trinken?“

„Sehr gerne. Ein Glas Wasser vielleicht.“

„Natürlich. Ich bin gleich wieder da.“

Sie geht zurück ins Haus, während ich, statt mich zu setzen, nach Jack Ausschau halte. Allerdings ist er bisher nirgendwo zu sehen. Erst nach einer gewissen Zeit lugt sein Kopf zwischen zwei blühenden Sträuchern hervor, was mich zum Grinsen bringt.

„Mein Rücken bringt mich irgendwann noch einmal um“, knurrt er und hält sich besagten, während er sich ein wenig streckt, nachdem er aufgestanden ist.

Dennoch muss ich grinsen. „Brauchen Sie Hilfe?“

„Nein, aber du, wenn du mich noch ein Mal mit Sie ansprichst.“ Er lächelt und kommt auf mich zu, während mein Herz mal wieder meint, viel zu schnell zu schlagen. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis ich mit der Situation zurechtkomme. „Ich freue mich, dass du hier bist, Miles. Nach gestern habe ich ehrlich gesagt nicht damit gerechnet.“

„Ich auch nicht, aber …“ Ich zucke die Schultern. „Ich wollte die Wahrheit wissen, also bringt es nichts, vor ihr davonzulaufen, nicht wahr?“

„Das ist eine gute Einstellung.“ Er macht eine Handbewegung nach vorn, bevor er einen Stuhl zurückzieht und sich auf diesen setzt. „Nimm Platz. Warum bist du überhaupt allein hier? Hatte Seth keine Lust?“

Ich schlucke hart und setze mich zunächst ebenfalls auf einen Stuhl, bevor ich ihm antworte. „Seth lässt sich entschuldigen, er muss noch arbeiten. Er wäre aber sehr gerne mitgekommen, wenn es sich hätte einrichten lassen.“

Mir gefällt nicht, dass ich lügen muss, aber die Wahrheit wollte ich ihm dann auch nicht erzählen. So ist es besser. So wird er definitiv nicht weiter nachfragen.

„Das verstehe ich. Die Arbeit lässt sich leider nur selten aufschieben.“

„Ja, auch wenn es manchmal ärgerlich ist.“

Er nickt, als Hellen mit einem Tablett in der Hand zurück nach draußen kommt. Sie stellt es auf dem Tisch ab und schiebt es in die Mitte. Neben dem Wasser, das ich haben wollte, hat sie noch Kaffee und ein paar Kekse mitgebracht.

„Ich dachte, vielleicht hat jemand Hunger“, sagt sie, stellt die Sachen vom Tablett und nimmt dieses anschließend an sich. „Und ich habe Henry angerufen. Er, Julie und Nora werden später auch zu uns stoßen.“

„Julie ist Noras Mutter“, beantwortet Jack die Frage in meinem Kopf, die ich mir aber schon selbst beantwortet habe. „Sie war Christins beste Freundin. Sie sind zusammen in den Kindergarten gegangen.“

„Ja, und dann hat sie sich in Henry verliebt“, führt Hellen seine Erzählung weiter und setzt sich zu uns an den Tisch. „Ich weiß noch genau, wie schrecklich Christin es fand, dass ausgerechnet er es sein musste. Das hat ihr anfangs ganz und gar nicht gepasst.“

Hellen lacht, dennoch ist der Schmerz in ihren Augen nicht zu übersehen.

„Henry ist Christins Bruder, richtig?“, frage ich, obwohl ich es schon weiß, seit ich Jack und Henry nebeneinander habe stehen sehen.

Es ist unverkennbar, dass die beiden Vater und Sohn sind.

Hellen nickt. „Nora ist somit deine Cousine, aber das weißt du ja sicherlich schon.“

„Ich habe es mir gedacht, ja.“ Ich lächle, auch wenn es mir schwerfällt. Denn obwohl die beiden wirklich sehr aufgeschlossen und nett sind, spürt man, wie bedrückend die ganze Situation ist. Und schlimmerweise fühle ich mich ganz allein dafür verantwortlich. „Es tut mir übrigens leid, dass ich euer Leben gerade so durcheinanderbringe. Hätte ich gewusst, welche Erinnerungen ich in euch auslöse, wäre ich vielleicht niemals hierhergekommen.“

„Nicht doch, das ist nun wirklich nicht nötig.“ Hellen legt ihre Hand auf meine und lächelt. „Wenn wir ehrlich sind, dann haben wir uns immer darauf eingestellt, dass dieser Tag irgendwann einmal kommen wird. Zwar wollten wir nie, dass Lynn und Darren dir die Wahrheit sagen, aber nun ist es eben doch dazu gekommen und das ist gut so. Wie ist es überhaupt dazu gekommen? Jack hat erzählt, dass sie bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind. Das ist wirklich schrecklich.“

„Ja, das ist es.“ Ich reibe mir den Nacken. „Wenn ich ehrlich bin, dann weiß ich nicht, ob Mom tatsächlich beabsichtigt hat, mir davon zu erzählen. Sicher, sie hat diesen Brief geschrieben, aber ob er tatsächlich in meine Hände gelangen sollte, weiß ich nicht. Zumindest nicht so früh, denke ich, aber die Dinge haben sich leider anders ergeben.“

„Sie hat dir also einen Brief geschrieben …“

Ich nicke zustimmend. „Ja, aber viel stand darin nicht. Nur eben, dass ich adoptiert bin und eine Postkarte von diesem Dorf lag dabei. Nur deshalb bin ich überhaupt hierhergekommen. Ich wusste ja nicht einmal, ob das eine etwas mit dem anderen zu tun hat.“

„Ich verstehe.“ Hellen nickt ebenfalls und sieht Jack einen Moment lang an. „Also haben sie deiner Schwester offenbar auch nichts davon gesagt.“

