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Acht Tage später war Eric in New York, Yves’ Worte noch im Ohr, seine Berührung, seinen Geruch bei sich am ganzen Körper. Und Yves’ Augen erhellten wie die Scheinwerfer am Eiffelturm oder der Feuerschwung eines Leuchtturms in regelmäßigen Abständen die schwere Dunkelheit um ihn herum und boten ihm in der schwarzen Ferne den einzigen Bezugsrahmen und seine einzige Orientierung.

Am letzten Tag in Paris, im letzten Augenblick, waren sie beide furchtbar verkatert gewesen, nachdem sie im Haus eines Freundes die ganze Nacht aufgeblieben waren; ihre Gesichter waren grau und feucht, sie stanken nach Erschöpfung. Um sie herum herrschten großes Geschrei und große Verwirrung, und der Zug atmete sie an wie ein unfassbar bösartiger Käfer. Sie waren beinahe zu müde für Traurigkeit, aber nicht zu müde für Angst. Die dampfte aus ihnen heraus wie der Giftdunst aus dem Gare St-Lazare. Während ihre Freunde diskret Abstand hielten, der Stationsvorsteher rufend den Bahnsteig auf und ab lief, »En voiture, s’il vous plaît! En voiture! En voiture!«, und der große Zeiger der großen Uhr sich der vollen Stunde näherte, starrten sie im tiefen schwarzen Schatten dieses Schuppens einander ins Gesicht wie Kameraden, die gemeinsam einen Krieg durchgestanden haben.

»T’en fais pas«, murmelte Eric.

»En voiture!«

Eric stieg hinauf ins Gedränge des Zuges. Es gab nichts zu sagen; es gab zu viel zu sagen.

»Ich hasse Warten«, sagte er. »Ich hasse Abschiede.« Und auf einmal war ihm zum Weinen, und Panik stieg in ihm auf, weil so viele Leute zusahen. »Wir sehen uns«, sagte er, »ganz bald. Das verspreche ich dir, Yves. Ich verspreche es dir. Tu me fais toujours confiance, j’espère?« Und er versuchte zu lächeln.

Yves sagte nichts, nickte aber, die Augen strahlend, der Mund verletzlich, die Stirn sehr hoch und voller Sorge. Menschen brüllten aus den Fenstern, reichten einander in letzter Sekunde Dinge hin und her. Eric stand als Letzter in der Tür. Er hatte das schreckliche Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Er hatte Yves’ Hotelzimmer bezahlt, sie waren bei der amerikanischen Botschaft und den französischen Behörden gewesen, er hatte Yves Geld dagelassen – was noch? was noch? Der Zug setzte sich in Bewegung. Yves sah einen Moment benommen aus, Eric blickte über sein Gesicht hinweg, um all den anderen Lebewohl zu sagen. Yves lief auf dem Bahnsteig mit, dann sprang er plötzlich auf die Stufe, hielt sich mit einer Hand fest und küsste Eric fest auf den Mund.

»Ne m’oublie pas«, flüsterte er. »Du bist alles, was ich habe auf dieser Welt.«

Als der Zug Fahrt aufnahm, sprang er ab. Er rannte noch ein Stück mit, dann blieb er stehen und sah ihm hinterher, Hände in den Taschen, während der Wind ihm die Haare plusterte. Eric winkte. Der Bahnsteig verjüngte sich, fiel ab, endete, der Zug schwenkte ab, und Yves verschwand aus seinem Blickfeld. Das schien unmöglich, und er starrte stumpf auf die vorbeifliegenden Masten und Kabel, auf das Schild PARISSAINT-LAZARE, auf die blanken Rückmauern der Gebäude. Dann liefen ihm Tränen übers Gesicht. Er steckte sich eine Zigarette an und blieb im Verbindungsgang stehen, während die grässlichen Vororte von Paris vorbeirollten. Warum fahre ich nach Hause?, fragte er sich. Aber er wusste, warum. Es war Zeit. Um nicht alles zu verlieren, was er gewonnen hatte, musste er weiter und alles riskieren.

 

New York wirkte wirklich sehr fremd. Mit ihren seltsam barbarischen Umgangsformen und Gebräuchen, mit ihren Schrecken und Gefahren, die nur eben unter der geselligen rauen Oberfläche schlummerten, hätte die Stadt, beinahe, ebenso gut irgendeine undurchdringlich exotische Stadt im Orient sein können. So glorreich weilte sie in der Gegenwart, dass sie mit dem Vergehen der Zeit nichts zu tun zu haben schien: Die Zeit mochte sie ebenso gründlich verworfen haben wie Karthago oder Pompeji. New York schien nicht den geringsten Sinn für die Bedrängnisse des menschlichen Lebens zu haben; es war so ungezwungen und so öffentlich, dass es verzweifelten Endes zur verschlossensten Stadt überhaupt wurde. Fortwährend wurde man angerempelt und sehnte sich doch nach Nähe, nach menschlicher Berührung; und auch wenn man in New York niemals – die übliche Klage – allein war, musste man doch schwer darum kämpfen, nicht vor Einsamkeit zugrunde zu gehen. Dieser Kampf, der auf so vielfältige Weise ausgefochten wurde, machte einem die Stadt so fremd. Die jungen Frauen auf der Fifth Avenue trugen ihre bunten Kleider wie Signalflaggen, im hilflosen Bemühen, der männlichen Bevölkerung die Nachricht ihrer rätselhaften Not zukommen zu lassen. Die Männer konnten diese Nachricht nicht lesen. Zielstrebig schritten sie dahin, barhäuptig oder mit kleinen anonymen Hüten, mit jugendlichem Mittelscheitel oder Bürstenschnitt, mit Aktenkoffern und gebotener Eile unterwegs zu den dampfenden Wagen ihrer Züge. In dieser Zuflucht schlugen sie ihre Zeitungen auf und informierten sich über die schlechten Nachrichten des Tages. Oder man fand sie, wenn die Uhr fünf schlug, in diskret dämmrigen, anonym ausgewählten Bars, unbehaglich, in spröder, unbehaglicher weiblicher Begleitung, freudlose Martinis kippend.

Diese Verzweiflung, die verschüttete Verzweiflung, wurde beharrlich, beständig wachgerufen. Sie pirschte durch alle New Yorker Avenues, durchstreifte alle New Yorker Straßen, war in Sutton Place, wo der Regisseur von Erics Theaterstück wohnte und die wichtigen Leute häufig zusammenkamen, ebenso präsent wie in Greenwich Village, wo Eric eine Wohnung gemietet hatte und mit Entsetzen feststellen musste, was die Zeit mit den Menschen gemacht hatte, die ihm einmal so vertraut gewesen waren. Er wurde das Gefühl nicht los, dass eine Art Seuche tobte, auch wenn es offiziell, öffentlich und privat geleugnet wurde. Selbst die Jugend wirkte befallen – stärker noch als alle anderen. Die Jungs in ihren Bluejeans zogen gemeinsam los und wagten kaum, einander zu vertrauen, waren aber wie die Älteren vereint in ihrem jungenhaften Misstrauen gegen Mädchen. Allein ihr Gang, eine Art erotikfeindlicher, kniefedernder Kanter, war eine Parodie von Fortbewegung und Männlichkeit. Sie schienen vor jedem Kontakt mit ihren hervorstechenden und paradox umrissenenen Geschlechtsteilen zurückzuscheuen. Sie schienen sich – aber konnte das stimmen? Und wie war das alles passiert? – mit Brutalität und Gleichgültigkeit eingerichtet und arrangiert zu haben und vor menschlicher Zuneigung zurückzuschrecken. Auf sonderbare Weise schienen sie sich ihrer nicht würdig zu fühlen.

Jetzt, an einem späten Sonntagnachmittag, als er seit vier Tagen in New York war und noch nicht an seine Eltern in den Südstaaten geschrieben hatte, ging Eric durch die tropischen Straßen zu Cass und Richard. Er würde mit ihnen auf seine Rückkehr anstoßen.

»Schön, dass ihr darauf anstoßen wollt«, hatte er am Telefon zu Cass gesagt.

Sie lachte. »Das ist aber nicht sehr nett. Du klingst, als hätten wir dir überhaupt nicht gefehlt.«

»Ach, euch will ich auf jeden Fall sehen. Ich weiß nur nicht, wie sehr mir die Stadt gefehlt hat. Ist dir schon mal aufgefallen, wie hässlich sie ist?«

»Und sie wird immer hässlicher«, sagte Cass. »Da sieht man, wie die freie Marktwirtschaft entgleist.«

»Ich wollte dir danken«, sagte er nach kurzer Pause, »dass du mir wegen Rufus geschrieben hast.« Und er dachte, mit überraschender und schmerzlicher Gehässigkeit: Sonst hat ja keiner dran gedacht.

»Na ja, ich wusste, dass du es wissen willst«, sagte sie. Dann herrschte Schweigen. »Seine Schwester kennst du gar nicht, oder?«

»Ich weiß nur, dass er eine hat. Kennengelernt habe ich sie nicht; sie war ein Kind damals.«

»Jetzt ist sie kein Kind mehr«, sagte Cass. »Am Sonntag singt sie im Village, mit ein paar Freunden von Rufus. Zum ersten Mal. Wir haben versprochen, dich mitzubringen. Vivaldo wird auch da sein.«

Er dachte an Rufus. Er wusste nicht, was er sagen sollte. »Dann ist sie so wie ihr Bruder, hm?«

»Das würde ich nicht sagen. Ja und nein.« Kurz: »Wirst du sehen.« Darauf folgte das nächste Schweigen, und nach einem Moment legten sie auf.

Er betrat das Haus, stieg in den Fahrstuhl und sagte dem Aufzugführer, wo er hinwollte. Eric hatte das Gebaren amerikanischer Aufzugführer vergessen, aber nun stand es ihm wieder vor Augen. Dieser knallte ohne ein schroffes Wort die Türen zu und fuhr die Kabine nach oben. Mit seinem speziellen Schweigen drückte er seine Missbilligung der Silenskis und all ihrer Freunde aus und seine lebhafte Überzeugung, genauso gut zu sein wie sie.

Eric klingelte. Cass machte sofort auf; sie sah aus wie der strahlende Tag.

