2

Es regnete. Cass saß mit der Sonntagszeitung und einer Tasse Kaffee auf dem Wohnzimmerfußboden. Sie überlegte, welches Foto von Richard sich auf der Titelseite der New York Times Book Review am besten machen würde. Das Telefon klingelte.

»Ja, bitte?«

Sie hörte ein Einatmen und eine tiefe, entfernt vertraute Stimme:

»Spreche ich mit Cass Silenski?«

»Ja.«

Mit Blick auf die Uhr fragte sie sich, wer das sein könnte. Es war halb elf, und sie war als Einzige schon auf.

»Also«, sagte die Stimme rasch, »ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern, aber wir sind uns einmal begegnet, downtown in einem Nachtclub, wo Rufus gespielt hat. Ich bin seine Schwester – Ida? Ida Scott …«

Cass erinnerte sich an eine sehr junge, bildschöne dunkle Frau mit einem rubinäugigen Schlangenring. »Ja, klar erinnere ich mich. Wie geht es Ihnen?«

»Gut. Na ja« – mit einem trockenen kleinen Lachen –, »eigentlich nicht so gut. Ich bin auf der Suche nach meinem Bruder. Ich rufe schon den ganzen Morgen bei Vivaldo an, aber er ist nicht zu Hause« – die Stimme bemühte sich, nicht zu zittern, nicht zu kippen –, »und deswegen rufe ich jetzt bei Ihnen an, weil ich dachte, vielleicht haben Sie ihn gesehen, Vivaldo, meine ich, oder können mir sagen, wo ich ihn erreiche.« Jetzt weinte die junge Frau. »Sie haben ihn nicht zufällig gesehen? Oder meinen Bruder?«

Cass hörte Lärm im Kinderzimmer. »Machen Sie sich bitte keine Sorgen«, sagte sie. »Wo Vivaldo heute Morgen ist, weiß ich nicht, aber ich habe Ihren Bruder gestern Nacht gesehen. Es ging ihm gut.«

»Sie haben ihn gestern Nacht gesehen?«

»Ja.«

»Wo denn? Wo war er?«

»Wir haben bei Benno’s was getrunken.« Dann erinnerte sie sich an Rufus’ Gesicht und spürte wider Willen eine dumpfe Beunruhigung. »Wir haben uns eine Weile unterhalten. Da ging’s ihm gut.«

»Ach!« Erleichterung durchströmte die Stimme, und Cass erinnerte sich an das Lächeln der Frau. »Na warte, wenn ich den in die Finger kriege!« Dann: »Wissen Sie, wo er hin ist? Wo er wohnt?«

Der Lärm im Kinderzimmer deutete auf einen Streit zwischen Paul und Michael in. »Das weiß ich nicht.« Ich hätte ihn fragen sollen, dachte sie. »Vivaldo weiß es bestimmt, sie waren noch zusammen, als ich gegangen bin. Hören Sie« – Michael schrie und fing an zu weinen, sie würden Richard aufwecken –, »Vivaldo kommt heute Nachmittag her, kommen Sie doch dazu!«

»Wann denn?«

»Ach, so um halb vier, vier. Wissen Sie, wo wir wohnen?«

»Ja. Dann komme ich auch. Vielen Dank.«

»Machen Sie sich bitte nicht so viele Gedanken. Das klärt sich bestimmt alles auf.«

»Ja. Wie gut, dass ich Sie angerufen habe.«

»Dann bis nachher.«

»Ja. Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen.«

Cass lief ins Kinderzimmer, wo Paul und Michael wild über den Boden rollten. Michael lag oben. Sie zerrte ihn hoch. Paul stand langsam auf, trotzig und beschämt. Immerhin war er schon elf und Michael erst acht. »Was soll der Radau?«

»Er wollte mir mein Schachspiel wegnehmen«, sagte Michael.

Der Kasten, das Brett und kaputte Schachfiguren lagen über beide Betten und im ganzen Zimmer verstreut.

»Gar nicht.« Paul sah seine Mutter an. »Ich wollte ihm bloß zeigen, wie man spielt.«

»Du weißt gar nicht, wie man spielt«, sagte Michael. Jetzt, da seine Mutter im Zimmer war, schniefte er ein, zwei Mal laut und fing an, seine Habe einzusammeln.

Paul wusste durchaus, wie man spielt – oder zumindest, dass Schach ein Spiel mit Regeln ist, die man lernen muss. Dann und wann spielte er mit seinem Vater. Aber er quälte auch gern seinen Bruder, der sich lieber Geschichten über seine Schachfiguren ausdachte und sie dabei durch die Gegend schob. Dafür brauchte er natürlich keinen Partner. Michael dabei zuzusehen, wie er Richards kaputtes altes Schachspiel missbrauchte, empörte Paul jedes Mal.

»Das ist egal«, sagte Cass, »du weißt, dass das Schachspiel Michael gehört und dass er damit machen kann, was er will. Und jetzt ab ins Bad und anziehen.«

Sie ging ins Badezimmer, um beim Anziehen zu helfen.

»Ist Papa schon wach?«, wollte Paul wissen.

»Nein, er schläft. Er ist müde.«

»Darf ich rein, ihn wecken?«

»Nein, nicht heute Morgen. Halt still.«

»Und sein Frühstück?«, fragte Michael.

»Das kriegt er, wenn er aufsteht.«

»Wir frühstücken nie mehr zusammen«, sagte Paul. »Warum kann ich nicht hin und ihn aufwecken?«

»Weil ich es dir sage.« Sie gingen in die Küche. »Wir können jetzt zusammen frühstücken, aber euer Vater braucht seinen Schlaf.«

»Er schläft immer«, sagte Paul.

»Ihr wart gestern total lange weg«, sagte Michael scheu.

Cass war als Mutter ziemlich unparteiisch, zumindest bemühte sie sich darum, aber Michaels scheuer, ernster Charme rührte sie manchmal auf eine Weise, wie Pauls offensivere, gewitzte Art es selten vermochte.

»Was geht denn dich das an?« Sie zerzauste ihm das rotblonde Haar. »Und überhaupt, woher weißt du das?« Sie sah Paul an. »Wahrscheinlich hat dieses Mädchen euch wieder erlaubt, bis in die Puppen auf zu sein. Wann seid ihr gestern Abend ins Bett gegangen?«

Ihr Ton hatte die beiden allerdings gleich gegen die Mutter vereint. Sie war ihr gemeinsamer Besitz, doch miteinander hatten sie mehr gemeinsam als mit ihr.

»Nicht so spät«, sagte Paul mit Bedacht. Er zwinkerte seinem Bruder zu und widmete sich seinem Frühstück.

Cass verkniff sich ein Lächeln. »Wie spät war es, Michael?«

»Weiß ich nicht«, sagte Michael, »aber es war total früh.«

»Wenn dieses Mädchen euch auch nur eine Minute später als zehn –«

»Nein, so spät war das nicht«, sagte Paul.

Sie gab auf, schenkte sich einen Kaffee ein und sah ihnen beim Essen zu. Dann erinnerte sie sich an Idas Anruf. Sie wählte Vivaldos Nummer. Es nahm keiner ab. Er war wahrscheinlich bei Jane, aber sie kannte weder Janes Adresse noch ihren Nachnamen.

Sie hörte Richard im Schlafzimmer und sah ihn schließlich in die Dusche wanken.

Als er rauskam, sah sie ihm eine Weile beim Essen zu.

»Richard?«, sagte sie dann, »Rufus’ Schwester hat angerufen.«

»Seine Schwester? Ah, ja, ich erinnere mich an sie, wir sind ihr ein Mal begegnet. Was wollte sie denn?«

»Wissen, wo Rufus ist.«

»Na, wenn sie das nicht weiß, woher zum Teufel sollen wir es dann wissen?«

»Sie klang sehr besorgt. Sie hat ihn, na ja, lange nicht gesehen.«

»Und da beschwert sie sich? Das Mistvieh hat wahrscheinlich das nächste wehrlose Mädchen aufgegabelt, das er verprügeln kann.«

»Ah – damit hat es nichts zu tun. Sie macht sich Sorgen um ihren Bruder, sie will wissen, wo er ist.«

»Na, einen sehr netten Bruder hat sie jedenfalls nicht; wahrscheinlich läuft sie ihm früher oder später irgendwo über den Weg.« Er blickte in ihr besorgtes Gesicht. »Himmel, Cass, wir haben ihn gestern Abend gesehen, es ist alles in Ordnung.«

»Ja«, sagte sie. »Sie kommt heute Nachmittag vorbei.«

»Herrgott. Wann denn?«

»So zwischen drei und vier, hab ich ihr gesagt. Ich dachte, bis dahin ist Vivaldo auch hier.«

»Gut, schön.« Er stand auf. Sie gingen ins Wohnzimmer. Paul stand am Fenster und blickte auf die nasse Straße. Michael kritzelte auf dem Fußboden in sein Notizbuch. Er hatte sehr viele Notizbücher, und alle waren angefüllt mit Bäumen, Häusern und Monstern und zutiefst rätselhaften Geschichten.

Paul trat vom Fenster zurück und stellte sich neben seinen Vater.

»Gehen wir jetzt?«, fragte er. »Es wird spät.«

Paul vergaß nie ein Versprechen oder eine Verabredung.

Richard zwinkerte Paul zu und bückte sich, um Michael eine kleine Kopfnuss zu verpassen. Michael reagierte darauf immer mit missmutigem, in sich gekehrtem Entzücken; er schien beschlossen zu haben, dass er seinen Vater genug liebte, um über gelegentliche peinliche Ausrutscher hinwegzusehen.

»Na los«, sagte Richard, »wenn ich euch ins Kino bringen soll, müsst ihr mal langsam in die Puschen kommen.«

Cass stand am Fenster und sah, wie die drei unter Richards Regenschirm davonzogen.

Zwölf Jahre. Dreiundzwanzig war sie gewesen, er fünfundzwanzig; es war mitten im Krieg gewesen. Sie war schließlich in San Francisco gelandet und hatte Geld dafür bekommen, dass sie ihre Zeit auf einer Schiffswerft absaß. Sie hätte es besser treffen können, aber es war ihr egal. Sie wartete einfach nur darauf, dass der Krieg zu Ende ging und Richard nach Hause kam. Er war in einem Versorgungslager in Nordafrika gelandet, wo er ihrem Eindruck nach die meiste Zeit damit zubrachte, arabische Schuhputzjungen und Bettler gegen die zynischen und bösartigen Franzosen zu verteidigen.

Sie rührte gerade Kuchenteig an, als Richard zurückkam. Er steckte den Kopf zur Küchentür rein, Wasser tropfte ihm von der Nasenspitze.

»Wie ist die Laune inzwischen?«

Sie lachte. »Trüber denn je. Ich backe Kuchen.«

»Das ist ein schlimmes Zeichen. Ich sehe wenig Hoffnung für dich.« Er trocknete sein Gesicht mit einem Geschirrtuch ab.

»Wo ist der Regenschirm abgeblieben?«

»Den hab ich den Jungs überlassen.«

»Ach, Richard, der ist doch so groß. Kann Paul überhaupt damit umgehen?«

»Nein, natürlich nicht«, sagte er. »Der Schirm wird bestimmt von einem Windstoß erfasst, sie werden über die Dächer davongetragen und wir sehen die beiden nie wieder.« Er zwinkerte. »Darum habe ich ihnen den Schirm dagelassen. So blöd bin ich ja nicht.« Er ging in sein Arbeitszimmer und machte die Tür zu.