„Hm, da bin ich mir im Nachhinein nicht so sicher“, erwidere ich und lasse mir noch einmal einige Gespräche, die ich mit Miley geführt habe, durch den Kopf gehen. Wenn ich so recht darüber nachdenke, muss sie es gewusst haben. Warum sonst hätte sie mich mit aller Macht davon abhalten wollen, hierherzufliegen? „Aber ganz genau sagen, kann ich es erst, wenn ich wieder in Miami bin.“

„Ja, natürlich.“

Hellen verschränkt die Hände miteinander, während ihr Blick immer wieder zwischen mir und Jack hin und her schwankt. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich habe so viele Fragen und doch …

„Warum habt ihr … Ich meine …“

Ich schlucke und fahre mir anschließend durch das Haar, da ich einfach nicht weiß, wie ich meine Worte formulieren soll. Natürlich möchte ich Antworten, aber ich möchte Hellen und Jack nicht überfordern. Die Situation ist nicht leicht. Für keinen von uns.

„Wieso haben wir was?“, fragt sie aber dennoch nach, weshalb ich mit den Schultern zucke.

„Wieso habt ihr mich zur Adoption freigegeben? Ich meine, ihr hättet euch doch auch um mich kümmern können. Warum dieser Weg? Warum durfte ich nicht hierbleiben?“

„Das ist ganz einfach“, setzt Jack die Erzählung fort, weshalb ich ihn ansehe. „Du hast selbst gemerkt, dass in diesem Dorf jeder jeden kennt. Jeder weiß hier im Grunde über alles Bescheid, auch wenn der Mord an deiner Mutter mit den Jahren zum Glück ein wenig in Vergessenheit geraten ist. Die Älteren erinnern sich daran, ja, aber darüber geredet wird so gut wie gar nicht mehr. Was vermutlich auch daran liegt, dass niemand mehr daran denken wollte. Alle haben diese schreckliche Nacht von damals verdrängt und im Grunde war das auch gut so. Nur so konnten wir die Wahrheit vor den Kindern geheim halten. Nora zum Beispiel wusste bis gestern nicht einmal, dass du existierst. Du wirst meine Erklärung vielleicht nicht verstehen, denn wenn es doch alle vergessen und verdrängt haben, hättest du schließlich nicht gehen müssen, nicht wahr? Aber so leicht ist das Ganze nun mal nicht. Hellen und ich wussten, dass es, wenn du bei uns bleibst, garantiert nicht so gekommen wäre. Die Leute hätten tagtäglich in dein Gesicht gesehen und wären daran erinnert worden, was Schreckliches passiert ist. Sie hätten in dir den Mörder deiner Mutter gesehen und wir hätten es nie, niemals vor dir verheimlichen können. Aber genau das wollten wir. Wir wollten nicht, dass du erfährst, wozu dein Erzeuger im Stande war. Wir wollten nicht, dass du durch die Hölle gehen musst, nur weil dieser Mann …“ Er schluckt hart, doch ich beginne langsam zu verstehen. „Nur deshalb haben wir Lynn und Darren damals darum gebeten, dich aufzunehmen. Es ist uns alles andere als leichtgefallen, das musst du uns glauben, aber es war das Beste für dich. Hier wärst du niemals glücklich geworden. Hier hättest du niemals die unbeschwerte Kindheit gehabt, die wir uns für dich gewünscht haben, und deshalb haben wir dich schweren Herzens abgegeben. Aber wir wussten, dass du es bei den beiden gut haben wirst. Immerhin kannten wir sie schon lange und wussten, wie gut sie sich um Miley gekümmert haben. Es war das Beste für dich, auch wenn du uns das vielleicht nicht glauben magst.“

„Doch, ich glaube euch“, sage ich schnell, da ich nicht möchte, dass er den Eindruck hat, dass ich es nicht tue. Denn obwohl die ganze Sache immer noch schwer für mich zu verarbeiten ist, so kann ich nachvollziehen, was damals für ein Gefühlschaos bei ihnen geherrscht haben muss. Ihre Tochter war tot und der Vater ihres Enkels ein eiskalter Mörder. Wer weiß, wie ich selbst gehandelt hätte. „Die Situation war sicherlich nicht leicht und mir ist bewusst, dass ihr diese Entscheidung treffen musstet. Aber ihr sollt wissen, dass mir Lynn und Darren die besten Eltern waren, die man sich vorstellen kann. Sie waren unglaublich liebevoll und haben alles erdenklich Mögliche für mich getan, was man sich vorstellen kann. Ich möchte nicht, dass ihr denkt, dass ich hier bin, weil meine Kindheit grausam war. So ist es nämlich nicht. Ich wollte einfach nur antworten. Versteht ihr das?“

„Aber natürlich.“ Hellen legt erneut ihre Hand auf meine und lächelt mich ehrlich an. „Und dass Lynn und Darren dich gut behandelt haben, wissen wir. Immerhin haben sie uns regelmäßig Fotos von dir geschickt.“

„Wirklich?“ Ich sehe auf, weiß aber selbst nicht so genau, warum ich so überrascht darüber bin. „Ihr habt Fotos von mir bekommen?“

„Aber natürlich. Jedes Jahr zu deinem Geburtstag und zu bestimmten Anlässen. Warte.“ Hellen lässt meine Hand los und steht auf, während ich ihr gespannt hinterhersehe,  während sie kurz im Haus verschwindet. Nein, ich habe nicht damit gerechnet, dass sie tatsächlich irgendwie über mein Leben Bescheid wussten. Aber das zeigt mir ja eben auch, dass ich ihnen alles andere als egal war. „Lynn hat ihre Aufgabe, uns immer zu zeigen, wie es dir geht und wie du dich entwickelst, sehr ernst genommen. Nicht wahr, Jack?“

Sie legt ein dickes Fotoalbum auf den Tisch, während sie sich zu uns zurücksetzt. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlägt sie dieses auf und ich kann kaum in Worte fassen, wie sehr mich das hier gerade freut. Ich war ihnen also nicht egal. Sie haben mich für das, was mein Vater getan hat, nicht gehasst.