»Eric!« Sie musterte ihn mit dem liebevollen Spott, an den er sich jetzt erinnerte. »Wie gut du aussiehst mit den kurzen Haaren!«

»Wie gut du aussiehst mit den langen Haaren«, gab er zurück. »Oder waren sie schon immer so lang? Solche Sachen vergisst man, wenn man so lange weg ist.«

»Lass dich anschauen.« Sie zog ihn in die Wohnung und machte die Tür zu. »Du siehst wirklich toll aus. Willkommen zu Hause.« Unvermittelt beugte sie sich vor und küsste ihn auf die Wange. »Macht man das so in Paris?«

»Du musst mich auf beide Wangen küssen«, sagte er ernst.

»Oh.« Sie wirkte etwas beschämt, küsste ihn aber noch mal. »So besser?«

»Viel«, sagte er. »Wo sind die anderen?« Das große Wohnzimmer war leer, und man hörte Blues. Es war die Stimme einer schwarzen Frau, die Stimme von Bessie Smith; sie schleuderte ihn mit Gewalt in den Glutkern seiner Vergangenheit: It’s raining and it’s storming on the sea. I feel like somebody has shipwrecked poor me.

Einen Moment lang sah Cass aus, als würde sie seine Frage mokant wiederholen. Sie ging quer durchs Zimmer und stellte die Musik leiser. »Die Kinder sind drüben im Park mit ein paar Freunden. Richard sitzt am Schreibtisch und arbeitet. Aber gleich sind sie alle da.«

»Ach«, sagte er, »dann bin ich zu früh. Tut mir leid.«

»Du bist nicht zu früh, du bist pünktlich. Und ich freue mich. Ich hatte gehofft, dass ich Gelegenheit habe, allein mit dir zu sprechen, bevor wir zu dieser Jam Session runterfahren.«

»Hier hast du auch gerade eine ziemlich angenehme Jam Session laufen«, sagte er. Cass ging an die Bar, und er warf sich aufs Sofa. »Schön kühl hier drin. Draußen ist es furchtbar. Ich hatte vergessen, wie heiß New York sein kann.«

Die großen Fenster standen offen, und das Wasser lag vor ihnen, hell und friedlich, aber trüber als das Mittelmeer. Die Brise, die ins Zimmer wehte, kam direkt vom Wasser, schien beinahe Würze und Mief von Europa mitzubringen und Yves’ Gemurmel. Eric lehnte sich zurück, aufgehoben in einer friedvollen Melancholie, getröstet von Bessies Beat, und sah zu Cass hinüber.

Die Sonne umfing ihr goldenes Haar, das hochgesteckt war und ihr in mädchenhaften, etwas zu ungezwungenen und ungeordneten Locken in die Stirn fiel. Es sollte ein Gesicht weicher machen, dessen hervorstechendstes Merkmal schon immer eine karge, fragile Knochigkeit gewesen war. Um die großen Augen zog sich jetzt ein feines Netz aus Falten, und die Sonne verriet, dass sie etwas zu viel Make-up aufgetragen hatte. Dies und etwas unbenennbar Trauriges um Mund und Kinn, als sie dort still mit gesenktem Kopf an der Bar stand, gaben Eric das Gefühl, dass Cass am Verblühen war, zerbrechlich wurde. Etwas Eisiges hatte sie berührt.

»Möchtest du Gin oder Wodka oder Bourbon oder Scotch oder Bier? Oder Tequila?« Sie hob den Kopf. In ihrem aufrichtigen Lächeln lag Erschöpfung und nicht mehr das schelmische Vergnügen, an das er sich erinnerte. Und um den Hals zogen sich winzige Linien, die ihm noch nie aufgefallen waren.

Wir werden alt, dachte er, und zwar verdammt schnell.

»Ich glaube, ich bleibe besser bei Whiskey. Von Gin werde ich zu schnell zu betrunken – und ich weiß nicht, was der Abend noch bereithält.«

»Ah«, sagte sie, »weitsichtiger Eric! Und was für einen Whiskey?«

»In Paris meinen wir, wenn wir Whiskey bestellen – was ich mich lange Zeit nicht getraut habe –, immer Scotch.«

»Du hast Paris geliebt, oder? Muss ja, du warst so lange weg. Erzähl mir ein bisschen.«

Sie schenkte zwei Gläser ein und setzte sich neben ihn. Von weit weg hörte Eric das Pling! einer Schreibmaschinenglocke.

It’s a long old road, sang Bessie, but I’m going to find an end.

»So lange fühlt es sich gar nicht an«, sagte Eric, »jetzt, wo ich zurück bin.« Er war auf einmal sehr schüchtern, denn als Cass sagte: Du hast Paris geliebt, dachte er sofort: Yves ist da. »Eine tolle Stadt, Paris, eine wunderschöne Stadt, und – sie hat mir sehr gutgetan.«

»Das sieht man. Du wirkst viel glücklicher. Ein Licht umfängt dich.«

Sie sagte das geradeheraus, wehmütig, verschwörerisch: als kennte sie den Grund seines Glücks und freute sich mit ihm.

Er schlug die Augen nieder, blickte aber gleich wieder auf. »Das liegt nur an der Sonne«, sagte er, und sie lachten. Aber es wollte raus: »Ich war wirklich sehr glücklich da.«

»Aber du bist nicht weggegangen, weil du nicht mehr glücklich warst?«

»Nein.« And when I get there, I’m going to shake hands with a friend. »Ein Bekannter von mir, der meint, er hätte große hellseherische Fähigkeiten« – lächelnd nahm er einen Schluck –, »ein Franzose, hat mich davon überzeugt, dass ich ein großer Star werde, wenn ich nach Hause komme und dieses Stück spiele. Und ich habe einfach nicht den Mumm, mich gegen die Sterne zu stellen, von der Auseinandersetzung mit einem Franzosen ganz zu schweigen. Also.«

Sie lachte. »Ich wusste gar nicht, dass Franzosen auf so was stehen. Ich dachte, die halten es eher mit der Logik.«

»Französische Logik ist ganz einfach. Was Franzosen machen, ist logisch, weil die Franzosen es machen. Das ist der unschlagbare Vorteil, den die französische Logik vor allen anderen hat.«

»Verstehe.« Sie lachte wieder. »Ich hoffe, du hast das Stück gelesen, bevor dein Freund die Sterne zurate gezogen hat. Ist es eine gute Rolle?«

»Die beste«, sagte er nach kurzem Zögern, »die ich je hatte.«

Erneut hörte er kurz die Schreibmaschine klingeln. Cass steckte sich eine Zigarette an, bot Eric eine an und gab ihm Feuer. »Bleibst du jetzt hier, oder hast du vor, zurückzugehen?«

»Ich habe nicht vor, zurückzugehen«, sagte er schnell, »viel – vielleicht alles – hängt davon ab, wie es mit dem Stück läuft.«

Sie bemerkte seinen Rückzug und passte ihren Ton an. »Ach, ich würde so gerne bei den Proben zugucken. Ich würde auch für euch Kaffee kochen und solche Sachen. Dann hätte ich das Gefühl, dass ich zu deinem Triumph beitrage.«

»Weil du sicher bist, dass es ein Triumph wird«, sagte er lächelnd. »Sehr schön, Cass. Wahrscheinlich ist das eine Angewohnheit von Frauen bedeutender Männer.«

Weeping and crying, tears falling on the ground.

Eine gewisse Spannung kam auf, weil sie beide wussten, weshalb er seine Karriere in New York so lange hatte schleifen lassen. Aber dann ließ er seine Gedanken zur Premiere vorausschweifen und dachte: Yves wird da sein. Der Gedanke beflügelte ihn und gab ihm Sicherheit. Jetzt fühlte er sich nicht sicher, hier allein mit Cass; seit er das Schiff verlassen hatte, fühlte er sich nicht sicher. Seine Ohren sehnten sich nach Yves’ Schritten neben sich: Bis er diesen Rhythmus hörte, waren alle anderen Geräusche bedeutungslos. Weeping and crying, tears falling on the ground. Alle anderen Gesichter wurden durch Yves’ grelle Abwesenheit weggewischt. Eric hätte Cass so gern von Yves erzählt, aber er traute sich nicht, wusste nicht, wie er anfangen sollte.

»Ach, Frauen bedeutender Männer«, sagte Cass. »Wie gern würde ich diesem literarischen Mythos die Luft ablassen.« Sie nippte ernst an ihrem Whiskey, ohne etwas zu schmecken, so schien es. When I got to the end, I was so worried down. »Du wirkst sehr gefestigt«, sagte sie.

»Tatsächlich?« Er war zutiefst erstaunt und erfreut. »Ich fühle mich nicht sehr gefestigt.«

»Ich weiß noch, bevor du weggegangen bist, da warst du todunglücklich. Wir haben uns alle gefragt – ich hab mich gefragt –, was wohl aus dir wird. Aber jetzt bist du nicht unglücklich.«

»Nein.« Er wurde rot, als sie ihn eingehend musterte. »Ich bin nicht mehr unglücklich. Aber was aus mir wird, weiß ich immer noch nicht.«

»Wachstum«, sagte sie, »du wirst wachsen. Du bist gewachsen.« Und erneut schenkte sie ihm ihr seltsam intimes, wehmütiges Lächeln. »Es ist so schön, dich zu sehen, so – beneidenswert. Ich beneide nicht viele Leute. Ich hab schon sehr, sehr lange niemanden mehr beneidet.«

»Das ist wirklich witzig«, sagte er, »dass du mich beneidest.« Er stand auf und ging ans Fenster. Hinter ihm, unter der großen Klage der Musik, sammelte sich schweres Schweigen: Auch Cass hatte etwas zu erzählen, aber er wollte nicht wissen, worum es ging. You can’t trust nobody, you might as well be alone. Er starrte aufs Wasser. »Wie war Rufus«, fragte er, »zuletzt?«

Nach einem Moment drehte er sich zu ihr um. »Ich wollte das gar nicht fragen, aber wahrscheinlich will ich es wirklich wissen.«

Trotz der verspielten Stirnlocken wurde ihr Gesicht hager und nachdenklich. Sie spitzte die Lippen. »Ein bisschen habe ich dir schon erzählt«, sagte sie, »in meinem Brief. Aber damals wusste ich nicht, wie es dir geht, und wollte dich nicht grundlos belasten.« Sie drückte ihre Zigarette aus und steckte sich die nächste an. »Er war sehr verzweifelt, wie – wie du weißt.« Sie hielt inne. »Ehrlich gesagt, sind wir ihm nie sehr nahegekommen. Vivaldo kannte ihn besser als – als wir jedenfalls.« Eric wurde von einer seltsamen Eifersucht gepackt: Vivaldo! »Wir haben ihn nicht oft gesehen. Er hatte sich mit einer aus dem Süden eingelassen, einer jungen Frau aus Georgia –«

Found my long lost friend, and I might as well stayed at home!