Sie stellte den Kuchen in den Ofen, schälte Kartoffeln und Karotten, ließ sie im Wasser stehen und berechnete die Zeit fürs Roastbeef. Sie hatte sich umgezogen und den Kuchen zum Abkühlen rausgenommen, als es an der Tür klingelte.

Es war Vivaldo. Er trug einen schwarzen Regenmantel, und sein Haar war durcheinander und tropfnass vom Regen. Seine Augen wirkten schwärzer denn je und sein Gesicht bleicher.

»Heathcliff!«, rief sie. »Wie schön, dass du da bist!«, und zog ihn in die Wohnung, denn er schien sich nicht vom Fleck zu rühren. »Häng deine nassen Sachen ins Bad, ich schenk dir was ein.«

»Kluges Mädchen.« Er lächelte kaum. »Herrgott, pisst es draußen!« Er zog seinen Mantel aus und verschwand im Bad.

Sie klopfte an die Tür zum Arbeitszimmer: »Richard. Vivaldo ist hier.«

»Gut, ich komme gleich.«

Sie schenkte zwei Gläser ein und ging mit ihnen ins Wohnzimmer. Vivaldo saß auf dem Sofa, die langen Beine von sich gestreckt, und starrte den Teppich an.

Sie reichte ihm sein Glas. »Wie geht es dir?«

»Gut. Wo sind die Kinder?« Vorsichtig stellte er sein Glas auf das Tischchen neben sich.

»Im Kino.« Sie musterte Giovanni einen Moment. »Mag sein, dass es dir gut geht, aber du sahst schon mal besser aus.«

»Tja« – erneut das düstere Lächeln –, »ich bin noch nicht wieder nüchtern. Ich habe mich letzte Nacht mit Jane schwer betrunken. Nüchtern kann sie nicht vögeln.« Er nahm sein Glas, trank einen Schluck, zog eine krumme Zigarette aus einer seiner Taschen und steckte sie an. Einen Augenblick, über die Flamme der Zigarette gebeugt, sah er so traurig und erledigt aus, dass sie nichts sagte. »Wo ist Richard?«

»Er kommt gleich. Er ist im Arbeitszimmer.«

Er nahm einen Schluck und schien währenddessen zu überlegen, was er sagen sollte – vergeblich.

»Vivaldo?«

»Ja?«

»Hat Rufus letzte Nacht bei dir geschlafen?«

»Rufus?« Er sah erschrocken aus. »Nein. Wieso?«

»Seine Schwester hat angerufen, weil sie wissen wollte, wo er ist.«

Sie sahen sich an, und seine Miene jagte ihr erneut einen Schrecken ein.

»Wo ist er hingegangen?«, fragte sie.

»Ich weiß es nicht. Ich dachte, er wäre nach Harlem gefahren. Er ist einfach verschwunden.«

»Vivaldo, sie kommt heute Nachmittag.«

»Wer?«

»Seine Schwester, Ida. Ich hab ihr gesagt, dass er mit dir zusammen war, als ich gegangen bin, und dass du heute Nachmittag hier bist.«

»Aber ich weiß doch gar nicht, wo er ist. Ich saß hinten und hab mich mit Jane unterhalten, und er sagte, er würde aufs Klo gehen oder so, und ist nicht zurückgekommen.« Er blickte zum Fenster. »Wo er wohl hingegangen ist.«

»Vielleicht hat er einen Freund getroffen.«

Darauf ging er gar nicht erst ein. »Er hätte doch wissen müssen, dass ich ihn nicht einfach so abschreibe. Er hätte bei mir schlafen können, ich war dann sowieso bei Jane.«

Cass sah zu, wie er seine Zigarette im Aschenbecher ausquetschte.

»Ich habe nie verstanden, was Jane eigentlich von dir will«, sagte sie sachte. »Beziehungsweise was du von ihr willst.«

Er prüfte seine Fingernägel; sie waren schartig und trugen Trauer. »Keine Ahnung. Ich glaube, ich wollte einfach eine Frau für die langen Winterabende.«

»Aber sie ist so viel älter als du.« Sie nahm sein leeres Glas. »Sie ist sogar älter als ich.«

»Das hat damit überhaupt nichts zu tun«, sagte er verdrießlich. »Ich wollte einfach eine Frau, die irgendwie weiß, was Sache ist.«

Cass überlegte. »Ja«, sagte sie seufzend, »was ihre Sache ist, weiß sie.«

»Ich brauchte eine Frau, sie brauchte einen Mann. Was ist denn daran so verwerflich?«

»Nichts, solange es wirklich das ist, was ihr gebraucht habt.«

»Wieso, was glaubst du denn?«

»Ach, ich weiß nicht«, sagte sie. »Wirklich nicht. Nur, das hab ich dir schon mal gesagt, irgendwie lässt du dich immer mit unmöglichen Frauen ein – Huren, Nymphomaninnen, Trinkerinnen –, und ich glaube, du machst das, um dich zu schützen, vor was Ernstem. Was von Dauer.«

Er seufzte, lächelte. »Himmel, dabei will ich doch nur Freundschaft.«

»Ach, Vivaldo«, lachte sie.

»Wir beide sind Freunde.«

»Hm – ja. Aber ich war immer die Frau deines Freundes. Also denkst du bei mir nie an –«

»Sex«, sagte er. Und grinste. »Da wäre ich mir mal nicht so sicher.«

Sie wurde rot, zugleich verärgert und erfreut. »Ich rede nicht von deinen Fantasien.«

»Ich hab dich immer bewundert«, sagte er ernst, »und Richard beneidet.«

»Tja«, sagte sie, »da musst du wohl drüber wegkommen.«

Er antwortete nicht. Sie klimperte mit dem Eis im leeren Glas.

»Tja«, sagte er, »was soll ich machen? Ich bin kein Mönch, und ich hab es satt, immer nach Harlem zu rennen und dafür zu zahlen …«

»Weil du nach Harlem rennst«, sagte sie mit einem Lächeln. »Was bist du für ein guter Amerikaner.«

Das ärgerte ihn. »Ich hab nicht behauptet, dass sie besser sind als weiße Mädchen.« Dann lachte er. »Vielleicht sollte ich ihn mir einfach abschneiden.«

»Sei nicht so kindisch. Ehrlich. Du solltest dich mal hören.«

»Willst du mir erzählen, es kommt noch eine, die ihn braucht? Die mich braucht?«

»Ich will dir gar nichts erzählen«, sagte sie knapp, »nichts, was du nicht schon weißt.« Sie hörten Richards Tür. »Ich schenk dir noch was ein, jetzt kannst du dich auch genauso gut richtig betrinken.« Im Flur stieß sie mit Richard zusammen. Er hatte sein Manuskript dabei. »Willst du jetzt was trinken?«

»Furchtbar gern«, sagte er und ging ins Wohnzimmer. Von der Küche aus hörte sie ihre Stimmen, etwas zu laut, etwas zu kumpelhaft. Als sie ins Wohnzimmer zurückkam, blätterte Vivaldo im Manuskript. Richard stand am Fenster.

»Lies es einfach«, sagte er, »und denk dabei nicht an Dostojewskij und den ganzen Kram. Es ist einfach nur ein Buch – ein ziemlich gutes.«

Sie reichte Richard sein Glas. »Ein sehr gutes Buch«, sagte sie. Sie stellte Vivaldo sein Glas hin. Es überraschte sie, und auch wieder nicht, dass sie sich so darum sorgte, wie Richard Vivaldos Reaktion aufnehmen würde.

»Aber das nächste Buch wird noch besser«, sagte Richard. »Und ganz anders.«

Vivaldo legte das Manuskript beiseite und nippte an seinem Drink. »Gut«, sagte er grinsend, »ich lese es, sobald ich nüchtern bin. Wann auch immer«, brummte er, »das sein wird.«

»Und sei ehrlich, hörst du, du Mistkerl?«

Vivaldo sah ihn an. »Ich werde ganz ehrlich sein.« Vor Jahren hatte Vivaldo Richard seine Manuskripte mit praktisch denselben Worten überreicht.

Cass entfernte sich von den beiden und steckte sich eine Zigarette an. Dann hörte sie die Fahrstuhltür und sah auf die Uhr. Es war vier. Sie sah Vivaldo an. Es klingelte.

»Da ist sie«, sagte Cass.

»Immer mit der Ruhe«, sagte Richard. »Was guckt ihr so tragisch?«

»Richard«, sagte sie, »das ist bestimmt Rufus’ Schwester.«

»Na, dann lass sie rein. Lass sie nicht im Hausflur rumstehen.« Während er sprach, klingelte es erneut.

»O Gott«, sagte Vivaldo und stand auf, sehr groß und hilflos. Cass stellte ihr Glas ab und ging zur Tür.

Die Frau, die vor ihr stand, war hochgewachsen, kräftig, sehr sorgfältig gekleidet und etwas dunkler als Rufus. Sie trug einen Regenmantel mit Kapuze und hatte einen Schirm in der Hand; unter der Kapuze, im Schatten des Hausflurs, musterten die dunklen Augen im dunklen Gesicht Cass eingehend. Ein Hauch von Rufus lag in den Augen – groß, klug, wachsam – und in ihrem Lächeln.

»Cass Silenski?«

Cass streckte ihr die Hand entgegen. »Kommen Sie rein. Ja, ich erinnere mich an Sie.« Sie schloss die Tür. »Ich weiß noch, wie ich dachte, dass Sie eine der schönsten Frauen sind, die ich je gesehen habe.«

Die junge Frau sah sie an, und zum ersten Mal wurde Cass bewusst, dass eine schwarze Frau rot werden kann. »Ach, kommen Sie, Mrs Silenski –«

»Geben Sie mir Ihre Sachen. Und nennen Sie mich Cass.«

»Dann nennen Sie mich Ida.«

Cass hängte die Sachen weg. »Was zu trinken?«

»Ja, ich glaube, ich könnte was gebrauchen«, sagte Ida. »Ich habe diese Stadt durchkämmt, keine Ahnung, wie lange, auf der Suche nach diesem Tunichtgut von einem Bruder …«

»Vivaldo ist drinnen«, sagte Cass schnell; sie wollte Ida mit irgendwas vorbereiten, wusste aber nicht, womit. »Bourbon, Scotch oder Rye? Ich glaube, wir haben auch noch ein bisschen Wodka …«

»Bourbon.« Sie klang ein wenig außer Atem. Sie folgte Cass in die Küche und sah ihr beim Einschenken zu. Cass reichte Ida das Glas und sah ihr in die Augen. »Vivaldo hat ihn seit gestern Nacht nicht mehr gesehen«, sagte sie. Ida machte die Augen weit auf und schob die leicht zitternde Unterlippe vor. Cass berührte sie am Ellbogen. »Komm, gehen wir rein. Mach dir nicht solche Sorgen.« Sie gingen ins Wohnzimmer.