„Ja, das stimmt. Und auf diesem Weg hatten wir dich immer auf gewisse Art und Weise bei uns. Das hat uns sehr geholfen.“

„Ihr hättet mich besuchen können …“, kommt es schneller aus meinem Mund, als ich darüber nachdenken kann, doch genau das ist es, was mir durch den Kopf geht. Ich verstehe, dass sie nicht wollten, dass ich hier aufwachse, aber als meine Großeltern hätten sie mich doch regelmäßig besuchen können. Ohne große Erklärungen. „Es tut mir leid, ich …“

„Nein, du hast recht.“ Jack seufzt und nimmt sich eines der Bilder, das im Fotoalbum steckt. Auf diesem bin ich vermutlich gerade einmal ein Jahr alt und halte grinsend einen Stoffhasen in den Händen. „Und ich denke auch, dass es dafür keine plausible, zu verstehende Erklärung gibt. Vielleicht sollten wir auch einfach ehrlich sein …“ Er sieht hinüber zu Hellen und seufzt, bevor er nach ihrer Hand greift. „Egoistischerweise haben wir wohl auch gedacht, dass es leichter für uns ist, die Sache zu verarbeiten, wenn wir nicht daran erinnert werden. Und das wären wir. Sieh dich an …“ Er nimmt ein weiteres Bild, auf dem ich schon älter bin. „Du bist nicht nur ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, sondern du hast auch noch die sanften Augen deiner Mutter. Wir hätten es nicht ertragen, dich zu sehen, und daran erinnert zu werden, dass deine Mutter tot ist. Du kannst darüber denken, was du möchtest, und uns dafür verurteilen, aber es ging einfach nicht. Sich Bilder anzusehen ist die eine Sache. Aber jemandem direkt in die Augen zu sehen, das …“

Als er mich ansieht, wird mir plötzlich noch mehr klar, was ich mit meinem Auftauchen hier angerichtet habe. Vielleicht haben sie in den letzten Jahren gelernt, mit der ganzen Situation umzugehen. Doch ich … Ich habe die alten Wunden brutal wieder aufgerissen.

„Ich weiß nicht, wie oft ich mich noch dafür entschuldigen muss, dass ich überhaupt hier aufgetaucht bin. Hätte ich gewusst, was meine Anwesenheit in euch auslöst, dann wäre ich wohl niemals auf die Idee gekommen, hierherzukommen. Ich wollte nur die Lücke in meinem Leben schließen, die so unerwartet aufgetaucht ist, dass ich sie nicht verarbeiten konnte. Aber jetzt frage ich mich, ob ich nicht besser auf meine Schwester gehört hätte …“

„Aber dafür musst du dich doch nicht entschuldigen.“

„Doch, das sollte er.“

Jacks Worte werden plötzlich von einer Frau unterbrochen, die mit ernstem Gesicht vor uns steht. Gefolgt von Henry und Nora, kommt sie langsam auf uns zu.

„Julie, Henry, Nora, habe ich etwa vergessen, die Haustüre zu schließen?“

Hellen steht auf, während ich und Jack sitzen bleiben, und geht auf die drei zu.

„Ja, sie war nur angelehnt“, erwidert Henry und begrüßt seine Mutter mit zwei Küssen auf die Wangen. „Wir hätten klingeln sollen, entschuldige bitte.“

„Ach was, das ist doch nicht schlimm. Los, setzt euch zu uns.“

Ich bin mir nicht sicher, ob Hellen Julies Aussage mit Absicht ignoriert, habe jedoch kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache. Sie scheint nicht besonders erfreut darüber zu sein, dass ich hier bin.

„Hallo, Dad“, sagt Henry und legt seinem Vater eine Hand auf die Schulter, während Nora zunächst ihre Oma und dann ihren Opa begrüßt.

„Oh, ihr seht euch alte Bilder an. Das ist ja schön.“ Nora setzt sich zu uns an den Tisch und zieht das Album an sich, als mir klar wird, dass ich nur zu gern nach Bildern meiner Mutter gefragt hätte. Jedoch entscheide ich mich zunächst dagegen. Es ist vermutlich zu viel des Guten. „Wie süß, das Eis ist ja größer als du.“

Nora lacht, doch ich kann den Blick nicht von Julie wenden, die noch immer wie angewurzelt in der Terrassentür steht. Geschockt und fassungslos starrt sie mich an, sodass es mir immer unangenehmer wird.

Was soll ich nur sagen?

Ich meine …

„Julie, möchtest du dich nicht zu uns setzen?“

Jack sieht sie nicht an, während er ihr diese Frage stellt, und ich kann mir nur zu gut vorstellen warum. Sie wirkt so kühl und distanziert, auch wenn ich sie ein wenig verstehe.

„Ganz sicher nicht“, antwortet sie kurz darauf und verschränkt die Arme vor der Brust. Mein Herz stolpert. Meine Hände werden feucht. Denn ich weiß, dass ihr Verhalten allein mir geschuldet ist. „Und ich frage mich, wie ihr das so einfach tun könnt. Habt ihr eigentlich Augen im Kopf? Da sitzt das Ebenbild eines Mörders!“

Die Lippen aufeinandergepresst, atme ich tief ein, während Jack langsam aufsteht. Hellen, die mittlerweile auch wieder bei uns sitzt, legt ihre Hand auf seinen Arm.

„Ich denke nicht, dass diese Vergleiche angebracht sind, Julie. Er ist ebenso Christins Sohn und wir werden ihn sicher nicht aus dem Haus werfen.“

Julie schüttelt bitter lachend den Kopf und ich möchte am liebsten aufstehen und gehen. Alles, was ich wollte, waren Antworten, aber sicherlich keinen Streit auslösen.

