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Das Gespräch mit Nora war länger, als ich es erwartet habe, doch ich muss zugeben, dass es mir verdammt gutgetan hat. Es war schön, mir die Sache mit Seth mal von der Seele zu reden und nicht nur alles in mich hineinzufressen. Nora hat mir zugehört und mich am Ende darin bestärkt, die ganze Sache nicht einfach auf sich beruhen zulassen. Sie ist ebenfalls der Meinung, dass ich noch einmal persönlich mit Seth reden soll. Aber eben noch nicht jetzt. „Gib ihm noch ein bisschen Zeit“, hat sie gesagt und damit genau das bestätigt, was ich vorhabe. Ich werde warten, auch wenn ich bisher keine Ahnung habe, wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist.

Seufzend werfe ich mein Handy aufs Bett und mich anschließend daneben, hoffend, dass ich das Licht am Ende des Tunnels schneller sehe, als es meine Hoffnung erlaubt. Ich bin müde und ausgelaugt, was auch einer der Gründe dafür ist, dass ich Miley geschrieben habe, dass ich heute nicht mehr vorbeikommen werde. Deshalb, und weil ich immer noch sauer auf sie bin, weil sie Cole gesagt hat, dass ich wieder zurück in Miami bin. Ich verstehe das einfach nicht. Ich meine, warum überlässt sie solche Entscheidungen nicht einfach mir selbst? Sie weiß doch, dass wir getrennt sind. Da kann sie doch nicht hingehen und ihm sagen, dass ich wieder hier bin, damit wir auch auf jeden Fall zusammentreffen. Sie wusste ja nicht einmal, ob ich ihn überhaupt sehen möchte. Wovon man auch nicht ausgehen braucht, wenn man weiß, dass wir gerade mal ein paar Tage getrennt sind und …

Ich schüttle den Kopf, verdrehe die Augen und reibe mir über das Gesicht. Im Grunde bringt es eh nichts, sich darüber aufzuregen. Sie ist meine große Schwester und wird sich immer um mich sorgen. So war es früher schon. Wenn mich zum Beispiel in der Schule jemand geärgert hat, dann war sie sofort zur Stelle und hat dafür gesorgt, dass derjenige mich in Ruhe lässt. Oder wenn wir als Kinder etwas angestellt haben, war meist sie diejenige, die den Ärger auf sich genommen hat, um mich zu schützen. Sie war immer für mich da und genau das ist es wohl, was sie auch heute noch möchte. Dennoch hätte ich mir gewünscht, dass sie mich zumindest unterstützt hätte, meine leiblichen Eltern zu finden, statt mich davon abhalten zu wollen. Das alles ist so verzwickt und ich weiß gar nicht, wie ich zur Ruhe kommen soll. Vielleicht hätte ich noch ein paar Tage woanders hinfliegen sollen. Irgendwohin, wo ich allein bin und nachdenken kann. Aber ob gerade jetzt allein sein das Richtige ist? Ich weiß es nicht.

Innerlich zerrissen, schließe ich die Augen, als es plötzlich an meiner Zimmertür klopft. Wie war das mit dem Alleinsein? Wenigstens eine halbe Stunde schlafen, aber nein …

Ein wenig genervt stehe ich auf, da es sich im Grunde nur um Miley handeln kann, da ich ihr vorhin, als ich ihr auch sagte, dass ich heute nicht mehr kommen werde, mitgeteilt habe, dass ich hier im Hotel bin. Einzig und allein, weil ich nicht wollte, dass sie sich Sorgen macht, und nicht, damit sie mir direkt hinterherlaufen kann.

Ich seufze erneut und fahre mir durch das Haar, bevor ich die Zimmertür öffne und überrascht darüber bin, dass nicht meine Schwester, sondern Alex vor der Tür steht.

„Du?“, frage ich verwirrt, da ich mit ihm überhaupt nicht gerechnet habe.

„Ja, ich“, erwidert er lächelnd und schiebt die Hände in die Hosentaschen. „Kann ich kurz reinkommen?“

„Na klar, komm nur.“

Ich gehe zur Seite, damit er eintreten kann, und schließe die Tür hinter uns. Darauf wartend, was er hier möchte, sehe ich ihm nach und betrachte ihn, als er mit dem Rücken zu mir stehen bleibt. Er sieht sich kurz um, dann dreht er sich zu mir zurück.

„Schönes Zimmer, aber sicher nicht billig, oder?“

Ich zucke die Schultern. „Für ein paar Tage geht es.“ Anschließend gehe ich an ihm vorbei, um mich wieder aufs Bett zu setzen. „Aber du bist doch sicherlich nicht hier, um mir zu sagen, wie schön das Zimmer ist, oder?“

„Nein, natürlich nicht.“ Er beginnt zu lachen, wird aber schnell wieder ernst. „Eigentlich bin ich hier, um die Situation ein bisschen zu klären. Miley ist fix und fertig und weint ständig und ich glaube, dass es dir auch nicht viel besser geht. Sie weiß auch nicht, dass ich hier bin, aber ich wollte nicht tatenlos zu Hause herumsitzen und abwarten. Es dauert nicht lange. Im Grunde möchte ich nur, dass du mir kurz zuhörst.“

Ich antworte ihm zunächst nicht, da ich gar nicht weiß, was ich dazu sagen soll. Dass Miley wegen mir weint, ist das Letzte, was ich wollte. Ich wollte nur, dass sie versteht, dass das, was sie getan hat, nicht in Ordnung war.