Vivaldo stand genau so, wie sie ihn zurückgelassen hatte, als hätte er sich überhaupt nicht bewegt. Richard erhob sich vom Sitzkissen; er hatte sich die Nägel geknipst. »Mein Mann Richard«, sagte Cass, »und Vivaldo kennst du ja.«

Sie gaben sich die Hand und murmelten Begrüßungen inmitten einer Stille, die zu stocken begann wie geschlagenes Eiweiß. Sie setzten sich.

»Tja!«, sagte Ida zittrig. »Lange her.«

»Über zwei Jahre«, sagte Richard. »Ein Mal durften wir dich sehen, und dann hat Rufus dich irgendwo versteckt. Sehr weise von ihm.«

Vivaldo sagte nichts. Seine Augen, seine Augenbrauen, seine Haare sahen aus wie Holzkohlestriemen auf toter weißer Oberfläche.

»Aber keiner von euch«, sagte Ida, »weiß, wo mein Bruder jetzt ist?« Und sie blickte sich im Zimmer um.

»Er war gestern Nacht bei mir.« Vivaldos Stimme war zu leise, Ida beugte sich vor, um ihn zu hören. Er räusperte sich.

»Wir haben ihn alle gesehen«, sagte Richard, »es ging ihm gut.«

»Er sollte eigentlich bei mir übernachten«, sagte Vivaldo, »aber wir – ich – hab mich mit jemandem unterhalten, und als ich hochguckte, war er weg.« Das fand er wohl nicht allzu geschickt. »Es waren viele Freunde da; ich dachte, er trinkt was mit ihnen und hat vielleicht beschlossen, bei ihnen zu übernachten.«

»Kennst du diese Freunde?«, fragte Ida.

»Na ja, vom Sehen schon. Ich kenne sie nicht – namentlich.«

Die Stille zog sich hin. Vivaldo senkte den Blick.

»Hatte er Geld?«

»Also« – er sah Richard und Cass an –, »ich weiß es nicht.«

»Wie hat er ausgesehen?«

Sie sahen sich an. »Ganz gut. Müde vielleicht.«

»Kein Wunder.« Sie nippte an ihrem Drink, ihre Hand zitterte ein wenig. »Ich will nicht unnötig Staub aufwirbeln, bestimmt geht es ihm gut, wo auch immer er ist. Ich würde es nur gern wissen. Unsere Eltern drehen durch und …« – sie lachte und holte scharf Luft – »ich offenbar auch.« Sie schwieg. »Er ist der einzige Bruder, den ich habe.« Sie nahm einen Schluck und drehte den rubinäugigen Schlangenring an ihrem langen kleinen Finger.

»Es ist bestimmt alles in Ordnung«, sagte Cass im elenden Bewusstsein ihrer leeren Worte. »Es ist nur – also, Rufus ist wie viele, die ich kenne. Wenn was schiefläuft, wenn er verletzt ist, will er nur noch weg und sich verstecken, bis es vorbei ist. Er leckt seine Wunden. Dann kommt er zurück.« Hilfesuchend sah sie Richard an.

Er tat sein Bestes. »Wahrscheinlich hat Cass recht«, murmelte er.

»Ich bin überall gewesen«, sagte Ida, »überall, wo er jemals gespielt hat, ich habe mit allen gesprochen, die ich finden konnte, die jemals mit ihm gearbeitet haben, mit jedem, den ich finden konnte, dem er auch nur mal Hallo gesagt hat, ich hab es sogar bei Verwandten in Brooklyn versucht –« Sie unterbrach sich. »Als er bei dir war, Vivaldo, was hat er denn gesagt, wo er die ganze Zeit gewesen ist?«

»Gar nichts.«

»Hast du ihn nicht gefragt?«

»Doch, aber er wollte es nicht sagen.«

»Ich hab dir eine Telefonnummer gegeben, damit du mich auf der Stelle anrufst, sobald du ihn siehst. Warum hast du mich nicht angerufen?«

»Es war schon spät, als er zu mir kam, und er hat mich gebeten, nicht anzurufen, er meinte, er geht am Morgen zu euch!«

Er klang ratlos und den Tränen nahe. Sie starrte ihn an, dann senkte sie den Blick. Das Schweigen war durchzogen von beißender, angestauter Feindseligkeit, ausgehend von der jungen Frau, die für sich in dem runden Sessel mitten im Zimmer saß. Nacheinander blickte sie die Freunde ihres Bruders an. »Dann ist es doch komisch, dass er da nie angekommen ist«, sagte sie.

»Na ja, Rufus redet nicht viel«, sagte Richard. »Du weißt ja bestimmt, wie schwer es ist, irgendwas aus ihm rauszukriegen.«

»Na ja«, sagte sie knapp, »ich hätte es schon aus ihm rausgekriegt.«

»Du bist ja auch seine Schwester«, sagte Cass sanft.

»Ja.« Ida sah auf ihre Hände.

»Warst du schon bei der Polizei?«, fragte Richard.

»Ja.« Sie machte eine angewiderte Geste, stand auf und ging ans Fenster. »Sie haben gesagt, das passiert dauernd – dass schwarze Männer ihre Familien im Stich lassen. Sie haben gesagt, sie suchen ihn. Aber es ist ihnen egal. Denen ist egal, was passiert – mit einem schwarzen Mann!«

»Na na«, rief Richard mit rotem Gesicht, »ist das nicht ein bisschen ungerecht? Ich meine, Teufel noch mal, ich bin mir sicher, dass sie genauso nach ihm suchen, wie sie nach jedem anderen Bürger dieser Stadt suchen würden.«

Sie sah ihn an. »Wie willst du denn das wissen? Ich weiß es – ich weiß, wovon ich rede. Ich sage, es ist ihnen egal – und es ist ihnen egal.«

»Ich finde, so solltest du das nicht betrachten.«

Sie starrte aus dem Fenster. »Verdammt noch mal, er ist irgendwo da draußen. Ich muss ihn finden.« Sie stand mit dem Rücken zum Zimmer. Cass sah, wie ihre Schultern anfingen zu beben. Sie trat ans Fenster und legte eine Hand auf Idas Arm. »Schon gut«, sagte Ida und rückte ein wenig ab. Sie wühlte in ihrer Rocktasche, ging zu ihrem Sessel und holte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche. Sie trocknete sich die Augen, putzte sich die Nase und nahm ihr Glas.

Cass sah sie hilflos an. »Ich schenk nach«, sagte sie und nahm das Glas mit in die Küche.

»Ida«, sagte Vivaldo, als sie zurückkam, »wenn ich irgendwie helfen kann, ihn zu finden – irgendwas –« Er hielt inne. »Mensch, ich liebe ihn auch, ich will ihn auch finden. Ich könnte mich schon den ganzen Tag treten, weil ich ihn gestern habe laufen lassen.«

Als Vivaldo ›Ich liebe ihn auch‹ sagte, sah Ida ihn mit sehr großen Augen an, als würde sie ihm zum ersten Mal richtig begegnen. Dann senkte sie den Blick. »Ich wüsste eigentlich nicht, was du tun kannst«, sagte sie.

»Na ja, ich könnte dich auf deiner Suche begleiten. Wir könnten zusammen suchen.«

Sie überlegte, betrachtete ihn. Und sagte schließlich: »Du könntest vielleicht zu einigen Lokalen im Village mitkommen …«

»Ist gut.«

»Ich kann mir nicht helfen, aber ich hab das Gefühl, die halten mich bloß für hysterisch.«

»Ich komme mit. Mich halten die bestimmt nicht für hysterisch.«

Richard grinste. »Vivaldo ist nie hysterisch, das wissen wir.« Dann sagte er: »Ich weiß nicht so recht, was das alles soll. Rufus schläft sich wahrscheinlich nur irgendwo aus.«

»Fast sechs Wochen lang«, rief Ida, »hat ihn keiner gesehen! Bis gestern Nacht! Ich kenne meinen Bruder, der macht so was nicht. Er kommt immer zu uns, egal, wo er war oder was gerade los ist, nur damit wir uns keine Sorgen machen. Früher hat er Geld und Sachen mitgebracht – aber selbst wenn er pleite war, ist er gekommen. Erzähl mir nicht, dass er sich bloß irgendwo ausschläft. Sechs Wochen ist eine lange Zeit.« Sie senkte ihre Stimme, senkte sie zu einem giftigen Murmeln. »Und ihr wisst genau, was vorgefallen ist – zwischen ihm und dieser durchgeknallten kleinen Südstaatenschlampe, in die er so vernarrt war.«

»Na schön.« Nach längerem Schweigen gab sich Richard geschlagen. »Wie du meinst.«

»Aber ihr müsst jetzt nicht gleich im Regen rausrennen«, sagte Cass. »Rufus weiß, dass Vivaldo hier ist. Vielleicht kommt er vorbei. Ich hatte gehofft, dass ihr alle zum Abendessen bleibt.« Sie lächelte Ida an. »Bitte? Dann fühlst du dich bestimmt besser. Bis heute Abend hat sich vielleicht schon alles geklärt.«

Ida und Vivaldo sahen sich an, sie waren im Laufe des Nachmittags gewissermaßen zu Verbündeten geworden. »Und?«, fragte Vivaldo.

»Ich weiß nicht. Ich bin so müde und gereizt, dass ich gar keinen klaren Gedanken fassen kann.«

Richard sah aus, als würde er ihr voll und ganz zustimmen. »Hör zu«, sagte er, »du warst schon bei der Polizei, du hast mit allen gesprochen, die du erreichen kannst. Du hast in Krankenhäusern nachgefragt und« – er sah sie fragend an – »im Leichenschauhaus.« Sie nickte mit festem Blick. »Also. Ich weiß nicht, was es bringen soll, in diesen verdammten Sonntagnachmittagsregen rauszurennen, wenn ihr eigentlich gar nicht wisst, wohin. Und wir haben ihn alle gestern gesehen, insofern wissen wir, dass er da ist. Warum dann nicht mal ein paar Stunden entspannen? Mein Gott, in ein paar Stunden stellst du vielleicht fest, dass du nirgendwohin musst, weil er hier aufkreuzt.«

»Wirklich«, sagte Cass, »es ist gut möglich, dass er hier heute aufkreuzt.« Ida sah Cass an. Da wurde ihr bewusst, dass Ida die Situation auch genoss – die Aufmerksamkeit, die Macht, die sie augenblicklich hatte. Das ärgerte Cass, aber dann dachte sie: gut. Das bedeutet, was auch immer auf sie zukommt, sie wird damit fertig. Seit Ida durch die Tür getreten war, bereitete sie sich, ohne es zu wissen, auf das Schlimmste vor.

»Na gut«, sagte Ida und sah Vivaldo an. »Ich habe Mama gebeten, mich hier anzurufen – für alle Fälle.«

»Also gut«, sagte Cass, »das wäre dann wohl entschieden.« Sie sah auf die Uhr. »Die Jungs sollten in etwa einer Stunde zurück sein. Ich glaube, ich schenk uns erst mal was ein.«

Ida lächelte. »Das ist eine gute Idee.«

Sie war ungeheuer attraktiv, wenn sie lächelte. Ihr Gesicht erinnerte dann an einen schelmischen Straßenjungen, und gleichzeitig glänzte in ihren Augen ein fabelhaft femininer Spott. Vivaldo betrachtete sie immerzu, und ein kleines Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

 

Der Schnee, angekündigt für den Tag vor Thanksgiving, fiel nicht vor dem späten Abend – halbherzige träge Flocken, die schimmernd durch die Dunkelheit kreiselten und am Boden schmolzen.