„Wer weiß schon, was er für einer ist. Wieso ist er überhaupt hier? Will er Geld? Oder Rache für seinen Vater nehmen, der zum Glück schon seit Ewigkeiten in einer Zelle schmort? Vielleicht sollten sie ihn direkt dazu setzen, damit er nicht irgendwann …“

„Julie, es reicht.“ Henry schlägt wütend auf den Tisch, weshalb nicht nur ich, sondern auch Nora neben mir zusammenzuckt. „Haben wir nicht zu Hause besprochen, dass du deine Gedanken für dich behältst?“

„Haben wir, ja, aber ich kann es nun mal nicht.“ Sie kommt näher. Ihre blauen Augen funkeln vor Zorn. „Nach all der schrecklichen Zeit war endlich Ruhe eingekehrt und jetzt steht dieser Kerl hier und wirbelt alles durcheinander. Konntet ihr heute Nacht ruhig schlafen? Oder habt ihr nicht vielleicht doch ununterbrochen Alpträume gehabt? Verdammt noch mal, er sieht aus wie er. Er sieht aus wie ein Mörder!“

Die Hände unter dem Tisch zu Fäusten geballt, weiß ich gerade nicht mehr, was ich denken soll. Ich wollte nur etwas über meine Vergangenheit erfahren. Stattdessen habe ich aber etwas ausgelöst, über dessen Ausmaß ich mir wahrscheinlich absolut nicht im Klaren bin. Sie sehen ihn in mir. Trotz der sanften Augen meiner Mutter bin ich einem Mörder wie aus dem Gesicht geschnitten.

„Julie, es reicht!“ Jack ist wütend, doch das ist das Letzte, was ich wollte. „Miles ist unser Gast und Enkel und du wirst dich sofort bei ihm entschuldigen!“

„Nein, das ist nicht nötig“, sage ich, bevor Julie dementieren kann, und stehe ebenfalls auf. „Ich kann verstehen, dass das alles zu viel für sie ist. Mir würde es vermutlich nicht anders gehen.“ Ich fahre mir durch das Haar und stelle mich den Blicken, die mich nun von allen Seiten treffen. Nora, Hellen, Jack und auch Henry sehen mich mitleidig an, doch das ist nicht notwendig. Niemand konnte das alles hier ahnen. „Vielleicht war das Treffen hier und heute ein wenig überstürzt. Nach gestern hätten wir wohl alle ein wenig Zeit gebraucht, um das Ganze zu verdauen und damit zurechtzukommen. Es tut mir leid. Das Letze, was ich wollte, ist Streit in diese Familie zu bringen. Ich wollte lediglich Antworten, aber ich kann Julies Reaktion nur zu gut nachvollziehen. Alte Wunden reißen auf und ich bin schuld daran. Das lag wirklich nicht in meiner Absicht.“

Ich trete einen Schritt zur Seite, da ich weiß, dass es besser ist, wenn ich jetzt gehe, doch Hellen hält mich am Arm fest.

„Du musst nicht gehen. Bleib doch und wir …“

„Doch, das muss ich.“ Ich lächle und lege meine Hand auf ihre. „Es ist einfach noch nicht die Zeit für diesen Schritt und das ist in Ordnung. In der Vergangenheit ist viel passiert. Auch ich muss damit zurechtkommen.“ Ich lasse sie los und lächle die anderen ebenfalls schweren Herzens an. „Trotzdem danke, dass ihr mich eingeladen habt. Es war schön, endlich einen Teil meiner Vergangenheit kennenzulernen. Verzeiht bitte, dass ich hier alles durcheinandergebracht habe.“

„Aber das …“

Ich bemerke, dass Hellen aufsteht, dennoch lasse ich mich in meiner Entscheidung, zu gehen, nicht aufhalten. Es wäre nicht richtig, Julie weiterhin zu quälen und vermutlich ist es bei den anderen nicht anders, auch wenn sie es nicht zugeben. Ich war hier und ich habe mit ihnen gesprochen. Mehr kann und möchte ich im Moment nicht verlangen. Alles andere ergibt sich vielleicht mit der Zeit. Auch wenn ich keine Ahnung habe, wie das überhaupt möglich sein soll.

„Miles, warte mal!“ Ich habe das Haus längst verlassen und bin schon ein ganzes Stück gelaufen, als Nora mir hinterhergelaufen kommt. Noch während ich stehenbleibe, drehe ich mich zu ihr um und warte, bis sie bei mir ist. „Mann, wie schnell bist du denn?“, fragt sie außer Atem, als sie neben mir zum Stehen kommt.

„Oder du bist einfach zu langsam“, witzle ich, auch wenn mir eigentlich gar nicht danach ist. „Ist alles in Ordnung?“

„Das kann man wohl nicht so sagen, hm?“

Sie sieht mich mitleidig an, doch ich zucke nur mit den Schultern. „Nach allem was war, kann man ihr nicht verübeln, dass sie mich mit solchen Augen sieht, Nora.“

Wir laufen langsam weiter. Ich schiebe die Hände in die Hosentaschen.