»Das hast du mir nicht geschrieben«, sagte er.

»Nein. Er war nicht sehr nett zu ihr. Er hat sie oft geschlagen –«

Eric starrte sie an, spürte, wie er bleich wurde, erinnerte sich an mehr, als er erinnern wollte, spürte, wie seine Hoffnungen und seine Hoffnung auf Sicherheit bedroht wurden von unbezwingbaren, namenlosen Kräften in ihm selbst. Er erinnerte sich an Rufus’ Gesicht, seine Hände, seinen Körper und seine Stimme und an die ständige Demütigung. »Geschlagen? Warum?«

»Tja – wer weiß? Weil sie aus dem Süden war, weil sie weiß war. Keine Ahnung. Weil er Rufus war. Ganz hässliche Angelegenheit. Sie war ein nettes Mädchen, ein etwas armer Tropf vielleicht –«

»Wollte sie geschlagen werden? Ich meine, wollte etwas in ihr das, wurde sie gern – erniedrigt?«

»Nein, das glaube ich nicht. Das glaube ich wirklich nicht. Na ja, vielleicht ist in jedem etwas, das gern erniedrigt wird, aber ich glaube nicht, dass das Leben so einfach ist. Diesen Schablonen traue ich nicht.« Sie überlegte. »Ganz ehrlich, ich glaube, wahrscheinlich hat sie Rufus geliebt, richtig geliebt, und wollte von Rufus geliebt werden.«

»Wie abartig!«, sagte er. Und trank aus.

Ein Hauch von Belustigung streifte ihre Miene. »Jedenfalls wurde es immer schlimmer mit ihrer Beziehung, und am Ende kam sie in eine Einrichtung –«

»Du meinst, ein Irrenhaus?«

»Ja.«

»Wo?«

»Im Süden. Ihre Familie ist hergekommen und hat sie abgeholt.«

»Mein Gott«, sagte er. »Erzähl weiter.«

»Na, dann ist Rufus verschwunden, ziemlich lange – in der Zeit war seine Schwester bei uns, auf der Suche nach ihm –, ist dann noch mal zurückgekommen und … ist dann gestorben!« Hilflos öffnete sie eine knochige Hand und schloss sie zu einer Faust.

Eric wandte sich wieder zum Fenster. »Aus dem Süden.« Er spürte einen sehr dumpfen, sehr schwachen Schmerz. Sie schien so weit her, diese keuchende, zitternde, fröstelnde, brennende Zeit. Der Schmerz war jetzt schwach, aber damals war er kaum zu ertragen gewesen. Er ließ sich nicht wirklich aufrufen, weil er ein Teil von ihm geworden war, doch auch wenn der Schmerz an Macht verloren hatte, war er noch lebendig: Rufus’ Gesicht stand ihm wieder vor Augen, dieses dunkle Gesicht mit den dunklen Augen und den vollen, geschwungenen Lippen. Das war Rufus’ Gesicht, wenn er Eric voller Liebe ansah. Dann kamen seine anderen Gesichter aus dem Verborgenen, das listige, lockende Gesicht der Lust, das distanzierte Gesicht befriedigter Lust. Für einen kurzen Moment sah Eric Rufus’ Gesicht, wie es in den Tod blickte, und sah seinen Körper durch die Luft rasen: ins Wasser, das Wasser, das sich jetzt unter ihnen erstreckte. Der alte Schmerz zog sich dorthin zurück, wo er sich in Eric eingerichtet hatte, doch ein anderer, noch heimatloser Schmerz klopfte – nicht zum ersten Mal – an sein Herz: Eines Tages würde er sich Eintritt verschaffen und für immer bei ihm bleiben. Catch them. Don’t let them blues in here. They shakes me in my bed, can’t sit down in my chair.

»Ich schenk dir noch was ein«, sagte Cass.

»Gern.« Sie nahm sein Glas. Als sie zur Bar ging, sagte er: »Du hast von uns gewusst, nehme ich an? Ich nehme an, alle haben es gewusst – obwohl wir uns für so clever hielten. Und er hatte ja auch andauernd Frauen um sich.«

»Na, genau wie du«, sagte sie. »Ich kann mich sogar vage daran erinnern, dass du irgendwann heiraten wolltest.«

Er nahm seinen Whiskey vom Tresen und schritt durch den Raum. »Ja. An sie hab ich auch lange nicht mehr gedacht.« Er zog eine säuerliche Grimasse. »Das stimmt, ich hatte ganz schön viele Frauen um mich. Ich kann mich kaum an ihre Namen erinnern.« Während er das sagte, kamen ihm die Namen von zwei, drei ehemaligen Freundinnen in den Sinn. »Ich habe schon Jahre nicht mehr an sie gedacht.« Er setzte sich wieder aufs Sofa. Cass beobachtete ihn von der Bar aus. »Vielleicht«, sagte er gequält, »hab ich sie Rufus’ wegen um mich gehabt – um etwas zu beweisen vielleicht, ihm oder mir selbst.«

Es wurde dämmrig im Zimmer. Bessie sang, The blues has got me on the go. They runs around my house, in and out of my front door. Dann schrammte die Nadel ziellos vor sich hin, bis der Plattenteller mit einem Klick stehen blieb. Eric hatte sich schmerzhaft in der Erinnerung an jene ungeliebten, aber nicht ganz unbegehrten Frauen verfangen. Wie sie sich anfühlten, wie sie rochen, das holte ihn jetzt ein: Und er war ganz überfahren davon, dass er so lange nicht an diese Seite seiner selbst gedacht hatte. Das lag an Yves. Dieser Gedanke erfüllte ihn mit entsetzlichem Unmut: Er erinnerte sich an Yves’ feindselige Abenteuer mit den Frauen vom Quartier Latin und aus Saint-Germain-des-Prés. Diese Abenteuer hatten Eric nicht berührt, weil sie Yves so eindeutig nicht berührt hatten. Jetzt aber brach seine Angst wie ein Taucher nackt und in ganzer Pracht durch die Oberfläche: Hier würde er Yves verlieren. Hier würde es passieren. Und er, er hätte keine Frau, und er hätte keinen Yves. Seine Haut begann zu jucken, ihm brach der Schweiß aus.

Er drehte sich zu Cass um, die sich in der Düsternis ganz still neben ihn aufs Sofa gesetzt hatte. Statt ihn anzusehen, saß sie da mit ihren eigenen Gedanken, die Hände im Schoß gefaltet.

»Hier ist ja echt der Teufel los«, sagte er.

Sie stand auf und schüttelte sich ein wenig. »Das kann man wohl sagen! Ich hab mich schon gefragt, wo die Kinder bleiben – die sollten eigentlich schon zu Hause sein. Und vielleicht sollte ich besser mal Licht machen.« Sie knipste eine Lampe neben der Bar an. Das Wasser und die Lichter am Ufer schimmerten jetzt sanfter, kündeten von der bevorstehenden Nacht. Alles war perlgrau, mit Gold durchwirkt. »Ich sag jetzt mal Richard Bescheid.«

»Ich hätte nicht gedacht«, sagte er, »dass es so einfach ist, sich wieder zu Hause zu fühlen.«

Sie warf ihm einen raschen Blick zu. »Ist das gut?«

»Weiß ich noch nicht.« Er wollte noch etwas sagen, etwas über Yves, aber da ging Richards Tür auf und wieder zu. Er drehte sich um, und da kam Richard ins Zimmer; er sah sehr gut aus, jungenhaft und groß.

»Na, da haben wir dich ja zurück! Man erzählt sich, Shubert Alley hat die letzten Pennys zusammengekratzt, um dich zu kriegen. Wie geht es dir, altes Haus?«

»Gut geht’s mir, Richard, schön, dich zu sehen.« Sie klebten kurz aneinander in der sonderbar abgeklemmten amerikanischen Umarmung und traten dann einen Schritt zurück, um einander anzusehen. »Hab gehört, du verkaufst mehr Bücher als Frank Yerby.«

»Bessere«, sagte Richard, »aber nicht mehr.« Er sah zu Cass hinüber. »Wie geht’s dir, Spatz? Was machen die Kopfschmerzen?«

»Eric hat mir ein bisschen von Paris erzählt, da hab ich sie ganz vergessen. Warum fahren wir nicht mal nach Paris? Ich glaube, das würde Wunder wirken.«

»Ja, für unser Bankkonto auch. Lass dir von diesem lausigen Rückwanderer nicht den Kopf verdrehen.« Er ging an die Bar und schenkte sich etwas ein. »Hast du viele gebrochene Herzen zurückgelassen?«

»Man war da sehr zurückhaltend. Jahrhunderte der Gesittung haben schon was bewirkt.«

»Das haben die mir auch andauernd erzählt, als ich drüben war. Viel mehr als Armut, Korruption und Krankheit schienen sie aber nicht bewirkt zu haben. Wie fandst du es?«

»Fantastisch. Ich fand es herrlich. Allerdings war ich ja auch nicht in der Army …«

»Gefallen dir die Franzosen? Ich kann sie nicht ausstehen; hässlich und affig wie nur was.«

»Fand ich nicht. Sie können einen ziemlich auf die Palme bringen – aber du meine Güte, mir gefallen sie.«

»Tja. Du bist ja auch ein viel geduldigerer Zeitgenosse als ich.« Er grinste. »Wie ist dein Französisch?«

»Du trottoir. Aber fließend.«

»Hast du es im Bett gelernt?«

Er wurde rot. Richard betrachtete ihn amüsiert.

»Ehrlich gesagt, ja.«

Richard nahm sein Glas mit und setzte sich aufs Sofa. »Ich sehe schon, das Reisen hat deine Moral keineswegs verbessert. Bist du jetzt eine Weile hier?«

Eric setzte sich in den Sessel auf der anderen Zimmerseite. »Na ja, ich muss auf jeden Fall hierbleiben, bis das Stück anläuft. Aber danach – wer weiß?«

»Also« – Richard erhob sein Glas –, »auf die Hoffnung. Möge es länger laufen als Die Tabakstraße

Eric schauderte. »Aber nicht mit mir, Kumpel.« Er trank, steckte sich eine Zigarette an; eine vertraute Angst und Wut regten sich in ihm. »Erzähl mir, wie ist es dir ergangen?«

Doch noch während er seine Frage stellte, merkte er, dass es ihn nicht scherte, wie es Richard ergangen war. Er wollte nur höflich sein, weil Richard mit Cass verheiratet war. Er fragte sich, ob er schon immer so empfunden hatte. Vielleicht hatte er sich das nur nie eingestehen können. Vielleicht hatte Richard sich verändert – aber veränderten sich die Menschen denn? Er fragte sich, was er von Richard halten würde, wenn er ihn jetzt erst kennenlernte. Dann fragte er sich, was Yves von diesen Menschen halten würde und diese Menschen von Yves.