Den ganzen Tag über strahlte eine kalte Sonne auf Manhattan, ohne zu wärmen.

Cass wachte etwas früher auf als sonst, versorgte die Kinder und schickte sie zur Schule. Richard nahm sein Frühstück zu sich und zog sich in sein Arbeitszimmer zurück – er war nicht gut gelaunt. Cass putzte die Wohnung, dachte darüber nach, was sie morgen essen sollten, und ging am frühen Nachmittag hinaus, um einzukaufen und eine Weile allein spazieren zu gehen.

Sie war länger unterwegs als geplant, denn sie ging zu gern in dieser Stadt spazieren. Ausgekühlt machte sie sich auf den Heimweg.

Sie wohnten an der West Side knapp unterhalb der 23rd Street, in einem Viertel, in dem neuerdings viele Puerto Ricaner wohnten. Daher hieß es, die Gegend würde herunterkommen; aus welcher Höhe, war schwer zu sagen. Auf Cass wirkte sie so wie immer, verwahrlost mit überwiegend ruppig aussehenden Menschen. Die Puerto Ricaner waren ihr sympathisch. Sie machten auf sie keinen ruppigen Eindruck, sondern wirkten im Gegenteil eher zu sanft für ihre brutale Umgebung. Cass hörte sie gern sprechen, es klang weich und fröhlich oder aber rabiat, klar und funkelnd feindselig; sie sah gern das Leben in ihren Augen und die Art, wie sie mit ihren Kindern umgingen, als wären alle Kinder von Natur aus die Verantwortung aller Erwachsenen. Selbst wenn ihr die Jugendlichen hinterherpfiffen oder im Vorbeigehen schlüpfrige Bemerkungen machten und daraufhin miteinander lachten, war sie nicht aufgebracht oder eingeschüchtert; darin spürte sie nicht die angespannte New Yorker Feindseligkeit. Sie verfluchten nicht etwas, das sie ersehnten und fürchteten, sie scherzten über etwas, das sie ersehnten und liebten.

Als sie sich jetzt die Stufen zum Haus hochschleppte, machte ihr einer der jungen Puerto Ricaner, den sie oft im Viertel sah, mit einem kleinen angedeuteten Lächeln die Tür auf. Sie dankte ihm so freimütig wie möglich und stieg in den Fahrstuhl.

Etwas lag in Richards Miene, als sie die Tür hinter sich schloss, und in der lauten Stille der Wohnung. Gerade wollte sie sich nach den Kindern erkundigen, hörte sie dann aber im Wohnzimmer. Richard folgte ihr in die Küche, und sie stellte ihre Einkäufe ab. Sie sah ihm ins Gesicht.

»Was ist los?«, fragte sie. Nach einem kurzen Moment, in dem sie alles andere ausschloss, sagte sie: »Rufus. Wir haben Nachricht von Rufus.«

»Ja«, sagte er, und sie beobachtete eine kleine flatternde Ader auf seiner Stirn. »Er ist tot, Cass. Sie haben seine Leiche im Fluss gefunden.«

Sie sank auf den Küchenstuhl.

»Wann?«

»Irgendwann heute Morgen.«

»Wie lange – wie lange …?«

»Ein paar Tage. Sie vermuten, dass er von der George Washington Bridge gesprungen ist.«

»Mein Gott«, sagte sie. »Wer –«

»Vivaldo. Am Telefon. Kurz nachdem du gegangen bist. Ida hat ihn angerufen.«

»Mein Gott«, sagte sie wieder. »Das wird das arme Mädchen umbringen.«

Richard schwieg kurz. »Vivaldo klang, als hätte ihn ein Pferd in den Bauch getreten.«

»Wo ist er?«

»Ich wollte, dass er herkommt, aber er war auf dem Weg zu der jungen Frau – zu Ida; ich weiß nicht, was er da ausrichten will.«

»Na ja, er stand Rufus so viel näher als wir.«

»Willst du was trinken?«

»Ja, ich glaube, ich will was trinken.« Sie starrte auf den Tisch. »Ich frag mich, ob es irgendwas gab, was wir – was irgendjemand – hätte tun können.«

»Nein«, sagte er, schenkte Whiskey ein und stellte ihr das Glas hin. »Niemand hätte irgendwas tun können. Es war zu spät. Er wollte sterben.«

Schweigend nippte sie an ihrem Drink. Sie betrachtete den Lichteinfall auf dem Küchentisch.

Richard legte die Hand auf ihre Schulter. »Nimm es nicht so schwer, Cass. Immerhin –«

Sie erinnerte sich an sein Gesicht bei ihrem letzten Gespräch, seinen Blick und sein Lächeln, als er fragte: Darf ich bald mal bei euch vorbeikommen? Wie sehr wünschte sie sich jetzt, sie wäre geblieben und hätte länger mit ihm geredet. Vielleicht – sie nahm einen Schluck und fragte sich, weshalb die Kinder so still waren. Tränen traten ihr in die Augen, rannen ihr langsam übers Gesicht und tropften auf den Tisch.

»Das ist eine verfluchte Schande«, sagte sie. »Das ist schrecklich, schrecklich, einfach nur schrecklich.«

»Es war abzusehen«, sagte Richard sacht, »nichts und niemand hätte ihn aufhalten können.«

»Woher wollen wir das wissen?«

»Ach, Schatz, du weißt doch, wie er die letzten Monate war. Wir haben ihn kaum gesehen, aber alle haben es gewusst.«

Was gewusst?, hätte sie gern gefragt. Was zum Teufel haben alle gewusst? Sie wischte sich die Augen und stand auf.

»Vivaldo hat doch wie verrückt versucht zu verhindern, dass er so mit Leona umspringt. Und wenn er das hätte verhindern können, na, vielleicht hätte er dann auch dies verhindern können.«

Das stimmt, dachte sie. Richard konnte unter Druck oft einen erstaunlich kühlen Kopf bewahren.

»Ich habe ihn sehr gemocht«, sagte sie hilflos. »Er hatte was sehr Liebenswertes.«

Richard lächelte matt. »Na ja, wahrscheinlich bist du einfach von Natur aus netter als ich. Ich hab das nicht so empfunden. Ich fand ihn, ehrlich gesagt, ziemlich selbstbezogen.«

»Ach, na ja!«, sagte sie, »selbstbezogen …! Wir kennen keine Menschenseele, die nicht so ist.«

»Du bist nicht so«, sagte er. »Du denkst an andere und versuchst, sie gut zu behandeln. Du widmest dein Leben deinen Kindern – und mir –«

»Ach, aber du bist mein Leben – du und die Kinder. Was täte ich, was täte ich ohne dich? Ich bin genauso selbstbezogen wie alle anderen, siehst du das nicht?«

Er grinste und strich ihr kräftig über den Kopf. »Nein. Und für mich gibt es dazu nicht mehr zu sagen.« Doch nach einem Augenblick setzte er nach: »Ich habe Rufus nicht geliebt, nicht so wie du, nicht so wie ihr alle. Jedenfalls bin ich das Gefühl nicht losgeworden, dass ihr unter anderem deswegen so ein – Aufhebens um ihn macht, weil er schwarz ist. Was wirklich ein Wahnsinnsgrund ist, jemanden zu lieben. Für mich war er einfach ein Kerl wie jeder andere, und das, was er Leona angetan hat, konnte ich ihm nicht verzeihen. Du auch nicht, hast du mal gesagt.«

»Ich hab seitdem drüber nachgedacht.«

»Und was denkst du? Dass du es irgendwie rechtfertigen kannst?«

»Nein, ich habe nicht versucht, es zu rechtfertigen. Aber jetzt denke ich – ach, ich weiß einfach zu wenig, um über ihn zu urteilen. Bestimmt – bestimmt hat er entsetzlich gelitten. Bestimmt hat er sie geliebt.« Sie drehte sich zu ihm, suchte seinen Blick. »Ich bin mir sicher, dass er sie geliebt hat.«

»Tolle Liebe.«

»Richard, wir haben uns auch schon so oft wehgetan. Manchmal haben wir es nicht so gemeint und manchmal schon. Und war das nicht auch, weil – eben weil – wir uns liebten – uns lieben?«

Er betrachtete sie skeptisch, mit geneigtem Kopf. »Cass«, sagte er, »wie kannst du das vergleichen? Wir haben nie versucht, einander zu zerstören – oder?«

Sie sahen sich an. Cass sagte nichts.

»Ich habe nie versucht, dich zu zerstören«, sagte Richard. »Hast du jemals versucht, mich zu zerstören?«

Sie dachte an sein Gesicht von damals, als sie sich gerade kennengelernt hatten; und betrachtete es jetzt. Sie dachte an alles, was sie gemeinsam entdeckt hatten, was sie einander bedeuteten, und an all die kleinen Lügen, die in ihre ganz spezielle, gemeinsame Wahrheit geflossen waren: diese Liebe, die sie verband. Sie hatte Nein gesagt, viele Male, zu vielen Dingen, wegen Richard, zu denen sie sonst vielleicht Ja gesagt hätte; sie glaubte viele Dinge, wegen Richard, von denen sie nicht sicher war, ob sie sie wirklich glaubte. Er war für sie unverzichtbar gewesen – hatte sie zumindest geglaubt, und das kam aufs selbe raus –, also hatte sie sich an ihn gebunden, und ihr Leben hatte sich um ihn herum geformt. Ihretwegen bereute sie das nicht. Ich will ihn, hatte vor Jahren etwas in ihr gesagt, und sie hatte sich an ihn gebunden; er war ihre Erlösung, und hier war er. Sie bereute es nicht ihretwegen, und doch fragte sie sich nun, ob es nicht etwas zu bereuen gab, etwas, das sie Richard angetan hatte, ohne dass er es merkte.

»Nein«, sagte sie matt, »aber ich hätte mich auch nicht bemühen müssen«, drängte es aus ihr heraus.

»Was meinst du damit?«

»Ich meine« – er beobachtete sie; sie setzte sich wieder hin und spielte mit dem Whiskeyglas –, »ein Mann lernt eine Frau kennen. Und er braucht sie. Aber sie wendet dieses Bedürfnis gegen ihn, sie benutzt es, um ihn auszuhöhlen. Das ist nicht schwer. Frauen sehen Männer nicht so, wie Männer gesehen werden wollen. Sie sehen all die Schwachstellen, all die Stellen, an denen Blut fließen könnte.« Sie trank ihren Whiskey aus. »Verstehst du, was ich meine?«

»Nein«, sagte er geradeheraus. »Gar nicht. Ich glaube nicht an diesen ganzen weiblichen Intuitionsquatsch. Das haben Frauen ersonnen.«

»Wie du das sagst – und dann noch in diesem Ton!« Sie ahmte ihn nach: »Das haben Frauen ersonnen. Ich kann das nicht sagen – was Männer ›ersonnen‹ haben, ist das, was da ist; die Welt, die sie ersonnen haben, ist die Welt.« Er lachte. Sie wurde stiller. »Na ja, stimmt aber.«

»Was bist du nur für ein komisches Mädchen«, sagte er. »Du hast einen schweren Fall von Penisneid.«

»Wie die meisten Männer«, sagte sie spitz, und er lachte. »Ich wollte damit auch nur sagen«, fuhr sie nüchtern fort, »dass ich versuchen musste, mich um dich herum zu arrangieren, und nicht, dich um mich herum zu arrangieren. Das ist alles. Und das war nicht leicht.«

»Nein.«

»Nein. Weil ich dich liebe.«

»Ah!«, sagte er und lachte laut. »Du bist tatsächlich ein komisches Mädchen. Ich liebe dich auch, das weißt du.«

»Ich hoffe es.«

»Du kennst mich so gut und weißt das nicht? Wo ist die ganze Intuition hin, diese ganze – spezielle – Perspektive?«

»Sie funktioniert offenbar nur bis zu einem gewissen Punkt«, sagte sie mit verdrießlichem Lächeln.