„Ich weiß nicht, meiner Meinung nach war ihre Reaktion nicht richtig, aber vielleicht sehe ich das auch nur so, weil ich das alles nicht miterlebt habe. Ich verstehe einfach nicht, wie man dich so sehr mit ihm vergleichen kann. Nur weil du sein Sohn bist und aussiehst wie er, bedeutet das doch nicht, dass du auch so bist wie er.“

„Ob du es glaubst oder nicht, aber ich verstehe sie. Was glaubst du, war gestern mein erster Gedanke? Der, dass ich sicherlich irgendwann so werde wie er. Dass ein Monster in mir schlummert, das irgendwann zum Leben erwacht. Das alles war ein Schock für mich und das ist es immer noch. Und sie alle haben es nicht nur erzählt bekommen, sie waren dabei.“

„Ich weiß, Mom meinte, sie war Christins beste Freundin. Trotzdem finde ich nicht gut, wie sie mit dir umgeht.“ Sie seufzt und schüttelt dabei den Kopf. „Ich hoffe, dir ist mittlerweile klar, dass du kein Monster bist, oder? Du darfst dich nicht mit ihm vergleichen.“

„Dasselbe hat Seth gestern auch gesagt. Irgendwie zumindest. Aber es ist nicht so leicht, den Gedanken überhaupt abzuschütteln.“

„Das verstehe ich, aber du musst dir immer wieder klarmachen, dass du ein anderer Mensch bist. Du bist sicherlich wie deine Mom. Das haben Grandpa und Grandma dir doch sicher auch gesagt.“ Ich nicke, auch wenn es nicht ganz der Wahrheit entspricht. Hellen sagte, ich habe ihre Augen. Ob ich aber ihren Charakter habe, kann sie ja gar nicht beurteilen. „Warum hat Seth dich eigentlich nicht begleitet?“

Ich fahre mir durch das Haar und sehe mich in der Gegend um. Sonnenstrahlen fallen glitzernd auf den kleinen Bach, der neben uns fließt, und die Schmetterlinge lassen sich auf den wunderschönen Blumen nieder.

„Weil er … Er wollte mir nur helfen, meine Familie zu finden, und das habe ich. Mit allem anderen hat er jetzt nichts mehr zu tun.“

„Hat er das so gesagt?“ Sie bleibt stehen und ich tue es ebenfalls, drehe mich zu ihr um. Schulterzuckend sehe ich ihr in die Augen. „Es ist meine Familie, nicht seine, war der ungefähre Wortlaut, ja.“

„Hm.“ Sie denkt einen Moment lang nach. „Ich finde das merkwürdig. Ich meine, ich hätte schwören können, dass ihr beide …“ Ich drehe mich von ihr weg, weil Seth das letzte Thema ist, worüber ich gerade sprechen möchte. Aber ich bin mir sicher, dass sie mich nicht so einfach davonkommen lassen wird. „Mensch, jetzt lauf doch nicht weg.“ Sie umfasst meinen Arm, weshalb ich erneut stehen bleibe. „Möchtest du darüber reden? Ich habe das Gefühl, als wäre da irgendwas.“

„Nora …“ Ja, natürlich ist da was, aber sie kann mir weder dabei helfen, noch irgendwas daran ändern. Seth ist, wie er ist, und das muss ich akzeptieren. „Manchmal beruhen Gefühle eben nicht auf Gegenseitigkeit, das muss man akzeptieren.“

„Hat er dir gesagt, dass er nichts für dich empfindet?“

„Belanglose Affäre. Du erinnerst dich?“

Ich seufze, auch wenn mir klar ist, dass sie nichts dafür kann.

„Ich erinnere mich, ja, aber auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Ich bin mir sicher, dass er Gefühle für dich hat. So wie er dich ansieht, dich berührt … Habt ihr schon mal darüber gesprochen?“

„Was soll man denn da reden, Nora?“ Ich fahre mit beiden Händen durch mein Haar und drehe mich nervös einmal herum. „Weißt du, ich … Als er vor ein paar Tagen sagte, dass man Küsse nicht an eben diese belanglose Affäre verschwendet, war mir alles klar. Er küsst mich nicht, folglich bin ich eben nur ein netter Spaß nebenbei für ihn. Aber dann kam gestern. Ich war so fertig wegen allem, was ich erfahren habe, aber Seth hat mich getröstet. Er war für mich da und dann …“

„Hat er dich doch geküsst.“

Ich nicke zustimmend. Mein Herz ist so schwer. Das ist alles zu viel für mich. „Die letzte Nacht mit ihm war so unbeschreiblich schön. Das war nicht nur Sex. Wir haben uns geliebt, zumindest habe ich das geglaubt. Aber dann … Heute Morgen war er wieder total kühl und abweisend. Es war schrecklich. Und als er dann auch noch abgelehnt hat, mich zu begleiten, da …“

„War die ganze Sache für dich erledigt, ich verstehe.“ Nora seufzt und ich komme mir plötzlich vor wie ein dummer, kleiner Junge. Ich wollte es doch nicht anders, immerhin war von Anfang an klar, dass es nur Sex ist. Warum also beschwere ich mich jetzt? „Weißt du, ich denke, dass ihr zwei unbedingt miteinander sprechen solltet. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann wolltet ihr ja beide nur Sex, aber du hast Gefühle für ihn entwickelt, oder?“

Ich nicke zustimmend. „Ja, dumm eben.“

Nora lächelt. „Das ist nicht dumm, das passiert. Allerdings stellt sich für mich die Frage, ob er nicht genauso verwirrt ist wie du. Vielleicht hat er ja Angst, es zuzugeben, weil er nicht weiß, was du denkst.“

„Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass ich heute Morgen mehr als deutlich war. Hm.“

„Hast du es ihm gesagt?“ Ich schüttle den Kopf. „Siehst du, und ich denke, genau das solltest du tun. Geh zurück und sag es ihm, damit du wenigstens schon mal ein Problem aus dem Kopf hast.“

„Das setzt voraus, dass er es genauso sehr möchte wie ich“, gebe ich ihr zu verstehen, zweifle jedoch an meinen Worten.

Wenn er mich wirklich wollen würde, dann hätte er heute Morgen …

„Hör auf so viel zu denken, Miles“, sagt sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen. „Ich habe dir jetzt schon ein paar Mal gesagt, dass ich davon überzeugt bin, dass er in dich verliebt ist. Ich kann mir absolut nicht vorstellen, dass es anders sein soll.“

„Hm …“ Mehr bekomme ich nicht heraus. Ich sag ja, ich stelle mich an wie ein Teenager.