»Es gibt nicht viel zu erzählen. Von dem Buch weißt du ja – ich besorge dir ein Exemplar, als Willkommensgeschenk.«

»Jetzt bist du aber froh, dass du zurückgekommen bist«, sagte Cass.

Richard lächelte. »Keine Hinterhältigkeiten, bitte.« Zu Eric sagte er: »Cass macht sich immer noch gern über mich lustig.« Dann: »Bald kommt das nächste Buch, Hollywood kauft vielleicht das erste, und beim Fernsehen steht auch was an.«

»Ist was für mich dabei in der Fernsehgeschichte?«

»Alles schon besetzt, tut mir leid. Dich hätten wir uns wahrscheinlich sowieso nicht leisten können.« Es klingelte. Cass ging öffnen.

Auf einmal herrschte große Aufregung an der Tür, Geschluchze und Geschrei, aber Eric reagierte erst, als er Richards Gesicht sah und Cass’ Aufschrei hörte. Richard und Eric standen auf, und die Kinder kamen ins Zimmer gepoltert. Michael schluchzte, Blut tropfte aus Mund und Nase auf sein rot-weiß gestreiftes T-Shirt. Paul war hinter ihm, bleich und stumm, Blut auf seinen Knöcheln und quer überm Gesicht; sein weißes Hemd war zerrissen.

»Schon gut, Cass«, sagte Richard schnell, »alles gut. Sie leben noch.« Michael rannte zu seinem Vater und vergrub sein blutiges Gesicht in dessen Bauch. Richard sah Paul an. »Was zum Teufel ist passiert?«

Cass zog Michael weg und sah ihm ins Gesicht. »Komm, mein Schatz, ich wasch dir das Blut ab, und dann sehen wir mal, was mit dir los ist.« Michael drehte sich zu ihr um, noch immer schluchzend, starr vor Schreck. Cass hielt ihn im Arm. »Komm, mein Schatz, alles ist gut, pssst, mein Schatz, na komm.« Michael wurde an Cass’ zitternder Hand weggeführt, und Richard warf Eric über Pauls Kopf hinweg einen kurzen Blick zu.

»Komm schon«, sagte er zu Paul, »was ist passiert? Habt ihr euch geprügelt, oder hast du ihn verhauen, oder was?«

Paul setzte sich hin und presste die Hände zusammen. »Ich weiß nicht genau, was passiert ist.« Auch er war den Tränen nahe; sein Vater wartete. »Wir haben Ball gespielt, und dann wollten wir langsam nach Hause, wir haben gar nichts gemacht, nur Blödsinn beim Gehen. Ich hab nicht geguckt, was Mike macht, er war hinter mir mit ein paar Freunden. Und dann« – er sah seinen Vater an – »sind ein paar schwarze – schwarze Jungs, die kamen über den Hügel und haben irgendwas gebrüllt, ich hab nicht verstanden, was sie gebrüllt haben. Einer hat mir ein Bein gestellt, als er an mir vorbei ist, und dann haben sie angefangen, die Kleineren zu verhauen, und wir sind hingelaufen, damit sie aufhören.« Er sah wieder seinen Vater an. »Wir haben die vorher noch nie gesehen, ich weiß nicht, wo die herkamen. Einer hat Mike auf den Boden gedrückt und auf ihn eingeprügelt, aber ich hab ihn runtergezerrt.« Er sah auf seine blutige Faust. »Ich glaub, ich hab ihm ein paar Zähne eingeschlagen.«

»Gut so. Du hast dir nichts getan? Wie fühlst du dich?«

»Ich fühl mich okay.« Aber ihn schauderte.

»Steh auf, komm her, lass dich mal anschauen.«

Paul stand auf und ging zu seinem Vater, der sich hinkniete und ihm ins Gesicht sah, ihm sanft in Bauch und Brust drückte und über Hals und Nacken strich. »Du hast ziemlich was auf den Kiefer gekriegt, stimmt’s?«

»Mike ist schlimmer dran als ich.« Aber dann fing er plötzlich an zu weinen. Richards Mund zog sich zusammen; er nahm seinen Sohn in den Arm. »Nicht weinen, Paul, es ist vorbei.«

Aber jetzt konnte Paul nicht mehr aufhören. »Warum machen die denn so was, Papa? Wir haben die vorher noch nie gesehen!«

»Manchmal – manchmal ist die Welt so, Paul. Man muss sich einfach vor solchen Leuten in Acht nehmen.«

»Ist es, weil sie schwarz sind und wir weiß? Liegt es daran?«

Richard und Eric wechselten noch einen Blick. Richard schluckte. »Die Welt ist voller unterschiedlichster Menschen, und manchmal tun sie einander schlimme Dinge an, aber – daran liegt es nicht.«

»Manche Schwarze sind sehr nett«, sagte Eric, »und manche sind nicht so nett – wie bei den Weißen. Manche sind nett, und manche sind schrecklich.« Aber er klang nicht sehr überzeugend, und er wünschte, er hätte sich rausgehalten.

»So was passiert hier in letzter Zeit immer öfter«, sagte Richard, »und offen gestanden bin ich drauf und dran, die Segel zu streichen und die Insel den verdammten Indianern zurückzugeben. Ihr Ansinnen war es bestimmt nicht, dass wir hier glücklich werden.« Er lachte kurz und trocken und wandte sich dann wieder Paul zu. »Würdest du die Jungs wiedererkennen, wenn du sie siehst?«

»Glaub schon.« Paul holte Luft und wischte sich über die Augen. »Ich weiß, dass ich einen von denen wiedererkennen würde, den, den ich geschlagen hab. Als das Blut aus seiner Nase und aus seinem Mund rauskam, das sah so … hässlich aus auf seiner Haut.«

Richard betrachtete ihn einen Moment. »Lass uns sauber machen gehen und nachgucken, was mit dem guten Michael ist.«

»Michael kann nicht kämpfen«, sagte Paul, »weißt du? Also hacken die andern immer auf ihm rum.«

»Na, dann müssen wir das ändern. Er wird lernen müssen zu kämpfen.« Er ging zur Tür, den Arm um Pauls Schulter. »Mach’s dir bequem, okay?«, sagte er zu Eric. »Ich bin gleich zurück.« Dann verließen Paul und er das Wohnzimmer.

Eric hörte die Stimmen der Kinder und ihrer Eltern, rasend, undeutlich, verstört. »Alle Kinder raufen sich«, sagte Richard, »jetzt lass uns das doch nicht so aufbauschen.« »Sie haben sich nicht gerauft«, sagte Cass, »sie wurden angegriffen. Für meine Begriffe ist das nicht dasselbe.« »Cass, machen wir es nicht noch schlimmer, als es ist.« »Ich finde immer noch, wir sollten einen Arzt rufen; wir wissen nichts über den menschlichen Körper, woher sollen wir wissen, dass drinnen nichts gebrochen ist oder blutet? Das passiert andauernd, dass Menschen zwei Tage nach einem Unfall plötzlich tot umfallen.« »Okay, okay, jetzt werd nicht hysterisch, willst du sie zu Tode erschrecken?« »Ich bin nicht hysterisch, und du hör auf, den Fels von Gibraltar zu spielen. Ich bin nicht dein Publikum, ich kenne dich!« »Was soll denn das jetzt heißen?« »Nichts. Nichts. Rufst du jetzt bitte einen Arzt?« Michaels Stimme ging dazwischen, hoch und gebrochen vor Kinderpanik. »Ach, das ist ja das Dümmste, was ich je gehört habe«, sagte Cass in einem anderen Ton und mit großer Entschiedenheit, »natürlich kommt keiner her, während du schläfst. Mama und Papa sind hier und Paul auch.« Michaels Stimme unterbrach sie wieder. »Alles ist gut, wir gehen nicht aus«, sagte Cass. »Heute Abend gehen wir nicht aus«, sagte Richard, »und Paul und ich zeigen dir ein paar Tricks, damit die Jungs dich nicht mehr ärgern. Wenn wir damit durch sind, haben diese Kerle Angst vor dir. Die brauchen dich nur zu sehen, Junge, und machen sich aus dem Staub.« Eric hörte Michaels wackliges Lachen. Dann hörte er, wie eine Nummer gewählt wurde, dann Richards Stimme und das kurze Klingeln beim Auflegen.

»Wir gehen wohl heute Abend doch nicht mit dir aus«, sagte Richard, als er wieder ins Zimmer kam. »Tut mir leid. Bestimmt ist alles in Ordnung, aber Cass möchte, dass der Arzt sie sich ansieht, und wir müssen hier auf ihn warten. Sowieso sollten wir sie wohl heute Nacht nicht allein lassen.« Er ging an die Bar; er war nicht so ruhig, wie er tat. »Die kleinen schwarzen Scheißer«, murmelte er, »die hätten den Jungen umbringen können. Warum zum Teufel können sie das nicht aneinander auslassen, Herrgott noch mal!«

»Haben sie Michael böse erwischt?«

»Na ja, sie haben einen Zahn gelockert und die Nase blutig geschlagen – aber vor allem haben sie ihm eine Scheißangst eingejagt. Gott sei Dank war Paul dabei.« Dann schwieg er. »Ich weiß nicht. Dieses ganze Viertel, diese ganze Stadt geht vor die Hunde. Ich sag Cass andauernd, wir sollten umziehen – aber sie will nicht. Vielleicht ändert sie jetzt ihre Meinung.«

»Worüber?«, fragte Cass. Sie steuerte den Couchtisch an, nahm ihre Zigaretten und steckte sich eine an.

»Aus der Stadt rauszuziehen«, sagte Richard. Er behielt sie im Blick, während er sprach, und sprach zu leise, als würde er sich beherrschen.