Er zog sie vom Tisch hoch, legte beide Arme um sie und schmiegte die Wange an ihr Haar. »Und was ist das für ein Punkt, mein Schatz?«

Alles, sein Atem in ihrem Haar, seine Arme, seine Brust, sein Geruch, war vertraut, beengend, unaussprechlich kostbar. Sie wandte ein wenig den Kopf, um aus dem Küchenfenster zu sehen. »Liebe«, sagte sie und betrachtete das kalte Sonnenlicht. Sie dachte an den kalten Fluss und den toten schwarzen jungen Mann, ihren Freund. Sie schloss die Augen. »Liebe«, sagte sie wieder, »Liebe.«

 

Richard blieb am Samstag bei den Kindern, als Cass und Vivaldo zu Rufus’ Beerdigung nach Harlem fuhren. Sie wollte eigentlich nicht, konnte es aber Vivaldo, der wusste, dass er hinmusste und sich allein nicht traute, nicht abschlagen.

Die Trauerfeier war für den Morgen angesetzt, gleich im Anschluss würde man Rufus zum Friedhof fahren. Früh an diesem trockenen kalten Samstag kam Vivaldo zu Cass, betont in Schwarz-Weiß: weißes Hemd, schwarze Krawatte, schwarzer Anzug, schwarze Schuhe, schwarzer Mantel; schwarze Haare, Augen und Augenbrauen und ein kreideweißes, knochentrockenes Gesicht. Seine Panik und Trauer waren nicht zu übersehen; wortlos zog sie ihren dunklen Mantel an und nahm seine Hand, dann fuhren sie schweigend mit dem Fahrstuhl hinunter. Er war auf seine Schönheit und Eleganz reduziert – so wie nach langer Krankheit Knochen durch die Haut schimmern.

Sie stiegen in ein Taxi und fuhren stadtaufwärts. Vivaldo saß neben ihr, Hände auf den Knien, und starrte vor sich hin. Cass blickte auf die Straße. Es herrschte dichter, aber fließender Verkehr, das Taxi schwenkte und ruckte, beschleunigte und bremste, blieb aber nicht stehen. Bis die rote Ampel an der 34th Street alles zum Erliegen brachte. Sie waren umgeben von einem rabiaten Gewühl aus Autos, Lastern und grünen Bussen, die durch die Stadt rumpelten, und Jungs, dunklen Jungs mit Holzwagen voller Kleidung. Die Menschen quollen von den Gehwegen auf die Straße. Frauen in schweren Mänteln schleppten sich und große Pakete und riesige Handtaschen – denn Thanksgiving war vorbei, aber Schilder wiesen auf die schwindende Anzahl von Einkaufstagen bis Weihnachten hin. Vergleichsweise unbepackte Männer eilten dem Geld, das Weihnachten kostete, hinterher und an den Frauen vorbei; junge Männer mit Entenschwanzfrisur wischten über den kalten, schwarzen Asphalt wie über einen Tanzboden. Vor dem Fenster, so dicht neben ihr wie Vivaldo, blieb einer der schwarzen Jungs mit seinem Kastenwagen stehen, steckte sich eine Zigarette an und lachte. Das Taxi kam nicht voran und der Fahrer fluchte. Cass zündete eine Zigarette an und gab sie Vivaldo. Dann steckte sie sich selbst eine an. Unvermittelt ruckte das Taxi weiter.

Der Fahrer schaltete das Radio ein, und auf einmal wurde der Wagen von Gitarrenklängen erfüllt, einer wiehernden hohen Stimme und einem Chor, der »Love me!« rief. Die anderen Worte wurden vom kehligen Gestöhne des Sängers verschluckt, das fast so obszön war wie das Gefluche des Taxifahrers, aber diese beiden Wörter wiederholten sich immer wieder.

»Meine ganze Familie hält mich für einen Penner«, sagte Vivaldo. »Ich würde ja sagen, sie haben mich aufgegeben, aber ich weiß, dass sie eine Scheißangst davor haben, was ich als Nächstes mache.«

Sie sagte nichts. Er sah aus dem Fenster. Sie überquerten Columbus Circle.

»Manchmal – wie heute«, sagte er, »denk ich mir, wahrscheinlich haben sie recht, und ich hab mir bloß selbst was vorgemacht. Bei allem.«

Die Mauern des Central Park schlossen sich nun von beiden Seiten um sie, und jenseits dieser Mauern, hinter Tempo und kahlen Bäumen, die Mauern von Hotels und Wohnhäusern.

»Meine Familie findet, dass ich unter meinem Niveau geheiratet habe«, sagte sie. »Unter ihrem.« Lächelnd trat sie ihre Zigarette aus.

»Meinen Vater habe ich, glaub ich, nie nüchtern erlebt«, sagte er, »in all den Jahren nicht. Er hat immer gesagt: ›Ich will, dass du mir die Wahrheit sagst, sag mir immer die Wahrheit.‹ Und wenn ich ihm dann die Wahrheit gesagt habe, hat er mich an die Wand geklatscht. Also habe ich natürlich nicht die Wahrheit gesagt, sondern ihm einfach irgendeine Lüge aufgetischt, mir doch egal. Das letzte Mal, dass ich bei ihnen war, hab ich mein rotes Hemd getragen, und er sagte: ›Was los, bist du jetzt schwul?‹ Herrgott.«

Sie steckte sich die nächste Zigarette an, und sie hörte zu. Auf dem Reitweg war eine Reiterin, eine blasse junge Frau mit hochmütiger, verwirrter Miene. Während die Reiterin für immer aus ihrem Blickfeld verschwand, dachte Cass, das hätte ich sein können, vor vielen Jahren in Neuengland.

»Unser Viertel war schlimm«, sagte Vivaldo. »Man musste echt hart sein, sonst hätten die einen umgebracht, um einen rum sind andauernd Leute gestorben, wegen nichts. Ich hatte keine große Lust, mit den anderen Jungs rumzuhängen, sie haben mich gelangweilt. Aber Angst gemacht haben sie mir auch. Den Anblick meines Vaters hab ich nicht ertragen. Er ist so ein verdammter Feigling. Die ganze Zeit hat er sich was vorgemacht – also, keine Ahnung, was er sich vorgemacht hat, wahrscheinlich, dass alles in Ordnung ist –, während seine Frau in unserer Eisenwarenhandlung durchgedreht ist. Er wusste, dass weder ich noch mein Bruder den geringsten Respekt vor ihm hatten. Und seine Tochter füttert alle Kerle an und lässt sie am ausgestreckten Arm verhungern. Irgendwann hat sie geheiratet, ich will gar nicht wissen, was ihr Gatte ihr alles versprechen muss, bevor sie ihn mal ein bisschen ranlässt.«

Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Und was für ein Arschloch er ist, mein Gott. Ich bin gern einfach allein mit dem Bus in fremde Ecken der Stadt gefahren, um rumzulaufen oder allein ins Kino zu gehen oder einfach zu lesen oder zu gammeln. Aber nein. Wo ich herkomme, musste man ein Mann sein und es auch beweisen, pausenlos. Aber ich könnte dir Sachen erzählen …« Er seufzte. »Na ja, mein Dad ist immer noch da und hält sozusagen die Schnapsbranche am Laufen. Die meisten Jungs von damals sind tot oder im Knast oder hängen an der Nadel. Ich bin bloß ein Penner; ich hab’s ganz gut getroffen.«

Sie hörte zu, weil sie wusste, dass er sich etwas vergegenwärtigte, es sich ansah und versuchte, sich darüber klar zu werden, es zu verstehen, es auszudrücken. Aber er hatte es nicht ausgedrückt. Er hatte etwas von sich dort gelassen, in den Straßen von Brooklyn, und wagte nicht, noch mal hinzusehen.

»Einmal«, sagte er, »sind wir mit dem Auto ins Village gefahren und haben uns so einen Schwulen geholt, einen jungen Typen, und sind mit ihm zurück nach Brooklyn. Der Arme, der war schon auf halber Strecke verrückt vor Angst, konnte aber nicht aus dem Auto springen. Wir sind in eine Garage gefahren, da waren wir zu siebt, und haben ihn gezwungen, uns allen einen zu blasen, danach haben wir ihn windelweich geprügelt, ihm sein ganzes Geld und seine Klamotten abgenommen und ihn auf dem Zementboden liegen lassen, und das war mitten im Winter.« Er sah sie an, sah sie zum ersten Mal an diesem Morgen direkt an. »Manchmal frag ich mich immer noch, ob sie ihn rechtzeitig gefunden haben oder ob er gestorben ist oder was.« Er legte die Hände zusammen und sah aus dem Fenster. »Manchmal frag ich mich, ob ich noch derselbe Mensch bin, der so was getan hat – vor so langer Zeit.«

Nein. Es wurde nicht ausgesprochen. Warum nicht, fragte sie sich. Vielleicht, weil Vivaldos Erinnerungen ihn in keiner Weise vom Erinnerten befreiten. Er vergegenwärtigte es sich nicht – die Zeit, den Jungen; er betrachtete es mit einem faszinierten, ja romantischen Grausen, und setzte alles daran, es zu leugnen.

Vielleicht wurden solche Geheimnisse, die Geheimnisse aller Menschen, nur ausgesprochen, wenn man sie mühsam ans Licht der Welt zerrte, sie der Welt aufdrängte und zu einem Teil ihrer Erfahrung machte. Ohne diese Mühe war der geheime Winkel nur ein Kerker, in dem der Mensch zugrunde ging; ohne diese Mühe wäre die ganze Welt tatsächlich eine unbewohnbare Finsternis. Mit entsetzlichem Widerwillen begriff sie, wieso diese Mühe gescheut wurde; mit Widerwillen, weil ihr da auch klar wurde, dass Richard sie bitterlich enttäuscht hatte, mit einem Buch, an das er nicht glaubte. Auf einmal wusste sie – und wusste auch, dass Richard sich das nie eingestehen würde –, dass das Buch, das er geschrieben hatte, um Geld zu verdienen, den Gipfel seiner Gabe darstellte. Es war nicht wirklich geschrieben worden, um Geld einzubringen – schön wär’s! Es war geschrieben worden, weil er Angst hatte, Angst vor dem Dunklen, Fremden, Gefährlichen, Schwierigen und Tiefen.