„Miles …“ Sie umarmt mich kurz, dann sieht sie mich wieder an. „Geh zurück, sprich mit ihm, und hol dir die Unterstützung, die du gerade brauchst. Du hast in den letzten beiden Tagen sehr viel erfahren und damit musst du erst einmal zurechtkommen. Du brauchst jemanden, der für dich da ist, und Seth wird es sein. Ruh dich ein wenig aus, bevor du weitere Entscheidungen triffst. Ich denke, es ist nicht falsch, wenn ein paar Tage vergehen und gerade Mom sich ein wenig beruhigen kann.“

Ich nicke, da ich absolut ihrer Meinung bin. Es wird nichts bringen, jetzt alles übers Knie zu brechen. Zeit, ja. Das ist das, was wir alle brauchen.

„Sagst du Ihnen trotzdem noch mal, dass es mir leidtut?“

Nora lächelt und gibt mir einen Kuss auf die Wange. „Das kann ich machen, auch wenn ich denke, dass das nicht nötig ist.“

„Es wäre mir aber wichtig.“

„Und genau deshalb mache ich es ja.“

 

•••

 

Ich bin noch eine ganze Weile lang durch den Wald gelaufen, da ich zunächst den Kopf freibekommen wollte. Ich wollte nicht von einem Donnerwetter in das nächste, und ich bin mir sicher, dass es genau so gekommen wäre, so wie ich mich im Moment fühle. Das Gespräch mit meinen Großeltern war nicht gerade einfach und vor allem Julies Worte machen mir noch immer zu schaffen. Ich weiß einfach nicht, was ich denken soll. Ich meine … Natürlich, wie ich vorhin schon Nora sagte, kann ich sie in gewisser Weise verstehen. Mich nach all den Vorkommnissen von damals zu sehen, war und ist sicherlich nicht leicht und es ist nachvollziehbar, dass sie nicht sehr begeistert darüber ist. Dennoch hat mir ihre Wortwahl verdammt wehgetan. Vor allem, weil ich diese Gedanken gestern ständig hatte. Ich sehe aus wie er. Bin ich vielleicht auch wie er?

Nein, denke ich und schüttle automatisch den Kopf. Ich muss an Seth‘ Worte denken. Deine Augen spiegeln deine Seele wider, Miles … Und deine sind so klar und rein wie dein Herz. Sie haben mich binnen von Sekunden geheilt. Tränen steigen mir in die Augen und ich habe alle Mühe, sie zurückzuhalten, während ich stehen bleibe, um nach oben in den Himmel zu sehen.

Nein, Nora kann sich nicht täuschen. Sie muss richtig liegen, was Seth betrifft. Nach alldem, was passiert ist … Nach unserer letzten Nacht … Seine Worte …

Das, was ich empfunden habe, kann ich mir nicht eingebildet haben. Es kann nicht sein, dass Seth sich in diesen Momenten einfach nur verstellt hat. Es muss etwas anderes hinter seinem Verhalten stecken und Nora hat recht: Es ist an der Zeit, es endlich herauszufinden.

Als ich die Tür zur Hütte aufschließe, vernehme ich nichts. Es ist still wie immer, aber ich habe nichts anderes erwartet. Seth wird an seinem Laptop sitzen und arbeiten, weshalb ihm sicher nicht gefallen wird, dass ich ihn gleich stören werde. Ich muss lächeln. Wenn ich daran denke, wie sehr wir uns ständig mit irgendetwas aufgezogen haben, wird mir warm ums Herz. Diese Neckereien haben mir gefallen, doch leider haben sie in den letzten Tagen viel zu sehr nachgelassen. Die Stimmung zwischen uns ist angespannter geworden. Noch ein Grund mehr, endlich reinen Tisch zu machen und mit ihm zu reden.

„Seth? Ich bin wieder zurück. Ich sag dir, das war alles andere als leicht für mich.“ Ich versuche, so locker wie möglich zu klingen, während ich meine Schuhe ausziehe und sie zur Seite stelle, doch ich bin mir sicher, dass mir das nicht sonderlich gut gelingt. Ich bin nervös, aber was soll’s. Wird schon. Hoffe ich. „Und du? Bist du bei deinem Manuskript weitergekommen?“

Mit klopfendem Herzen gehe ich Richtung Wohnzimmer und werfe einen Blick hinein, muss aber schnell feststellen, dass Seth gar nicht dort ist. Sein Laptop steht nicht mehr an Ort und Stelle und der Stuhl ist unter den Schreibtisch geschoben. Merkwürdig , denke ich und fahre mir durch das Haar, bevor ich ihn im Badezimmer, in der Küche und im Schlafzimmer suche. Aber auch dort ist er nirgendwo zu finden, was mich, ehrlich gesagt, von Sekunde zu Sekunde nervöser macht. Er ist bestimmt nur zum See und hat sich dort zum Schreiben in die Sonne gelegt , geht es mir durch den Kopf, aber glauben kann ich nicht so recht daran. Seth schreibt normalerweise nirgendwo anders als hier. Aber wo ist er dann hin? Ich meine …

Meine Gedanken fahren Achterbahn und ich weiß nicht mal so genau, warum ich gerade in eine Art Panik verfalle, aber irgendetwas in mir weiß, dass er nicht ohne Grund verschwunden ist. Irgendetwas stimmt nicht, was sich auch bestätigt, als ich den Kleiderschrank im Schlafzimmer öffne und feststelle, dass ein paar seiner Sachen fehlen. Ein schneller Blick auf den Schrank löst einen weiteren Stich in meinem Herzen aus: Seine Reisetasche fehlt. Aber das …

„Er kann doch nicht … Nein …“

Ich fahre mir durch das Haar und reibe anschließend meinen Nacken, bevor ich mich einmal im Kreis drehe. Plötzlich fühle ich mich, als könnte ich jeden Moment in Ohnmacht fallen. Seth ist weg. Ohne ein Wort, ohne ein letztes Gespräch hat er mich einfach alleingelassen. Das kann aber doch nicht sein. Ich meine … Warum?