»Ich habe nichts dagegen, umzuziehen. Wir haben uns nur noch nicht einigen können, wohin.«

»Wir haben uns noch nicht einigen können, wohin, weil du nichts anderes tust, als gegen jeden Ort, den ich vorschlage, Einwände vorzubringen. Und da du noch keine Gegenvorschläge gemacht hast, schließe ich daraus, dass du gar nicht umziehen willst.«

»Ach, Richard, ich bin nur nicht so schrecklich erpicht auf diese Künstlerkolonien, in die du uns eingemeinden willst …«

Richards Augen wurden so dunkel wie tiefes Wasser. »Cass mag keine Schriftsteller«, sagte er wie nebenbei zu Eric, »jedenfalls nicht, wenn sie von ihrer Arbeit leben können. Sie findet, Schriftsteller sollten auf ewig hungern und huren wie unser guter Freund Vivaldo. Prima, Junge, das ist echt verantwortungsbewusst und künstlerisch. Aber wir anderen alle, die sich bemühen, eine Frau zu lieben und eine Familie zu ernähren und ein bisschen Knete zu machen – wir sind die Huren.«

Cass war sehr bleich. »Etwas Derartiges habe ich nie gesagt.«

»Nein? Es gibt viele Arten, etwas« – er ahmte sie nach – »Derartiges zu sagen. Tausendmal hast du das schon gesagt. Du musst mich für sehr dumm halten, Spatz.« Er wandte sich wieder an Eric, der am Fenster stand und sich wünschte, er könnte hinausfliegen. »Wenn sie einen Kerl wie Vivaldo am Bein hätte –«

»Lass Vivaldo aus dem Spiel! Was hat der denn damit zu tun?«

Richard lachte überraschend fröhlich und wiederholte: »Wenn sie so einen Kerl am Bein hätte, dann gäbe es vielleicht nicht so ein Gezeter! Ach, welch Martyrium! Und wie sie schwelgen würde!« Er nahm einen Schluck und ging auf sie zu. »Und weißt du, warum? Willst du wissen, warum?« Es herrschte Schweigen. Sie richtete ihre großen Augen auf ihn. »Weil du wie all die anderen amerikanischen Fotzen bist. Du willst einen Kerl, den du bemitleiden kannst, du liebst ihn, solange er hilflos ist, dann kannst du einspringen, wie du so gerne sagst, du kannst ihm eine Hilfe sein. Hilfe!« Er warf den Kopf zurück und lachte. »Eines schönen Tages wird dem Kerl dann kalt zwischen den Beinen, er sucht nach seinem Schwanz und seinen Eiern und muss feststellen, dass seine Frau so zuvorkommend war, sie in den Wäscheschrank zu sperren.« Er trank aus und holte rasselnd Luft. Seine Stimme schlug um und wurde beinahe zärtlich vor Traurigkeit. »So ist es doch, oder, Schatz? Du magst mich nicht mehr so wie früher.«

Sie sah furchtbar matt aus; ihre Haut schien ihre Spannkraft verloren zu haben. Sie legte eine Hand leicht auf seinen Arm. »Nein«, sagte sie, »so ist das nicht.« Dann wurde sie von Wut gepackt, und ihr kamen die Tränen. »Du hast überhaupt kein Recht, so was zu mir zu sagen, du gibst mir die Schuld für etwas, das nichts mit mir zu tun hat!« Er wollte ihre Schulter berühren; sie wich zurück. »Geh lieber, Eric, das hier ist bestimmt nicht lustig für dich. Entschuldige uns bitte bei Vivaldo und Ida.«

»Du kannst sagen, dass die Silenskis, dieses Vorzeigepaar, ihren Sonntagsstreit ausfechten«, sagte Richard, sehr weiß im Gesicht, schwer atmend, mit starrem Blick auf Cass.

Eric stellte behutsam sein Glas ab; er wollte schnell weg. »Ich sage einfach, dass ihr hierbleiben musstet wegen der Kinder.«

»Sag Vivaldo, es soll ihm eine Warnung sein. Das passiert, wenn man Kinder hat, das passiert, wenn man bekommt, was man sich wünscht.« Einen Moment lang sah Richard zutiefst verwirrt aus, wie ein Jugendlicher. »Himmel, Eric, es tut mir leid. Wir hatten nicht vor, dir so einen melodramatischen Nachmittag zu bescheren. Bitte komm uns wieder besuchen, wir machen das nicht jedes Mal, wirklich nicht. Ich bring dich zur Tür.«

»Schon okay«, sagte Eric. »Ich bin ein großer Junge, ich versteh das schon.« Er ging zu Cass, und sie gaben sich die Hand. »Es war schön, dich zu sehen.«

»Schön, dich zu sehen. Lass das Licht nicht ausgehen.«

Er lachte, doch diese Worte ließen ihn auch frösteln. »Ich gebe mir Mühe, weiterzubrennen«, sagte er. Richard und er traten in den Flur. Cass blieb mitten im Wohnzimmer stehen.

Richard öffnete die Tür. »Mach’s gut, Junge. Können wir dich erreichen – hat Cass deine Nummer?«

»Ja. Und ich hab eure.«

»Okay. Bis bald.«

»Auf jeden Fall. Bis dann.«

»Bis dann.«

Die Tür schloss sich hinter ihm. Er stand wieder im anonymen, atmenden Korridor, umgeben von verschlossenen Türen. Er fand sein Taschentuch, wischte sich die Stirn und dachte dabei an die unzähligen Auseinandersetzungen, die sich hinter verschlossenen Türen abspielten. Er drückte auf den Knopf, und der Fahrstuhl kam, bedient von einem anderen, älteren Mann, der gerade ein Sandwich aß; Eric wurde wieder auf die Straße gesetzt. Der lange Häuserblock, in dem Cass und Richard wohnten, war jetzt ruhig und leer und wartete auf die Nacht. Eric nahm ein Taxi nach Downtown.

Sein Ziel war eine Bar am östlichen Ende des Village, bis vor Kurzem bloß eine gewöhnliche Kneipe, die sich jetzt aber auf Jazz spezialisierte und gelegentlich jüngeren, wenn auch nicht gänzlich unerprobten oder unbekannten Talenten oder Persönlichkeiten eine Bühne bot. Die derzeitige Attraktion war in dem kleinen Fenster auf einem handgedruckten Kartonplakat angezeigt. Eric erkannte den Namen eines Schlagzeugers, den Rufus und er vor Jahren gekannt hatten und der sich nicht an ihn erinnern würde; in dem Fenster hingen außerdem Ausschnitte aus Zeitungen und Zeitschriften, in denen die unorthodoxen Tugenden dieses Lokals gepriesen wurden.

Das Unorthodoxe füllte denn auch den kleinen Raum mit der niedrigen Decke, mit dem Tresen an einem, Tischen und Stühlen am anderen Ende. Hinten öffnete sich der Raum und bot Platz für weitere Tische und Stühle, ein schmaler Gang führte von dort zu den Toiletten und in die Küche; in diesem Raum stand schräg gegenüber vom Eingang eine kleine, schaurig hohe Bühne.

Eric traf in einer Pause ein. Die Musiker sprangen gerade von der Bühne, wischten sich die Stirn mit großen Taschentüchern und strebten auf die Eingangstür zu, die rund zehn Minuten offen bleiben würde. Die Hitze im Raum war beängstigend, und der Ventilator in der Mitte der Zimmerdecke hätte dem nichts entgegensetzen können. Außerdem stank es: nach Jahren von Staub, nach schalem, nach erbrochenem Alkohol, nach Küche, nach Urin, nach Schweiß, nach Lust. Zu dritt und zu viert standen Leute am Tresen, klebrig und glänzend, weitaus zufriedener als die Musiker, die nach draußen geflohen waren. Die meisten Leute waren reglos an ihren Tischen geblieben, und sie wirkten recht jung; die Männer in Polohemd und Seersucker-Anzug, die Frauen in schlabbrigen Blusen und weiten Röcken.

Vor der Tür standen die Musiker rum, befächerten sich noch immer mit ihren Taschentüchern und ignorierten mit ausdrucksloser Wachsamkeit die gelegentlichen Bettler und den Polizisten, der mit gespitzten Lippen und den vor namenlosem Argwohn und Angst verschleierten Blick auf und ab schritt.

Eric wünschte, er wäre nicht hergekommen. Er hatte Angst, Vivaldo zu begegnen, er hatte Angst, Ida zu begegnen; und so verloren inmitten dieser schweißgebadeten Meute fühlte er sich bald unerträglich seltsam und sichtbar, unerträglich fremd. Das war kein neues Gefühl, aber er hatte es lange nicht mehr empfunden: Er fühlte sich gezeichnet, als würde gleich jemand auf ihn aufmerksam werden und die ganze Meute sich dann gegen ihn wenden, ihn auslachen und beschimpfen. Er überlegte, ob er gehen sollte, stattdessen schob er sich zum Tresen vor und bestellte was zu trinken. Er hatte keine Ahnung, wie er Ida oder Vivaldo ausfindig machen sollte. Er würde wohl warten müssen, bis sie anfing zu singen. Allerdings würden sie wahrscheinlich auch nach ihm Ausschau halten, nach seinem roten Haar.

Er nippte an seinem Drink, ungemütlich dicht neben einem stämmigen Collegestudenten, unangenehm bedrängt vom Kellner, der neben ihm sein Tablett bestückte. Und tatsächlich erregte er langsam verstohlene Aufmerksamkeit; er sah nicht wirklich aus wie ein Amerikaner: Sie fragten sich, wo sie ihn einordnen sollten.

Er sah sie, bevor sie ihn sahen. Aus irgendeinem Grund hatte er sich umgedreht und durch die Tür nach draußen geblickt; Ida und Vivaldo kamen, locker Hand und Hand, herbeigeschlendert und sprachen die Musiker an. Ida trug ein enges, tief ausgeschnittenes weißes Kleid und um die Schultern einen leuchtenden Schal. Am kleinen Finger der einen Hand trug sie einen rubinäugigen Schlangenring, am anderen Handgelenk einen schweren, roh wirkenden Silberreif. Ihr Haar war aus der Stirn gekämmt und glänzend aufgetürmt wie eine Krone. Sie war viel schöner als Rufus, und abgesehen von einer wunderschön traurigen, flackernden Spannung um den Mund hätte sie ihn nicht an Rufus erinnert. Doch dieses Detail, das er so gut kannte, war ihm sofort aufgefallen und dazu noch ein weiteres, zunächst schwerer zu verorten. Sie lachte über etwas, das einer der Musiker sagte, und warf den Kopf zurück: Ihre silbernen Ohrringe fingen das Licht ein. Eric pochte das Herz in der Brust und zwischen den Schulterblättern, als er das glänzende Metall und die lachende Frau betrachtete. Er fühlte sich auf einmal in einem Traum gefangen, aus dem er nicht erwachen konnte. Die Ohrringe waren schwer und urtümlich und erinnerten an gefiederte Pfeile. Rufus hat sie nie wirklich gemocht. In jener Zeit, Ewigkeiten her, als sie Manschettenknöpfe waren, ein Geschenk von Eric, ein Bekenntnis seiner Liebe, hatte Rufus sie kaum getragen. Aber er hatte sie behalten. Und hier waren sie, verwandelt am Körper seiner Schwester. Der stämmige Collegestudent schien Eric, ohne ihn anzusehen, mit dem Knie anzustupsen. Eric ließ sich ein Stück vom Tresen zur Tür treiben, damit sie ihn sahen, wenn sie in seine Richtung blickten.