Mir egal, sagte sie sich schnell. Und: Kann er doch nichts für, wenn er nicht Dostojewskij ist, mir egal. Doch ob es ihr egal war oder nicht, spielte keine Rolle. Ihm war es nicht egal, ganz und gar nicht, und er war abhängig davon, dass sie an ihn glaubte.

»Ist es nicht komisch«, sagte sie plötzlich, »dass dir all diese Erinnerungen gerade jetzt kommen!«

»Vielleicht«, sagte er nach einem Moment, »liegt es an ihr. Als ich dort war, an dem Tag, als sie mich anrief, um mir zu sagen, dass Rufus tot ist – keine Ahnung –, war ich da auf der Straße und bin in das Haus gegangen, und es war wirklich alles so – keine Ahnung – vertraut.« Er wandte ihr sein bleiches, besorgtes Gesicht zu, doch ihr war, als würde er die hohe Mauer anstarren, die zwischen ihm und seiner Vergangenheit stand. »Damit meine ich nicht, dass ich so viel Zeit in Harlem verbracht habe.« Nervös wandte er den Blick ab. »Tagsüber bin ich sowieso fast nie da gewesen. Ich meine damit, dass dieselben Kinder auf der Straße waren wie bei mir – sie waren schwarz, aber es waren dieselben, wirklich dieselben, und Herrgott noch mal, auf den Fluren stinkt es genauso, und alle versuchen irgendwie durchzukommen, aber sie wissen, dass sie kaum eine Chance haben. Dieselben alten Frauen, dieselben alten Männer – vielleicht etwas lebendiger –, und ich bin ins Haus, und da saßen sie, Ida und ihre Mutter und ihr Vater, und da waren noch ein paar Leute, Verwandte vielleicht, und Freunde. Ich weiß nicht, außer Ida hat eigentlich keiner mit mir gesprochen, und auch sie hat nicht viel gesagt. Und alle sahen mich an, als hätte ich, na ja, als hätte ich es getan, und ach, ich wollte dieses Mädchen so gern in den Arm nehmen und den Blick von ihrem Gesicht küssen und ihr zu verstehen geben, dass ich es nicht getan habe, dass ich es nie tun würde, dass, wer auch immer es getan hat, es auch mir angetan hat.« Er weinte leise, und er beugte sich vor und verbarg sein Gesicht in seiner großen Hand. »Ich weiß, dass ich ihn im Stich gelassen habe, aber ich habe ihn auch geliebt, und das hat keinen interessiert. Immer wieder hab ich gedacht, sie sind schwarz, und ich bin weiß, aber dieselben Sachen sind passiert, wirklich dieselben, und wie kann ich ihnen das vermitteln?«

»Aber dir sind sie nicht passiert, weil du weiß bist«, sagte sie. »Sie sind einfach passiert. Was hier oben passiert« – das Taxi fuhr aus dem Central Park raus, und sie streckte die Hand aus, damit er hinsah –, »passiert, weil sie schwarz sind. Das ist ein Unterschied.« Schließlich wagte sie sich vor: »Da musst du lange küssen, mein Freund, bevor du etwas davon wegküsst.«

Er sah aus dem Fenster und wischte sich die Augen. Sie waren auf der Lenox Avenue rausgekommen, obwohl sie in die Seventh Avenue wollten. Nichts um sie herum wirkte unvertraut, weil alles um sie herum desolat war. Man konnte sich ohne Weiteres vorstellen, dass einst Pferdekutschen stolz über diesen breiten Boulevard gerollt waren und Ladys und Gentlemen mit Schleifen, Blumen, Brokat und Federn von ihren Karren gestiegen und diese Häuser betreten hatten, die jetzt von Zeit und Wahnwitz zerrüttet und verdüstert waren. Die Simse waren einmal neu gewesen, hatten einmal so hell gestrahlt, wie sie jetzt schamvoll schmollten, befleckt und verachtet. Die Fenster waren nicht blind gewesen, die Türen keine Anzeichen von Misstrauen und Heimlichkeiten einer längst belagerten Stadt. Einst hatten sich die Menschen um diese Häuser gekümmert – das war der Unterschied; stolz waren sie über diesen Boulevard flaniert. Er war ein Zuhause gewesen, jetzt war er ein Gefängnis.

Jetzt kümmerte es niemanden mehr: Allein diese Gleichgültigkeit verband das Ghetto noch mit dem Festland. Jetzt verfiel alles, und die Besitzer kümmerte es nicht; niemanden kümmerte es. Die schönen Kinder auf der Straße, tiefschwarz, braun und bronze, alle durch den kalten Wind mit grauer Asche im Gesicht und auf den Beinen wie Raureif auf einem Fenster oder einer Blume, schien nicht zu kümmern, dass niemand ihre Schönheit sah. Die Erwachsenen, große, trottende schwarze Frauen, magere, schlurfende Männer, hatten ihnen beigebracht, durch Vorschrift oder Vorbild, was es hieß, sich zu kümmern oder eben nicht: Vorschriften mochten täglich verloren gehen, die Vorbilder blieben, die Straße rauf und runter. Die trottenden Frauen trotteten, blieben stehen, gingen durch dunkle Türen, rein und raus, redeten miteinander, mit den Männern und mit Polizisten, blickten in Schaufenster, schrien die Kinder an, lachten und blieben stehen, um sie zu streicheln. Auf allen Gesichtern, selbst denen der Kinder, lag eine sanfte oder giftige Ernüchterung, die ihre Gesichter so markant machte, als wären sie aus Stein gehauen. Das Taxi eilte stadtaufwärts, vorbei an Männern vor Barbiergeschäften, vor Barbecueläden, vor Bars, vorbei an langen, dunklen, lauten Seitenstraßen mit grauen Häusern, die sich nach vorne neigten und die Sonne ausschlossen; im Schatten dieser Häuser summten und brummten Kinder so dicht wie Fliegen auf Fliegenpapier. Dann bogen sie von der Avenue ab nach Westen und krochen eine lange, graue Straße entlang. Sie mussten kriechen, denn die Straße war verstopft mit gemächlichen Passanten und Kindern, die zu beiden Seiten immer wieder zwischen parkenden Autos hervorschossen. Menschen saßen auf Eingangsstufen, Menschen riefen aus Fenstern, und junge Männer mit ironischen Mienen und unergründlichem Blick spähten gleichgültig ins langsame Taxi.

»Hat Rufus dich jemals zu sich eingeladen?«, fragte sie. »Um seine Familie kennenzulernen, meine ich.«

»Ja«, sagte Vivaldo, »lange her. Ich hatte es fast vergessen. Ich hatte es vergessen, bis Ida mich daran erinnerte. Sie trug Zöpfe damals, das niedlichste schwarze Mädchen, das du je gesehen hast. Sie war etwa fünfzehn. Rufus und ich haben sie nach Radio City ausgeführt.«

Cass schmunzelte über seine Beschreibung von Ida und über seinen Tonfall, der unbewusst erotisch war. Das Taxi überquerte die Avenue und hielt an der gegenüberliegenden Ecke, wo die Kapelle stand. Auf den Eingangsstufen sprachen zwei Frauen gedämpft miteinander. Während Cass zusah und Vivaldo das Taxi bezahlte, kam ein junger Mann hinzu, und sie gingen hinein.

Plötzlich fasste sie sich fluchend an den unbedeckten Kopf.

»Vivaldo«, sagte sie, »ich kann da nicht rein.«

Er sah sie verständnislos an, während der Taxifahrer mit dem Wechselgeld in der Hand stutzte.

»Was soll das heißen?«, fragte er. »Was ist los mit dir?«

»Nichts. Nichts. Aber Frauen müssen ihren Kopf bedecken. Ohne Hut kann ich da nicht rein.«

»Natürlich kannst du!« Dabei wurde ihm allerdings klar, dass er noch nie in seinem Leben eine Frau ohne Kopfbedeckung in einer Kirche gesehen hatte.

»Nein, nein, kann ich nicht. Die tragen alle Hüte, alle. Das wäre ein Affront, so als würde ich eine Hose tragen.« Sie überlegte. »Das ist eine Kirche, Vivaldo, es ist eine Beerdigung, das wäre ein Affront.«

Er hatte es bereits eingesehen und sah sie nun ratlos an. Der Taxifahrer hielt noch immer das Wechselgeld in der Hand und betrachtete Vivaldo mit dezenter Ausdruckslosigkeit.

»Hast du denn keinen Schal oder so was?«

»Nein.« Sie wühlte in ihrer Handtasche, ihren Manteltaschen, den Tränen nah. »Nein. Gar nichts.«

»Hör zu, Kumpel«, sagte der Fahrer.

Vivaldos Miene hellte sich auf. »Und dein Gürtel? Kannst du den nicht um den Kopf schnallen? Der ist schwarz.«

»Ach, das funktioniert niemals. Außerdem – die merken doch, dass das mein Gürtel ist.«

»Versuch’s einfach.«

Um die Diskussion zu beenden und zu beweisen, dass sie recht hatte, nahm sie ihren Gürtel ab und band ihn sich um den Kopf. »Siehst du? Das funktioniert niemals.«

»Was haben die Herrschaften jetzt vor?«, fragte der Fahrer. »Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«

»Ich muss was kaufen«, sagte Cass.

»Dann kommen wir zu spät.«

»Geh du rein. Ich fahr nur schnell zu einem Laden und komm dann gleich zurück.«

»Gibt keine Läden hier, Lady«, sagte der Fahrer.

»Natürlich gibt es hier irgendwo Läden«, entgegnete Cass streng. »Geh schon mal rein, Vivaldo, ich bin gleich zurück. Was ist das hier für eine Adresse?«

Vivaldo gab ihr die Adresse und sagte: »Du musst zur 125th Street, das ist meines Wissens der einzige Ort in dieser Ecke, wo es Läden gibt.« Dann nahm er das Wechselgeld entgegen und gab dem Fahrer Trinkgeld. »Die Lady will zur Hundertfünfundzwanzigsten«, sagte er.

Der Fahrer drehte sich verdrossen um und schaltete den Taxameter an. »Geh schon rein, Vivaldo«, sagte Cass erneut. »Tut mir leid. Ich bin gleich zurück.«

»Hast du genug Geld dabei?«

»Ja. Geh schon rein.«

Er stieg aus und wandte sich, als das Taxi wegfuhr, ratlos und missmutig zur Kapelle. Der Fahrer setzte Cass an der Ecke 125th Street und Eighth Avenue ab. Als sie die breite, belebte Straße entlangeilte, merkte sie, dass sie sich in einem merkwürdigen, unbenennbaren Zustand befand, keine Wut, keine Tränen, aber nah dran an beidem. Eine kleine, einsame weiße Frau, die an einem Samstagmorgen die 125th Street entlangeilte, war offenbar ein gewohnter Anblick, denn niemand sah sie an. Sie fand keine Läden mit Damenhüten in der Auslage, aber sie rannte auch zu schnell und suchte zu angestrengt. Wenn sie sich nicht zusammenriss, würde sie den ganzen Tag damit zubringen, diese Straße rauf und runter zu laufen. Kurz erwog sie, eine der Frauen anzuhalten – eine der Frauen, deren Gesichter sie betrachtete, als stünde darin etwas, das sie lernen musste –, um sich nach dem Weg zu erkundigen. Da wurde ihr bewusst, dass sie eine seltsame Angst hatte: Angst vor diesen Leuten, diesen Straßen, der Kapelle, zu der sie zurückmusste. Sie zwang sich, langsamer zu gehen. Fand einen Laden und ging hinein.