„Scheiße, Mann“, sage ich und lasse mich auf dem Bett nieder. Den Kopf in meine Hände gelegt, versuche ich inständig, mich wieder zu beruhigen, doch das Atmen fällt mir so schwer, dass mir schwindelig wird. Der dicke Kloß in meinem Hals lässt mich kaum schlucken. Das Kribbeln in meinen Händen wird unerträglich. Das kann er doch nicht machen. Ich verstehe das einfach nicht.

In diesem Augenblick bereue ich, dass ich heute Morgen überhaupt einfach so verschwunden bin. Ich hätte da schon mit ihm reden sollen. Spätestens, als er mich abgewiesen hat, wäre ein Gespräch vonnöten gewesen, aber nein, ich Feigling habe gedacht, dass es besser ist, wenn ich schweige. Dass es am Ende ja sowieso nur wehtut und ich …

„Scheiße, verdammt!“, fluche ich und schüttle den Kopf, als ich im Augenwinkel einen Briefumschlag auf dem Nachttischchen erkenne. Wie in Trance hebe ich die Hand und nehme ihn an mich. In feinsäuberlicher Schrift steht mein Name auf dem weißen Papier. Meine Finger zittern, als ich ihn öffne und den Zettel heraushole, der nicht nur akkurat gefaltet ist, sondern sogar irgendwie nach ihm riecht. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, dennoch habe ich das Gefühl, als wäre er mir plötzlich wieder ganz nah. „Was geht in deinem Kopf nur vor, Seth?“, frage ich mich leise und falte den Brief auseinander, der länger ist, als ich es erwartet habe. Es ist keine kleine Notiz. Keine kurze Verabschiedung. Und doch, oder gerade deshalb, fange ich mit Bauchschmerzen an zu lesen.

 

Mein lieber Miles,

 

ich weiß, dass du gerade auf dem Bett sitzt, herausgefunden hast, dass ich nicht mehr da bin, und die Welt nicht mehr verstehst. Aber glaube mir, es ist das Beste so, auch wenn ich es mir alles andere als leicht gemacht habe.

Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Oder wie ich dir erklären kann, dass es besser ist, wenn wir uns ins Zukunft nicht mehr sehen. Aber zunächst einmal hoffe ich, dass du bei deinen Großeltern heute das bekommen hast, was du dir gewünscht hast. Nämlich Antworten auf das, was dich die ganze Zeit über so sehr belastet hat. Dein Großvater und auch dein Onkel haben einen sehr netten Eindruck auf mich gemacht und ich bin fest davon überzeugt, dass sie dich auch heute mit offenen Armen empfangen haben. Ich schätze, sie konnten gar nicht anders, als dich von Anfang an in ihr Herz zu schließen, denn genau das habe ich auch getan. Du bist ein Mensch, der, wenn er einen Raum betritt, sofort alle Aufmerksamkeit erhält. Der präsent und stark ist und mit seiner Ausstrahlung andere Blicke auf sich zieht, auch wenn dir das in diesem Moment gar nicht bewusst ist. Aber genau aus diesem Grund bin ich mir sicher, dass die beiden dir den letzten Zweifel, du könntest ein Monster sein, genommen haben. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass es anders gewesen sein soll, denn ich habe in den Augen deines Großvaters gesehen, dass er froh darüber war, dich endlich kennenlernen zu dürfen.

 

Ich schlucke hart und lasse den Brief einen Moment lang sinken. Mein Atem geht noch immer viel zu schwer und mein Herz droht aus meiner Brust zu springen. Ja, vielleicht hat er zum Teil recht. Meine Großeltern waren toll und ganz und gar nicht abweisend zu mir. Aber Julie, sie …

 

Sie haben unbeschreibliches Glück, dass du jetzt endlich Teil ihres Lebens wirst und ich wünschte, ich könnte dasselbe von mir sagen, aber ich kann es nicht.

Miles, ich … Ich will ehrlich zu dir sein. Wenn ich könnte, dann würde ich die letzten Tage rückgängig machen. Nicht, weil ich sie nicht genossen habe. Im Gegenteil. Das habe ich. Sehr sogar. Die Zeit mit dir war wunderschön. Sie war locker, lustig, angenehm, aber ja, vor allem war sie wunderschön. Mit dir Zeit zu verbringen, war etwas, das ich so in der Art noch nie zuvor gemacht habe. Mit dir zu lachen war eine Wohltat. Mit dir zu reden etwas, das mit nichts zu vergleichen ist. Und mit dir zu schlafen war wohl das Beste, was ich in meinem Leben je erlebt habe. Du bist das Beste, was ich in meinem Leben je erlebt habe, und dafür danke ich dir. Es lag in keinem einzigen Moment der letzten Tage in meiner Absicht, dir wehzutun oder dich zu verletzen. Leider habe ich es am Ende getan, weil ich nicht mehr nachgedacht habe. Ich hätte es nicht zulassen sollen, dass du mir so nahekommst, aber am Ende ist es eben doch passiert und ich …

 

Es ist, als würde ich sein Seufzen spüren und sehen, wie er den Stift zur Seite legt und eine Pause macht. Wie er dasitzt und den Kopf in seine Hände legt, weil er nicht weiß, was er schreiben soll.

Seine Worte berühren mich, doch sie tun mir ebenso sehr weh. Ich verstehe das alles nicht.