Er stand drinnen mit seinem Drink; sie standen draußen in der Dämmerung. Eric betrachtete Vivaldo und nutzte den Moment zur Erinnerung. Vivaldo sah strahlender aus als je zuvor und weniger jungenhaft. Er war noch immer sehr schlank, sehr hager, schien aber trotzdem irgendwie zugenommen zu haben. In Erics Erinnerung setzte Vivaldo immer einen Fuß leicht auf, wie ein misstrauisches Fohlen, allzeit bereit, auszubrechen und wegzurennen, doch jetzt stand er, wo er stand, auf festem Boden, und das Schreckhafte, Schnuppernde, Eigenbrötlerische war verschwunden. Vielleicht nicht ganz: Seine schwarzen Augen schossen von einem Gesicht zum anderen, wenn er sprach, wenn er zuhörte, prüfend, abwägend, beobachtend, Augen, die mehr verbargen, als sie preisgaben. Die Unterhaltung wurde ernster. Einer der Musiker hatte das Thema Geld angeschnitten, Gewerkschaften und, mit einer Geste in Erics Richtung, Arbeitsbedingungen. Vivaldos Blick verdüsterte sich, seine Miene verschloss sich, und kurz sah er zu Ida hinunter. Mit bitterem Stolz sah sie den Musiker an. »Also, vielleicht denkst du noch mal drüber nach, Mädchen«, schloss der. »Hab ich schon«, sagte sie und griff mit gesenktem Kopf nach einem Ohrring. Vivaldo nahm ihre Hand, und sie sah ihn an; er küsste sie auf die Nasenspitze. »Na gut«, sagte ein anderer Musiker matt, »wir sollten wohl mal wieder.« Er drehte sich um, ging in die Bar und sagte im Vorbeigehen »Darf ich mal« zu Eric. Ida flüsterte Vivaldo etwas ins Ohr; er lauschte mit gerunzelter Stirn. Sein Haar fiel ihm in die Stirn, dann warf er mit einem ärgerlichen Ruck den Kopf zurück und entdeckte Eric.

Einen Moment lang starrten sie einander an. Ein weiterer Musiker ging zwischen ihnen hindurch. Dann sagte Vivaldo: »Da bist du also. Ich hab ja nicht geglaubt, dass du es schaffst; dass du zurückkommst.«

»Aber hier bin ich«, sagte Eric grinsend, »was sagst du nun?«

Und plötzlich riss Vivaldo die Arme hoch und lachte – und der Polizist, der direkt hinter ihm vorbeiging, schien mit finsterem Blick auf ein geheimes Angriffssignal zu warten –, schloss die Lücke zwischen ihnen und schlang beide Arme um Eric. Der ließ, aus dem Gleichgewicht gebracht, beinahe sein Glas fallen und grinste in Vivaldos grinsendes Gesicht, während hinter Vivaldo Ida mit unergründlicher Miene zusah und der Polizist wartete.

»Du verfluchter rothaariger Rebell«, rief Vivaldo, »du hast dich überhaupt nicht verändert! Mein Gott, freu ich mich, dich zu sehen, ich hatte keine Ahnung, dass ich mich so freuen würde.« Er ließ Eric los und trat einen Schritt zurück, offenbar ohne zu merken, welchen Aufruhr er verursachte. Er zog Eric aus der Bar auf die Straße zu Ida. »Hier ist der Scheißkerl, von dem wir schon so lange reden, Ida; hier ist Eric. Der letzte Mensch, der es rausgeschafft hat aus Alabama.«

Der Polizist schien dunkle, ja mörderische Schlüsse zu ziehen und spähte, des Wartens auf geheime Zeichen müde, gebieterisch in die Bar. Das Signal, das er dort empfing, bewog ihn zum langsamen Rückzug. Vivaldo strahlte indessen Eric an, als wäre Eric sein ganzer Stolz und seine ganze Freude, und klärte Ida erneut auf, ohne den Blick von Eric zu wenden: »Ida, das ist Eric. Eric, darf ich dir Ida vorstellen?« Und er nahm beider Hände und fügte sie zusammen.

Ida ergriff lachend Erics Hand und sah ihm in die Augen. »Eric«, sagte sie, »ich glaube, ich habe über dich mehr gehört als über irgendein anderes menschliches Wesen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, dich kennenzulernen. Ich dachte schon, du bist ein Mythos.«

Die Berührung schockierte ihn ebenso wie ihre Augen und ihre Wärme und ihre Schönheit. »Ich freu mich auch sehr, dich kennenzulernen«, sagte er. »Du kannst über mich nicht mehr gehört haben – und vor allem nichts Besseres – als ich über dich.«

Sie ließen ihre Blicke einen Moment aufeinander ruhen. Ida lächelte noch immer; sie trug ihre Schönheit, wie eine große Königin ihre Gewänder trägt, und schuf auch die entsprechende Distanz zwischen ihnen. Dann kam einer der Musiker an die Tür und sagte: »Ida, Honey, der Boss sagt, du sollst dich bewegen.« Und verschwand.

»Kommt mit«, sagte Ida, »sie haben ganz hinten irgendwo einen Tisch für uns.« Sie nahm Erics Arm. »Sie tun mir einen Gefallen damit, dass ich mitmachen darf. Ich hab noch nie vor Publikum gesungen, da kann ich ihre Geduld nicht strapazieren.«

»Du siehst«, sagte Vivaldo hinter ihnen, »du bist gerade rechtzeitig für das große Ereignis vom Schiff gestiegen.«

»Den Kommentar hättest du ihm überlassen sollen«, sagte Ida.

»Ich wollte es gerade sagen«, sagte Eric, »glaubt mir.« Sie quetschten sich durch die Menge zum etwas geräumigeren hinteren Bereich. Hier blieb Ida stehen und blickte sich um.

»Was ist mit Richard und Cass?«, fragte sie Eric.

»Sie lassen sich entschuldigen. Sie können nicht kommen, eins der Kinder ist krank.«

Ihn durchzuckte, als er das sagte, ein vages Gefühl von Verrat – Ida gegenüber: als würde er sie im Geiste mit den schwarzen Kindern zusammenbringen, die Paul und Michael im Park angegriffen hatten.

»Ausgerechnet heute«, seufzte sie, schien aber von Cass’ und Richards Abwesenheit nicht sonderlich berührt. Erneut blickte sie in die Menge und seufzte noch einmal, ein Seufzer verborgener Resignation. Die Musiker waren bereit, und Versuche wurden unternommen, die Meute zur Ruhe zu bewegen. Ein Kellner führte sie zu einem kleinen Tisch in der Ecke neben der Damentoilette und nahm ihre Bestellung auf. Jetzt, da sie in diesem Raum gefangen waren, stieg die heimtückische Hitze vom Boden auf und kam langsam von der Decke herab.

Eric hörte nicht zu, er konnte nicht; die Musik blieb außen vor wie eine leichte Luftverwirbelung. Er sah Ida und Vivaldo ihm gegenüber im Profil, der Musik zugewandt. Ida lauschte mit heiterer, eingeweihter Ironie, als peitschten die Männer auf der Bühne eine Botschaft raus, deren Übermittlung sie ihnen aufgetragen hatte; Vivaldo hingegen blickte mit leicht gesenktem Kopf und schnippischem, unsicherem Trotz auf die Bühne, als herrschte zwischen den Musikern und ihm ein Krieg um Rang, Hautfarbe und Herrschaft. Ida und er saßen sehr still, sehr gerade, und berührten sich nicht – als wäre vor diesem Altar jede Berührung verboten.

Die Musiker rackerten sich ab wie die Pferde, spielten laut und schlecht, mit unbekümmerter Herablassung, und fanden in ihrer ersten Nummer kein einziges Mal zueinander. Das trübte natürlich nicht den Applaus, der laut war, begeistert und lang anhaltend. Nur Vivaldo blieb stumm. Der Schlagzeuger, der hin und wieder den Blick zu Ida und Vivaldo hatte wandern lassen – bevor er sich wieder übers Schlagzeug beugte –, quittierte Vivaldos Schweigen mit einem höhnischen breiten Grinsen und machte Ida ein Zeichen.

»Jetzt bist du dran«, sagte er. »Mal sehen, ob du es schaffst, diese Teufel zu zivilisieren.« Sein Blick huschte zu Eric und Vivaldo. »Wahrscheinlich hast du da inzwischen reichlich Übung.«

Ida sah ihm mit einem unlesbaren Lächeln in die Augen, das gleichwohl einen Hauch von Rache bereithielt. Sie drückte ihre Zigarette aus, zupfte ihren Schal zurecht und erhob sich züchtig. »Schön, dass du mir das zutraust«, sagte sie. »Drück mir die Daumen, Schatz«, sagte sie zu Vivaldo und trat auf die Bühne.

Sie wurde nicht angekündigt, es gab lediglich eine kurze Absprache mit dem Pianisten, dann trat Ida ans Mikro. Der Pianist schlug die ersten Takte an, aber die Menge nahm keine Notiz davon.

»Noch mal von vorn«, sagte Ida mit lauter, klarer Stimme.

Da drehten sich die Köpfe; Ida blickte ruhig auf sie hinab. Nur die Hände verrieten ihre Aufregung, fest und rastlos vor dem Körper verschränkt – die Hände ringend ohne eine Träne.

Jemand flüsterte laut: »Hey, Mann, das ist die kleine Schwester.«

Schweiß stand ihr auf Stirn und Nase, und ein Bein trat zitternd vor und zurück. Der Pianist setzte erneut an, sie packte das Mikro wie eine Ertrinkende und schloss abrupt die Augen:

»You

Made me leave my happy home.