Eine Verkäuferin kam auf sie zu, eine junge Frau mit locker gewellten roten Haaren, in einem grellgrünen Kleid und mit kupferbrauner Haut.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Die Frau lächelte, dasselbe Lächeln – wie Cass sich einredete –, das alle Verkäuferinnen immer und überall aufsetzten. Gegenüber einem solchen Lächeln kam Cass sich arm und verlottert vor, noch mehr als sonst. Und obwohl sie vor unerklärlicher Wut zu beben begann, wusste sie, dass ihre trockene aristokratische Schärfe, die ihr downtown durchaus weiterhalf, hier ihre übliche Wirkung verfehlen würde.

»Ich hätte gern«, stammelte sie, »einen Hut.«

Dann fiel ihr ein, dass sie Hüte hasste und nie welche trug. Die Frau, die ihr Lächeln ganz offensichtlich von ihren Vorgesetzten gelernt hatte, sah aus, als verkaufte sie jeden Samstagvormittag mindestens einen Hut an eine seltsame, atemlose weiße Frau.

»Wenn Sie mir bitte folgen wollen«, sagte sie.

»Ach – nein«, sagte Cass plötzlich, und die junge Frau drehte sich um, die makellos gezupften Augenbrauen hochgezogen, »ich meine, nein, ich möchte eigentlich doch keinen Hut.« Cass versuchte zu lächeln; sie wäre am liebsten weggelaufen. Im Laden herrschte Stille. »Ich glaube, ich hätte lieber einen Schal. Schwarz« – und wie dieses Wort durch den Laden zu branden schien! – »für meinen Kopf«, fügte sie hinzu und hatte das Gefühl, man würde gleich die Polizei rufen. Und sie hatte keinen Ausweis dabei.

»Ach«, sagte die junge Frau. Cass hatte es fertiggebracht, der Verkäuferin das Lächeln aus dem Gesicht zu wischen. »Marie!«, rief sie scharf. »Kümmerst du dich bitte um die Lady?«

Die Verkäuferin verschwand, und eine andere Frau, älter und schlichter, gleichwohl ebenso sorgfältig gekleidet und geschminkt, kam mit einem ganz anderen Lächeln auf Cass zu: einem anzüglichen, belustigten, voller Verschworenheit und Verachtung. Cass wurde rot. Die Frau zog eine Kiste mit Schals hervor. Sie erschienen Cass alle schäbig und teuer, aber sie war nicht in der Position, sich zu beschweren. Sie nahm einen, zahlte, band ihn sich um den Kopf und ging mit weichen Knien. Sie fand ein Taxi an der Ecke und nannte dem Fahrer nach kurzem Ringen mit sich selbst die Adresse der Kapelle: Eigentlich hatte sie ihm sagen wollen, er solle sie nach Hause fahren.

Die Kapelle war klein, und es waren nicht viele Leute da. Cass trat so leise wie möglich ein, dennoch drehten sich Köpfe nach ihr um. Ein älterer Mann, vermutlich ein Platzanweiser, eilte zu ihr, aber sie setzte sich auf den erstbesten Platz in der allerletzten Reihe neben der Tür. Vivaldo saß weiter vorn, fast in der Mitte, soweit sie sehen konnte der einzig andere Weiße in der Kapelle. Die Menschen saßen recht verstreut – genauso verstreut vielleicht wie die Bestandteile von Rufus’ Leben –, wodurch die Kapelle leerer wirkte, als sie tatsächlich war. Viele junge Menschen waren da, Rufus’ Freunde, vermutete Cass, die Jungs und Mädchen, mit denen er aufgewachsen war. In der vordersten Reihe saßen sechs Gestalten, die Familie: Kein Maß an Trauer konnte Idas stolzen Rücken weniger stolz machen. Direkt vor der Familie, kurz unterhalb des Altars, stand die alles beherrschende Bahre mit dem geschlossenen perlmutternen Sarg.

Als Cass reingekommen war, hatte gerade jemand gesprochen, der sich nun hinsetzte. Ein sehr junger Mann, der die schwarze Robe eines Predigers trug. Cass fragte sich, ob er schon Prediger sein konnte, er sah eher aus wie ein Junge. Aber er bewegte sich mit großer Würde, der Würde eines Menschen, der seine Bestimmung gefunden und sich mit ihr ausgesöhnt hat. Als er saß, kam eine schmale junge Frau nach vorne, und der Junge im schwarzen Gewand setzte sich ans Klavier neben dem Altar.

»Ich kannte Rufus«, sagte die junge Frau, »da war er ein großer Junge und ich ein kleines Mädchen …« Sie versuchte, die Trauernden in der ersten Reihe anzulächeln. Cass sah, wie sehr sie sich bemühte, nicht zu weinen. »… Ich und seine Schwester, wir haben immer versucht, uns gegenseitig zu trösten, wenn Rufus mit den großen Jungs los ist und wir nicht mitspielen durften.« Ein Murmeln der Erheiterung und Trauer erhob sich, und in der ersten Reihe wurde genickt. »Wir wohnten gleich nebenan, er war wie ein Bruder für mich.« Da senkte sie den Kopf und knüllte ein weißes Taschentuch, das weißeste Taschentuch, das Cass je gesehen hatte, in ihren dunklen Händen. Eine Weile schwieg sie, und erneut schien ein Wind durch die Kapelle zu wispern, als teilten hier alle die Erinnerungen und den Schmerz der jungen Frau und stünden ihr bei. Der junge Mann am Klavier schlug einen Akkord an. »Manchmal wollte Rufus, dass ich ein bestimmtes Lied für ihn singe«, sagte die junge Frau unvermittelt. »Ich singe es jetzt für ihn.«

Der junge Mann spielte den ersten Akkord. Die Frau sang mit rauer, ungeschulter, erstaunlich kraftvoller Stimme:

I’m a stranger, don’t drive me away.

I’m a stranger, don’t drive me away.

If you drive me away, you may need me some day,

I’m a stranger, don’t drive me away.

Nach dem Lied trat sie an den Sarg und blieb einen Moment stehen, berührte ihn leicht mit beiden Händen. Dann ging sie an ihren Platz zurück.

In der ersten Reihe wurde geweint. Cass sah, wie Ida eine ältere, kräftigere Frau in ihren Armen wiegte. Einer der Männer schnäuzte sich geräuschvoll. Die Luft war schwer. Cass wünschte sich, es wäre schon vorbei.

Vivaldo saß ganz still und allein und blickte starr geradeaus.

Jetzt trat ein grauhaariger Mann hinter dem Altar hervor. Er blickte einen Moment in die Menge, und vom Klavier kam leise ein trauriges Kirchenlied.

»Einige von euch kennen mich«, sagte er schließlich, »andere nicht. Ich bin Reverend Foster.« Er wartete. »Und ich kenne einige Gesichter, und andere sind Fremde für mich.« Er deutete eine Verbeugung an, erst zu Cass, dann zu Vivaldo. »Aber wirklich Fremde sind wir nicht. Wir sind alle aus demselben Grund hier. Ein geliebter Mensch ist gestorben.« Er wartete wieder und blickte auf den Sarg hinunter. »Ein geliebter Mensch, mit dem wir gelacht und geredet – und gehadert – haben, für den wir gebetet haben, ist nicht mehr. Er ist nicht mehr bei uns. Er ist dorthin gegangen, wo die Gottlosen mit Toben aufhören.« Er blickte wieder auf den Sarg hinunter. »Wir werden ihm nicht mehr ins Angesicht sehen – nie mehr. Mühsam hat er sich durch diese Welt gekämpft, und verzweifelt hat er sich aus ihr herausgekämpft. Wenn er vor seinen Schöpfer tritt, wird er so aussehen wie viele von uns bei unserer Ankunft hier auf Erden – als hätte er sich durch diese Passage gekämpft. Sie war eng.« Er räusperte sich und schnäuzte sich. »Ich werde mich hier nicht hinstellen und euch lauter Lügen über Rufus erzählen. Das ist nicht meine Art. Ich kannte Rufus, ich kannte ihn sein Leben lang. Er war ein aufgeweckter Junge, und er hatte den Teufel im Leib, mit dem kam man unmöglich mit. Er hat sich viel Ärger eingehandelt, das wisst ihr alle. Viele von unseren Jungs handeln sich eine Menge Ärger ein, und manche von euch wissen, warum. Manchmal haben wir drüber geredet, er und ich – wir waren immer ziemlich gute Freunde, Rufus und ich, selbst dann noch, als er auf und davon ist, weg von hier, und obwohl er nie in den Gottesdienst kam, wie ich, wie wir alle uns das gewünscht hätten.« Er wartete wieder. »Er musste seinen Weg gehen. Er hatte seine Probleme, und er ist von uns gegangen. Er war jung, er war klug, er war schön, wir haben Großes von ihm erwartet – aber jetzt ist er von uns gegangen, und es ist an uns, das Große zu vollbringen. Ich glaube, ich weiß, wie manche von euch sich fühlen. Ich weiß, wie ich mich fühle – nichts von dem, was ich sagen könnte, wird diesen Schmerz lindern, jedenfalls nicht gleich. Aber dieser Junge war einer der besten Menschen, die mir je begegnet sind, und ich hab schon viel gesehen. Ich werde nicht versuchen, über ihn zu urteilen. Das steht uns nicht zu. Viele behaupten ja, einer, der sich das Leben genommen hat, sollte nicht in heiligem Boden begraben werden. Also, ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass Gott jedes Fitzelchen Erde geschaffen hat, auf das ich je einen Fuß gesetzt habe, und dass alles, was Gott geschaffen hat, heilig ist. Und es weiß doch keiner von uns, was in einem fremden Herzen vorgeht, viele von uns wissen ja nicht mal, was in ihrem eigenen Herzen vorgeht, also kann keiner von uns sagen, warum er getan hat, was er getan hat. Keiner war dabei, also wissen wir es nicht. Wir müssen beten, dass der Herr ihn aufnimmt, wie wir beten, dass der Herr uns aufnimmt. Das ist alles. Das ist alles. Und noch was sage ich euch, vergesst das nie: Ich kenne viele Menschen, die sich das Leben genommen haben, und die ziehen heute durch die Straßen, manche predigen das Evangelium, und manche sitzen auf den Stühlen der Mächtigen. Vergesst das nie. Wenn auf dieser Welt nicht so viele Tote rumlaufen würden, hätten jene unter uns, die zu leben versuchen, vielleicht nicht so schrecklich zu leiden.«

Er schritt auf und ab, hinter dem Altar, hinter dem Sarg.

»Ich weiß, ich kann euch, die ihr hier vor mir sitzt – seine Mutter und sein Vater, seine Schwester, seine Familie, seine Freunde –, nichts sagen, das ihn euch wieder zurückbringt oder euch die Trauer über seinen Verlust nimmt. Das weiß ich. Ich kann nichts sagen, das sein Leben anders macht, daraus ein Leben macht, das ein anderer Mann vielleicht gelebt hätte. Es ist geschehen, es ist alles geschrieben. Aber verzagt nicht, ihr Lieben – verzagt nicht. Lasst euch nicht zu Bitterkeit verführen. Versucht zu verstehen. Versucht zu verstehen. Die Welt ist schon bitter genug, wir müssen versuchen, besser zu sein als die Welt.«

Er senkte den Blick, dann sah er in die erste Reihe.