 

Es ist nicht leicht, dir das alles zu erklären und am Ende kann ich es auch nicht. Vermutlich, weil es besser ist, wenn du die Wahrheit über mich nicht kennst, weil sie dein Bild über mich komplett verschieben würde. Gerade nach den letzten Tagen weiß ich wieder, dass ich meine Vergangenheit nun mal nicht leugnen kann und glaube mir, ich bin einfach nicht der Mensch, für den du mich hältst. Ich bin nicht der Mann, der dir offensichtlich den Kopf verdreht hat. Der Mann, dem du den Kopf verdreht hast. Ich bin nicht gut für dich, Miles, und das ist der Grund, warum ich gehen muss. Der Grund, warum wir uns nicht mehr wiedersehen können, und ich bin froh darüber, dass wir nie darüber gesprochen haben, wer ich in Wirklichkeit bin. Du musst mich so in Erinnerung behalten, wie du mich kennengelernt hast. Als arroganten Pornofilmproduzenten, als Thrillerautor, der hier gerade unzählige Morde plant, oder eben als den Mann, der dich niemals im Leben vergessen wird.

Die Zeit mit dir war schön, Miles, dennoch bitte ich dich hier und jetzt, nicht auf mich zu warten und zu gehen. Ich werde in absehbarer Zeit nicht zurückkommen, ganz egal wie schwer es mir fällt.

Ich bin nicht gut für dich.

Du hast einfach etwas Besseres verdient.

 

Langsam lasse ich den Brief sinken und lege ihn auf meinen Oberschenkeln ab, weiß noch immer nicht, was ich denken soll. Wieso tut er das? Warum wehrt er sich so sehr gegen das, was gänzlich offensichtlich ist?

Meine Augen wandern über die geschriebenen Zeilen, doch verstehen kann ich sie beim besten Willen nicht. Wenn er mir wenigstens erklären würde, warum er glaubt, dass er nicht gut für mich ist. Aber nein, mit keinem Wort versucht er, die ganze Sache zu klären. Aber das passt zu ihm und seinem defensiven Verhalten. Er war die ganze Zeit über nicht sonderlich offen, was sein Leben angeht, und wenn ich ehrlich bin, dann weiß ich so gut wie gar nichts über ihn. Vielleicht hätte ich direkter sein müssen? Ihn mehr fragen? Darauf bestehen, dass er über gewisse Dinge mit mir spricht?

Nein …

Ich schüttle den Kopf.

Es wäre vollkommen egal gewesen, wie oft ich ihn gefragt hätte, Seth wäre mir gegenüber niemals offener gewesen. Er ist und bleibt ein Buch mit sieben Siegeln, was das alles hier nicht unbedingt besser macht. Ich kann doch jetzt nicht einfach den Brief zur Seite legen, packen und nach Hause fahren. Ich meine …

Seufzend lege ich den Brief auf die Matratze und stehe auf, gehe hinüber zum Fenster. Mein Blick fällt auf die beiden Stühle, in denen wir vor ein paar Tagen noch gesessen haben. Die Stille war so schön. Unsere Gespräche angenehm. Seth‘ Nähe etwas, das ich eigentlich nicht mehr missen wollte. Doch jetzt? Was ist das Richtige? Was soll ich tun? Vorhin war ich noch fest davon überzeugt, dass ich mit ihm reden muss. Gerade glaube ich aber nur noch, dass es vielleicht das Beste ist, seinem Wunsch erst einmal nachzugehen. Es wird nichts bringen, hier auf ihn zu warten, denn selbst wenn er irgendwann auftaucht, wird er sich so sehr unter Druck gesetzt fühlen, dass er nicht mit mir reden wird.

„So eine Scheiße“, sage ich leise zu mir selbst und fahre mir durch das Haar, bevor ich mich umdrehe und zurück zum Bett laufe. Ja, vielleicht ist es tatsächlich das Beste, wenn ich erst einmal zurück nach Miami fliege. Wenn ich ihm den Abstand gebe, den er möchte, damit er Zeit zum Nachdenken hat. Auch wenn es mir schwerfällt, sollte ich ihn nicht bedrängen. Das würde bei Seth nur das Gegenteil von dem erreichen, was ich eigentlich möchte.

Kopfschüttelnd drehe ich mich Richtung Schrank, um meine Sachen einzupacken, als mir im Augenwinkel plötzlich ein kleines Stück Papier auffällt, das unter dem Bett liegt. Ich weiß nicht warum, aber ich kann es nicht ignorieren, weshalb ich mich bücke, um es aufzuheben und an mich zu nehmen.

 

Ethan López Stiftung

Suchthilfe, Drogenberatung

 

Ich lese weiter. Telefonnummer. Adresse. E-Mail …

Das muss eine der Karten sein, die Seth dem Kerl in der Stadt gegeben hat.

Ethan López … Von ihm habe ich unzählige Bücher in meinem Regal. Aber das kann doch nicht. Ich meine … Natürlich, er hat immer ein Riesengeheimnis um sein Pseudonym gemacht. Er wollte nicht, dass ich herausfinde, wer er ist, weil er vermeiden wollte, dass ich ihn mit anderen Augen sehe. Aber hätte ich das getan? Hätte ich nicht mehr den Menschen in ihm gesehen, der er tatsächlich ist, nur weil er einer der berühmtesten Autoren ist, den ich kenne? Ich hatte ja nicht einmal ein Bild von ihm vor Augen, weil ich mich mit so etwas nicht beschäftige. Ob es etwas mit dieser Stiftung zu tun hat? Vielleicht hat er ja …

O Mann , denke ich und fahre mir erneut durch das Haar. Aber das kann doch nicht der Grund sein, warum er mich so auflaufen lässt. Es muss noch etwas anderes dahinterstecken. Aber was?

Seufzend und immer noch im Ärger darüber, dass ich nicht vorher mit ihm gesprochen habe, schiebe ich die Karte in meine Hosentasche und nehme anschließend meinen Koffer vom Schrank.

Seth möchte seine Ruhe und die soll er bekommen. Aber er soll ja nicht glauben, dass ich so schnell aufgeben werde …