You took my love and now you’ve gone,

Since I fell for you.«

Noch war sie keine Sängerin. Und würde man sie allein nach ihrer Stimme beurteilen, tief, rau, von geringem Umfang, würde sie nie eine werden. Doch sie hatte etwas, das Erics Blick anzog und den Raum zum Schweigen brachte; Vivaldo starrte Ida an, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen. Was ihr an Volumen fehlte und noch an Fertigkeit, machte sie durch etwas wett, das so rätselhaft und gnadenlos egozentrisch war, dass noch niemand es hatte benennen können. Dieses Etwas rührte von einem tiefen und mächtigen Selbstgefühl, das Hindernisse nicht so sehr überwand wie pulverisierte und zugleich weiter dort aufragen ließ, wo sie immer standen; und dieses furchtbare Gefühl war persönlich, unergründlich, unaussprechlich und buchstäblich mit etwas anderem verbunden – es verwandelte und zerstörte, schenkte Leben und tötete.

Ihr erstes Stück war zu Ende, und verblüfft und vereinzelt kam der Applaus. Mit einem kindlichen kleinen Schulterzucken sah Ida Vivaldo an. Diese kleine Geste ließ Eric ahnen, wie verzweifelt man sie lieben konnte, wie verzweifelt Vivaldo sie liebte. Der Schlagzeuger stimmte ein Stück nach Art von Down On The Levee an, einen Song, den Eric noch nie gehört hatte:

»Betty told Dupree

She wanted a diamond ring.

And Dupree said, Betty,

I’ll get you most any old thing.«

»Mein Gott«, murmelte Vivaldo, »hat sie gearbeitet.«

Der Ton deutete an, dass dies auf ihn nicht zutraf, und barg einen unbewussten Groll. Und stellte auch Eric vor diese Frage. Auch er hatte nicht gearbeitet – schon lange nicht mehr; er hatte nur dafür gesorgt, den Anschluss nicht zu verpassen. Das liege an Yves, hatte er sich immer wieder gesagt, aber stimmte das? Er blickte in Vivaldos weißes, leidenschaftliches Gesicht: Sagte er sich nun, dass er wegen Ida nicht gearbeitet hatte? Sie wiederum hatte sich von ihm nicht ablenken lassen. Da stand sie, auf der Bühne, und sie machte, wenn nicht alle Anzeichen trogen, wie steinig oder lang auch immer er werden würde, ihren Weg. Der Anfang war gemacht.

»Give Mama my clothes,

Give Betty my diamond ring.

Tomorrow’s Friday,

The day I got to swing.«

Die Musiker und sie fanden langsam Gefallen aneinander und trieben sich gegenseitig an bei dieser Ballade über Begierde, Verrat und Tod; und Ida hatte eine neue Atmosphäre im Raum geschaffen, eine neue Aufregung. Selbst die Hitze erschien nicht mehr so unerträglich. Die Musiker spielten für sie wie für eine alte, heimgekehrte Freundin, und ihr Stolz auf sie gab ihnen ihren Stolz auf sich selbst zurück.

Das Stück war zu Ende, und Ida stieg von der Bühne, schweißnass und triumphierend, während der Applaus ihr wie Gischt um die Ohren brandete. Sie kam zum Tisch, sah Vivaldo mit einem Lächeln und einem kleinen, fragenden Stirnrunzeln an und nahm im Stehen einen Schluck aus ihrem Glas. Dann wurde sie zurückgerufen. Der Schlagzeuger beugte sich hinunter und hob sie auf die Bühne, und der Applaus hielt an. Eric merkte, wie Vivaldos Aufmerksamkeit kippte. Er betrachtete Vivaldos Gesicht, aufgewühlter denn je, und folgte seinem Blick. Ein vierschrötiger kleiner Mann mit Locken und jungenhaftem Gesicht stand am Ende des Tresens und sah zu Ida hinauf. Er winkte grinsend, und Ida nickte; Vivaldo sah wieder auf die Bühne: mit schmalen Augen und spitzem Mund und allem Anschein nach in grimmige Grübelei verstrickt.

»Deine Freundin hat was«, sagte Eric.

»Liegt in der Familie«, warf Vivaldo ihm hinüber. Sein Ton war nicht freundlich, es war, als vermutete er eine Stichelei und spielte auf Rufus an, um Eric zu demütigen. Gleich darauf lenkte er allerdings ein: »Sie wird ein Hit«, sagte er, »und mein Gott, ich werde mir einen Baseballschläger kaufen müssen, um all die hungrigen Typen abzuwehren.« Grinsend blickte er auf den kleinen Mann am Tresen.

Ida trat ans Mikrofon. »Dieses Lied ist für meinen Bruder.« Sie zögerte, sah Vivaldo an. »Er ist kurz vor Thanksgiving gestorben, letztes Jahr.« Gemurmel erhob sich, jemand triumphierte: »Was hab ich dir gesagt?« Vereinzelt gab es Applaus, vermutlich für den toten Rufus, der Schlagzeuger senkte den Kopf und legte ein seltsam respektloses Riff am Rand seiner Trommel hin: kluck-e-kluck, kluck-kluck, kluck-kluck!

Ida sang:

»Precious Lord, take my hand,

Lead me on, let me stand.«

Ihre Augen waren geschlossen, der dunkle Kopf auf dem langen dunklen Hals zurückgeworfen. Etwas lag nun in ihrem Gesicht, das zuvor nicht da gewesen war, ein leidenschaftlicher, triumphaler Zorn und Schmerz. Jetzt war ihr schöner, sinnlicher, geschmeidiger Körper ganz still, wie bereit zu einer tieferen Verschmelzung, als das Fleisch ertragen kann; und eine seltsame Kälte kroch in den Raum und mit ihr ein seltsamer Unmut. Ida wusste nicht, wie gut sie werden musste auf der Bühne, um ihr Publikum so ihren privaten Ängsten und Qualen auszusetzen. Schließlich hatte ihr Bruder ihnen nichts bedeutet oder nicht das, was er ihr bedeutet hatte. Sie wollten ihre Trauer nicht miterleben, zumal sie dunkel ahnten, dass sie mit einer Anklage verbunden war – einer Anklage, die ihre Unbehaglichkeit rechtfertigte. Insofern ließen sie das Lied über sich ergehen, aber sie hielten es sich vom Leib. Doch gerade die Anmaßung und Unschuld von Idas Darbringung nötigte ihnen auch Bewunderung ab.

»Hear my cry, hear my call,

Take my hand, lest I fall,

Precious Lord!«

Der Applaus war eigenartig – nicht wirklich widerwillig, nicht wirklich frei; vorsichtig eher, in Anerkennung einer Kraft, der nicht ganz zu trauen, mit der aber zu rechnen war. Die Musiker waren entzückt und fürsorglich, als wäre Ida auf einmal in ihren Besitz übergegangen. Der Schlagzeuger zog ihr den Schal über die Schultern: »Du hast geschwitzt, hol dir ja keine Erkältung.« Und als sie die Bühne verlassen wollte, stand der Pianist auf und küsste sie feierlich auf die Stirn. Der Bassist sagte: »Teufel noch mal, sagen wir den Leuten ihren Namen!« Er schnappte sich das Mikro. »Ladys und Gentlemen, sie hörten Miss Ida Scott. Das hier war ihr erster – Einsatz«; und er wischte sich selbstironisch die Stirn. Die Menge lachte. »Aber nicht ihr letzter«, sagte er. Der Applaus setzte wieder ein, diesmal unbeschwerter, da die Rolle des Richters und Spenders wieder dem Publikum zugefallen war. »Wir waren Zeugen«, sagte der Bassist, »eines historischen Augenblicks.« In einem Anfall von Selbstbeweihräucherung klatschte, stampfte und jubelte das Publikum.

»Tja« – Vivaldo nahm ihre Hände –, »sieht ganz so aus, als wärst du auf dem richtigen Weg.«

»Warst du stolz auf mich?« Sie machte die Augen weit auf; der Schwung ihrer Lippen vermittelte leichten Spott.

»Ja«, sagte er nach kurzer Überlegung ernst, »aber ich bin immer stolz auf dich.«

Da lachte sie und gab ihm ein Küsschen auf die Wange. »Liebster Vivaldo. Das war noch gar nichts.«

»Ich würde gern in den allgemeinen Chor der Freude und Dankbarkeit einstimmen«, sagte Eric. »Du warst großartig, wirklich.«

Sie sah ihn an. Ihre Augen waren noch immer sehr groß, und etwas in ihrem Blick gab ihm das Gefühl, dass sie ihn nicht mochte. Er verscheuchte den Gedanken wie eine lästige Fliege. »Noch bin ich nicht großartig«, sagte sie, »aber bald.« Sie griff nach ihren Ohrringen.

»Die sind wunderschön«, sagte Eric, »deine Ohrringe.«

»Gefallen sie dir? Mein Bruder hat sie für mich machen lassen – kurz vor seinem Tod.«

Er überlegte. »Ich habe deinen Bruder ein wenig gekannt. Ich war sehr getroffen von der Nachricht – von seinem Tod.«

»Vielen, vielen ist das so gegangen«, sagte Ida. »Er war ein ganz wunderbarer Mensch, ein ganz großer Künstler.« Sie musterte ihn mit komischer, kühler Vermessenheit. »Aber mit ganz miesen Kontakten. Er gehörte zu denen, die glauben, was Leute sagen. Wenn du Rufus gesagt hast, dass du ihn liebst, na ja, dann hat er das geglaubt und hat dir bis zum Tod die Treue gehalten. Ich hab ihm immer gesagt, die Welt ist nicht so.« Sie lächelte. »Er war viel netter als ich. Es zahlt sich nicht aus in dieser Welt, nett zu sein.«

»Da mag was dran sein. Aber du wirkst nett – du wirkst sehr nett – auf mich.«

»Ja, weil du mich nicht kennst. Frag Vivaldo!« Sie drehte sich zu Vivaldo um und legte ihren Arm auf seinen.