»Denkt immer daran«, sagte er sanft, »er hat es versucht. Nicht viele versuchen es, und wer versucht, muss leiden. Seid stolz auf ihn. Ihr habt ein Recht darauf, stolz zu sein. Und das ist alles, was er wollte in dieser Welt.«

Abgesehen von jemandem – einem Mann –, der in der ersten Reihe weinte, war es in der ganzen Kapelle still. Cass vermutete, dass der Mann Rufus’ Vater war, und fragte sich, ob er den Worten des Pastors glaubte. Was war Rufus für ihn gewesen? Ein schwieriger Sohn, ein Fremder im Leben und nun für immer ein Fremder im Tod. Nichts sonst würde man je erfahren. Was auch immer sonst gewesen war oder hätte sein können, verschlossen in Rufus’ Herzen oder dem Herzen seines Vaters, war mit Rufus der Vergessenheit anheimgegeben. Würde nun nie mehr ausgedrückt. Es war vorbei.

»Ein paar Freunde von Rufus sind hier«, sagte Reverend Foster, »sie spielen jetzt was für uns, und dann gehen wir.«

Zwei junge Männer kamen nach vorn, einer mit Gitarre und der andere mit einem Kontrabass. Die schmale junge Frau folgte ihnen. Der junge Mann in der schwarzen Robe dehnte die Finger. Die beiden Freunde stellten sich vor den bedeckten Leichnam, die Frau etwas abseits zum Klavier. Sie spielten etwas, das Cass nicht kannte, etwas ganz Langsames, eher Blues als Kirchenlied. Dann wurde es dichter, bitterer, schneller. Die Trauergemeinde summte tief in der Kehle mit und klopfte mit den Füßen. Dann trat die junge Frau vor. Sie warf den Kopf zurück, schloss die Augen, und erneut erklang ihre Stimme:

Oh, that great getting-up morning,

Fare thee well, fare thee well!

Reverend Foster, der auf der Empore hinter ihr stand, hob beide Arme und stimmte mit ein:

We’ll be coming from every nation,

Fare thee well, fare thee well!

Die Gemeinde kam dazu, aber das Ende sang die junge Frau allein:

Oh, that great getting-up morning,

Fare thee well, fare thee well!

Reverend Foster sprach ein kurzes Gebet, um die Seele, die sie verlassen hatte, auf eine sichere Reise zu schicken, sowie all jene Seelen, die seine Stimme jetzt erreichte, auf eine sichere Reise durchs Leben und über den Tod hinaus. Es war vorbei.

Die Sargträger, zwei Männer aus der ersten Reihe und die beiden Musiker, hoben den perlmutternen Sarg auf die Schultern und schritten den Gang hinunter. Die Trauernden folgten.

Cass stand an der Tür. Ohne sie anzusehen, schritten die vier stillen Gesichter mit ihrer Last vorüber. Gleich darauf folgten Ida und ihre Mutter. Ida hielt einen Moment inne und sah sie an – sah sie direkt an, unergründlich hinter ihrem schweren Schleier. Dann schien sie zu lächeln. Dann ging sie vorbei. Und die anderen gingen vorbei. Vivaldo kam zu ihr, und sie verließen die Kapelle.

Zum ersten Mal sah sie den Leichenwagen, der auf der Straße stand, in südlicher Richtung.

»Vivaldo«, fragte sie, »fahren wir mit auf den Friedhof?«

»Nein«, sagte er, »sie haben nicht genug Autos. Ich glaube, nur die Familie fährt hin.«

Er beobachtete das Auto hinter dem Leichenwagen. Idas Eltern waren bereits eingestiegen. Ida stand auf dem Bürgersteig. Sie sah sich um, dann kam sie rasch auf die beiden zu. Sie nahm ihre Hände.

»Ich wollte euch nur kurz danken«, sagte sie schnell, »dass ihr gekommen seid.« Ihre Stimme war heiser vom Weinen, und Cass konnte ihr Gesicht hinter dem Schleier nicht sehen. »Ihr wisst gar nicht, wie viel mir das bedeutet – uns.«

Cass drückte Ida die Hand; sie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Ida, wenn es irgendwas gibt, was wir tun können«, sagte Vivaldo, »was ich tun kann – egal was …!«

»Ihr habt unglaublich viel getan. Das werde ich euch nie vergessen.«

Sie drückte ihnen erneut die Hände und drehte sich um. Sie stieg ins Auto und machte die Tür zu. Der Leichenwagen rollte langsam vom Bordstein weg, und das Auto, danach ein zweites, folgte. Andere, die bei der Trauerfeier gewesen waren, warfen Cass und Vivaldo einen flüchtigen Blick zu, blieben noch einen Moment beieinander und zerstreuten sich dann. Cass und Vivaldo gingen die Avenue hinunter.

»Sollen wir die Subway nehmen?«, fragte Vivaldo.

»Ich glaube nicht«, sagte sie, »dass ich das jetzt schaffe.«

Sie liefen dennoch weiter, ziellos, schweigend. Cass hatte die Hände tief in die Taschen gesteckt und starrte auf die Risse im Asphalt.

»Ich hasse Beerdigungen«, sagte sie schließlich, »irgendwie haben die nie was mit dem Menschen zu tun, der gestorben ist.«

»Beerdigungen sind für die Lebenden.«

Auf einer Eingangstreppe stand eine Handvoll Teenager, die sie neugierig musterten.

»Ja.« Und sie gingen weiter, anscheinend fehlte beiden die Energie, um stehen zu bleiben und ein Taxi anzuhalten. Über die Beerdigung konnten sie nicht reden, es gab zu viel zu sagen; vielleicht hatten sie zu viel zu verbergen. Sie gingen die breite, belebte Avenue hinunter, umgeben von einer Aura, so schien es, die andere davon abhielt, sie anzurempeln oder zu direkt anzusehen, oder zu lange. Sie erreichten den Eingang zur Subway 125th Street. Menschen kamen aus dem Dunkel, und an der Ecke wartete eine Traube auf den Bus.

»Nehmen wir ein Taxi«, sagte sie.

Vivaldo winkte einem Taxi, und sie stiegen ein – wie es, so Cass’ unvermeidliches Gefühl, von ihnen erwartet wurde – und verließen den Schauplatz von Dunkelheit und Gewalt, über dem jetzt eine bleiche Sonne stand.

»Ich frage mich«, sagte er, »ich frage mich.«

»Ja? Was fragst du dich?«

Ihr Ton war schärfer als beabsichtigt, warum, hätte sie nicht sagen können.

»Was sie damit meint, sie wird es nie vergessen.«

Etwas ging in ihrem Kopf vor, etwas, das sie weder benennen noch abwehren konnte, aber es war fast so, als wäre sie in ihrem Kopf gefangen, als hätte er sie fest in seinen Fängen.

»Na ja, das zeigt jedenfalls, dass du klug bist«, sagte sie. »Was auch immer dir das nützt.« Das Taxi fuhr die Straße hinunter, die schließlich in die ihr vertraute Avenue münden würde.

»Ich würde ihr gern beweisen – irgendwann«, sagte er und sah dabei aus dem Fenster, »würde ich ihr gern zeigen, dass die Welt nicht so schwarz ist, wie sie glaubt.«

»Oder«, sagte sie nach einer Weile trocken, »so weiß.«

»Oder so weiß«, sagte er freundlich, ohne auf ihren Ton zu reagieren. »Du magst sie nicht – Ida.«

»Ich mag sie schon. Ich kenne sie nur nicht.«

»Genau darum geht es. Du kennst sie nicht, und du willst sie nicht kennenlernen.«

»Es spielt keine Rolle, ob ich Ida mag oder nicht. Es geht darum, dass du sie magst. Das ist doch in Ordnung. Warum willst du, dass ich was dagegen habe? Ich habe nichts dagegen. Aber was würde das überhaupt ändern?«

»Nichts«, antwortete er umgehend. »Na ja, ein bisschen was schon«, sagte er dann. »Ich würde an meiner Urteilskraft zweifeln.«

»Urteilskraft«, sagte sie, »hat nichts mit Liebe zu tun.«

Er blickte sie scharf, aber dankbar an. »Jetzt geht es hier also um Liebe …?«

»Wenn man bedenkt, was du beweisen willst«, sagte sie, »wollen wir’s schwer hoffen.« Sie überlegte. »Allerdings will sie vielleicht auch was beweisen.«

»Ich glaube, sie will was vergessen«, sagte er. »Und ich glaube, ich kann ihr dabei helfen.«

Cass antwortete nicht. Sie betrachtete die kalten Bäume und den kalten Park. Sie fragte sich, wie Richard heute Vormittag mit seiner Arbeit vorangekommen war, wie es den Kindern ging. Sie hatte auf einmal das Gefühl, sehr lange weg gewesen zu sein, wichtige Verpflichtungen vernachlässigt zu haben. Und sie wollte jetzt nur noch sicher nach Hause kommen und alles so vorfinden, wie sie es verlassen hatte – vor so langer Zeit, heute Morgen.

»Du bist so unreif«, hörte sie sich sagen. Sie schlug ihren mütterlichsten Ton an und lächelte dabei. »Du weißt so wenig über das Leben. Über die Frauen.«

Auch er lächelte, ein blasses, mattes Lächeln. »Na schön. Aber ich will, dass mir was Echtes passiert. Im Ernst. Wie lernt man denn das Leben kennen?« Er grinste spöttisch. »Die Frauen? Weißt du viel über Männer?«

Die großen Ziffern über dem fernen Columbus Circle schimmerten im grauen Himmel und zeigten zwölf Uhr siebenundzwanzig an. Sie wäre gerade rechtzeitig zu Hause, um Mittagessen zu machen.

Als hätte sich der Himmel gesenkt und in Nebel verwandelt, überkam sie erneut die Schwermut, gegen die sie angekämpft hatte.

»Früher hab ich das mal gedacht«, sagte sie. »Früher hab ich das mal geglaubt. Früher war ich sogar mal jünger als du jetzt.«

Wieder sah er sie an, aber diesmal sagte er nichts. Als die Straße einen Schlenker machte, stand die Skyline von New York wie eine schartige Mauer vor ihnen. Dann war sie verschwunden. Cass steckte sich eine Zigarette an und fragte sich, wieso sie in dem kurzen Moment die stolzen Türme, die gierigen Antennen so gehasst hatte. Sie hatte die Stadt noch nie gehasst. Warum wirkte alles so blass und so fruchtlos: Und warum war ihr so kalt, als könnte nichts und niemand sie je wieder wärmen?

Tief in seiner Kehle summte Vivaldo den Blues, den sie auf der Beerdigung gehört hatten. Er dachte an Ida, träumte von Ida, nahm ungeduldig vorweg, was ihn mit Ida erwartete. Einen Moment lang hasste sie seine Jugend, seine Erwartungen und Möglichkeiten, hasste seine Männlichkeit. Sie beneidete Ida. Und lauschte. Vivaldo summte den Blues.