„Ich habe nicht vor, mich wegen der ganzen Geschichte mit ihr zu verkrachen, Alex. Aber du verstehst doch sicher, dass ich es alles andere als prickelnd finde, dass sie mir von meinem familiären Hintergrund nichts erzählt hat. Hinzu kommt dann noch, dass sie gehofft hat, dass ich es niemals erfahre. Das ist doch nicht in Ordnung.“

„Nein, das habe ich auch nicht gesagt. Ich war von Anfang an der Meinung, dass sie dir sagen soll, was passiert ist. Dann hättest du dir nämlich Vieles in den letzten Tagen erspart. Aber sie hat so sehr an dem Versprechen euren Eltern gegenüber festgehalten, dass ich sie einfach nicht überzeugen konnte.“

„Ich weiß, es ist nur …“

Ich sehe ihn an, woraufhin er sich in Bewegung setzt und neben mir Platz nimmt. „Mir ist bewusst, dass das für dich alles nicht nachvollziehbar ist, aber du kennst Miley. Das Letzte, was sie wollte, ist dir wehzutun. Sie hat die ganze Zeit über gehofft, dass du in Lightley nichts erfahren wirst und danach alles so sein wird wie vorher. Das, was damals passiert ist, ist eine schlimme Sache, und sie wollte dich schützen. Auf dem falschen Weg, wie wir beide wissen, ja, aber es wäre falsch, ihr daraus einen Vorwurf zu machen. Das alles war und ist nicht leicht für sie. Außerdem glaube ich, dass sie Angst hatte, dich zu verlieren.“

„Was? Aber wieso?“

Alex zuckt die Schultern. „Sie hat es so nie ausgesprochen, aber sie ist nun mal nur deine Adoptivschwester. Deine leibliche Familie ist einige hunderte Kilometer von hier entfernt. Ich schätze, dass sie immer noch glaubt, dass du dort hinziehen könntest, um ihnen näher zu sein. Mir ist bewusst, dass dein jetziges Wissen nichts an dem Verhältnis zu dir und Miley ändert, aber du kennst sie. Sie malt sich oft das Schlimmste aus, obwohl es am Ende nicht eintritt.“

„Hm …“ Ich stehe auf, schiebe die Hände in die Hosentaschen und stelle mich ans Fenster. Natürlich habe ich es von dieser Seite noch nicht betrachtet, da mir dieser Gedanke absolut nicht in den Sinn kam. Miley ist meine Schwester und sie wird es auch immer bleiben. Ich würde nie auf die Idee kommen, sie wegen den anderen einfach im Stich zu lassen. „Sie sollte mich gut genug kennen, um zu wissen, dass ich sie niemals im Stich lassen würde. Ich meine, natürlich werde ich meine leiblichen Großeltern und den Rest der Familie ab und zu besuchen, aber deshalb nimmt Miley doch nicht einfach so einen anderen Platz in meinem Leben ein.“

„Und du kennst sie gut genug, um zu wissen, dass sie dir nicht wehtun wollte. Miles …“ Als ich kurz zur Seite sehe, bemerke ich, dass er aufsteht und langsam auf mich zukommt. „Ich bin nicht hier, um dir meine Meinung aufzuzwingen oder dir einzureden, dass du dich unbedingt mit ihr vertragen sollst. Wenn du Zeit zum Nachdenken brauchst, dann sollst du diese auch haben, aber ich möchte einfach, dass du weißt, wie ich das Ganze sehe. Für deine Schwester war und ist die Situation nicht leicht. Sie wollte euren Eltern, aber auch dir gerecht werden. Sie hatte ihnen ein Versprechen gegeben, das sie nicht so einfach brechen konnte und ich möchte, dass du wenigstens versuchst, das zu verstehen. Sei nicht sauer auf sie, nur weil sie dir diesen Schmerz ersparen wollte. Dass das am Ende nicht richtig war, wissen wir alle, aber es ist nun mal nicht rückgängig zu machen. Miley liebt dich und das ist doch am Ende das Wichtigste. Oder etwa nicht?“

Ich drehe mich zu ihm und nicke wie selbstverständlich, denn im Grunde hat er recht. Miley ist der einzige Mensch, der mir noch geblieben ist, und auch wenn sie verdammten Mist gebaut hat, so ist es das sicherlich nicht wert, sich für die nächsten Jahre zu zerstreiten.

„Gib mir trotzdem noch ein wenig Zeit, ja? Die letzten Tage waren echt heftig und ich glaube, dass ich einfach noch ein wenig nachdenken muss. Verstehst du das?“

Alex nickt ebenfalls, dann lächelt er. „Du hast alle Zeit der Welt und Miley wird sich sicherlich freuen, wenn ich ihr das sage.“

„Danke, dass du da warst, Alex.“

„Ach was, nicht dafür.“