»Sie braucht hin und wieder eine Tracht Prügel«, sagte Vivaldo, »aber ansonsten ist sie toll.« Er streckte dem kleinen Mann, der hinter Ida stand, die Hand hin. »Hallo, Mr Ellis. Was führt Sie den weiten Weg nach Downtown?«

Ellis zog übertrieben die Augenbrauen hoch und hob die Hände. »Was meinen Sie, was mich herführt? Ich hatte das unbändige Bedürfnis, Sammy’s Bowery Follies zu sehen.«

Ida drehte sich mit einem Lächeln um, noch immer auf Vivaldo gestützt. »Mein Gott. Ich hab Sie da hinten am Tresen gesehen, aber ich konnte kaum glauben, dass Sie es sind.«

»Höchstpersönlich, und wissen Sie« – er betrachtete sie mit größter Bewunderung –, »Sie sind eine außergewöhnliche junge Frau. Das fand ich von Anfang an, wohlgemerkt, aber jetzt habe ich mich davon überzeugt. Ich glaube, nicht mal Sie ahnen, was für eine Karriere zum Greifen nah vor Ihnen liegt.«

»Ich hab noch einen entsetzlich langen Weg vor mir, Mr Ellis, ich muss noch so entsetzlich viel lernen.«

»Sollten Sie dieses Gefühl jemals verlieren, werde ich Ihnen persönlich den Hintern versohlen.« Er sah zu Vivaldo hinauf. »Sie haben mich nicht angerufen, das nehme ich Ihnen sehr übel.«

Vivaldo verkniff sich die pampige Antwort, die ihm auf der Zunge lag. Zahm antwortete er: »Ich sehe für mich im Fernsehen einfach keine große Zukunft.«

»Ach, welch Fantasielosigkeit!« Er rüttelte Ida spielerisch an der Schulter. »Können Sie Ihrem Kerl hier nicht mal den Kopf waschen? Warum stellt er so hartnäckig sein Licht unter den Scheffel?«

»Ehrlich gesagt war das letzte Mal, dass irgendjemand für Vivaldo eine Entscheidung getroffen hat, beim Windelnwechseln. Und das ist ziemlich lange her. Und überhaupt« – Ida rieb die Wange an seiner Schulter – »würde ich nicht im Traum daran denken, ihn zu ändern. Ich mag ihn so, wie er ist.«

Etwas Hässliches lag in der Luft. Ida klammerte sich zwar an Vivaldo, aber Eric hatte das Gefühl, dass ein Teil ihrer Rede für Ellis bestimmt war. Und auch Vivaldo schien das zu spüren. Er löste sich etwas von Ida, nahm ihre Handtasche vom Tisch – um seine Hände zu beschäftigen? – und sagte: »Ich möchte Ihnen unseren Freund vorstellen, frisch aus Paris eingetroffen. Das ist Eric Jones. Steve Ellis.«

Sie gaben sich die Hand. »Ihr Name kommt mir bekannt vor«, sagte Ellis. »Woher?«

»Er ist Schauspieler«, sagte Ida, »er spielt im Herbst am Broadway.«

Vivaldo bezahlte derweil die Rechnung. Eric holte seinen Geldbeutel raus, aber Vivaldo winkte ab.

»Ich habe tatsächlich von Ihnen gehört. Ich habe sogar schon viel von Ihnen gehört.« Er musterte Eric wohlgefällig von Kopf bis Fuß. »Bronson hat Sie für Ewige Jagdgründe engagiert, stimmt’s?«

»Ja, genau.« Eric war unschlüssig, ob Ellis ihm sympathisch war oder nicht.

»Das ist ja ein ziemlich interessantes Stück«, tastete sich Ellis vor, »und nach allem, was ich über Sie gehört habe, ein gutes Sprungbrett für Sie.« Er wandte sich wieder an Ida und Vivaldo. »Könnte ich Sie alle zu einem kleinen Drink in einer verschwiegenen, klimatisierten Bar überreden? Ich finde«, sagte er zu Ida, »Sie sollten es sich nicht zur Gewohnheit machen, in solchen Bruthöllen zu arbeiten. Da sterben Sie am Ende an Tuberkulose wie die spanischen Stierkämpfer, die es immer entweder zu heiß oder zu kalt haben.«

»Ach, für einen kleinen Drink haben wir doch wohl Zeit.« Ida sah Vivaldo fragend an. »Was meinst du, Sweetie?«

»Es ist dein Abend«, sagte Vivaldo. Sie gingen zur Tür.

»Ich würde vielleicht einen winzigen Schuss Geschäftliches in den Drink mixen«, sagte Ellis.

»Das hab ich mir gedacht«, sagte Vivaldo. »Was für ein Streber Sie doch sind, immer auf der Pirsch.«

»Das Geheimnis meines nicht unerheblichen Erfolgs«, sagte Ellis und wandte sich dann an Ida: »Hatten Sie nicht gestern gesagt, Dick Silenski und seine Frau würden auch kommen?«

Etwas geschah mit ihren Mienen – in seiner zeigten sich eilig kaschierte Panik und Bedauern, in ihrer eilig zerstreuter empörter Alarm. Sie traten auf die breite, heiße Straße. »Eric war bei ihnen«, sagte sie ruhig, »irgendwas war los, dass sie nicht kommen konnten.«

»Die Kinder sind im Park in eine Schlägerei geraten«, sagte Eric. »Irgendwelche schwarzen Jungs haben sie verprügelt.« Er hörte, wie Ida einatmete, und nannte sich selbst ein Arschloch. »Als ich ging, warteten sie gerade auf den Arzt.«

»Davon hast du mir gar nichts erzählt«, rief Vivaldo, »mein Gott! Ich muss sie anrufen!«

»Mir hast du auch was anderes erzählt«, sagte Ida.

»Sie waren nicht schlimm verletzt«, sagte Eric, »bis auf blutige Nasen. Aber sie wollten lieber, dass ein Arzt sie noch mal untersucht, und natürlich wollten sie sie nicht allein lassen.«

»Ich ruf sie an«, sagte Vivaldo, »sobald wir in einer Bar sind.«

»Ja, Sweetie, mach das«, sagte Ida. »Das ist ja furchtbar.«

Wortlos trat Vivaldo auf dem Gehweg nach einer Bierdose. Sie gingen westwärts durch eine dunkle Wüste aus Mietshäusern, schmutzigen Kindern, starrenden Jugendlichen und schwitzenden Erwachsenen. »Wenn du schwarze Jungs sagst«, hakte Ida kurz darauf nach, »soll das heißen, das war der Grund für die Schlägerei?«

»Einen anderen Grund schien es nicht zu geben«, sagte Eric. »Sie hatten die Jungs noch nie gesehen.«

»Wahrscheinlich irgendeine Rache«, sagte Ida, »für etwas, was ihnen andere Jungs angetan haben.«

»Bestimmt«, sagte Eric.

Sie erreichten den dicht belebten Park am unteren Ende der Fifth Avenue. Seit Jahren war Eric nicht mehr in diesem Park gewesen, und je weiter sie hineingingen, desto mehr drückten ihn Schwermut und Widerwille nieder. Gott, hier waren die Bäume und die Bänke und die Menschen und die dunklen Umrisse auf der Wiese, der jetzt menschenleere Spielplatz mit den Schaukeln, den Rutschen und dem Sandkasten; und die Dunkelheit, die diesen Ort umgab, in dem die kinderlosen Elenden sich versammelten, um ihren freudlosen Ritualen nachzugehen. Sein Leben, sein ganzes Leben, stieg heute Abend wie Galle in ihm auf. Das Meer aus Erinnerungen schwappte über ihn, immer wieder, und wann immer es zurückwich, wand sich ein gedemütigter Eric im Sand. Wie schwer es war, verachtet zu werden! Wie unmöglich, sich nicht selbst zu verachten! Hier spielten die friedlichen Männer im Lampenschein Schach. Gesang und Gitarrenklänge drangen aus der Mitte des Parks zu ihnen, und sie bummelten dorthin, wartend, so schien es, und den Abschluss des Abends fürchtend. Im kleinen Brunnen hatte sich eine große Menge versammelt; diese Menge verteilte sich bei näherem Hinsehen auf mehrere kleinere Gruppen um jeweils ein, zwei oder drei Sänger. Die Sänger, Männer und Frauen, trugen Jeans und lange Haare und hatten mehr Begeisterung als Talent. Dennoch hatten ihre ungewaschenen glatten Gesichter, ihre kindlich glänzenden Augen und ihre ungeübten, unverstellten Stimmen etwas Gewinnendes, sehr Bewegendes. Sie sangen, als könnten sie die Unwiderruflichkeit und die Unsterblichkeit der Unschuld herbeisingen. Ihre Zuhörer waren aus anderen Kreisen, ziellos, leer und verkommen standen sie dicht gedrängt im steinernen Brunnen, nur um sich von der Berührung und dem Geruch menschlicher Körper trösten oder entflammen zu lassen. Und die Polizisten umkreisten im Laternenschein alle.

Ida und Vivaldo gingen zusammen, Eric und Ellis gingen zusammen, doch alle waren weit weg voneinander. Eric hatte das dumpfe Gefühl, dass er einen Versuch unternehmen sollte, sich mit dem Mann neben ihm zu unterhalten, aber er hatte nicht das Bedürfnis, sich mit ihm zu unterhalten; er wollte weggehen, und er hatte Angst wegzugehen. Ida und Vivaldo waren auch schweigsam gewesen. Als sie jetzt von einer Gruppe zur nächsten gingen, hörte er, unterbrochen von verklärten westlichen Balladen und zahnlosen Spirituals, ihre Stimmen. Und er wusste, dass auch Ellis zuhörte. Was ihn schließlich doch zwang, ihn anzusprechen.

Er hörte Ida. »… Sweetie, sei nicht so.«

»Nenn mich nicht dauernd Sweetie! So nennst du jeden erbärmlichen Schwanzlutscher, der dir am Arsch rumschnüffelt.«

»Musst du so reden?«

»Jetzt komm mir bloß nicht mit dieser etepetete Scheiße.«

»… wie du redest. Ich werde Weiße nie verstehen, nie, nie, nie! Wie könnt ihr so reden? Wie könnt ihr von irgendjemandem erwarten, dass er euch respektiert, wenn ihr euch selbst nicht respektiert?«

»Zum Kotzen, ach, was lass ich mich auch mit einer Schwarzen ein, die sich für was Besseres hält? Und ich bin nicht die Weißen!«

»… ich warne dich, ich warne dich!«

»… du hast doch angefangen! Du fängst immer an!«

»… ich wusste, dass du eifersüchtig wirst. Darum!«

»Da hast du dir ja eine tolle Methode ausgesucht, mich nicht – eifersüchtig zu machen, Baby.«

»Können wir später drüber reden? Warum musst du immer alles verderben?«

»Ach, klar, klar, ich bin derjenige, der immer alles verdirbt, natürlich!«

Eric sagte zu Ellis: »Meinen Sie, dass irgendeiner dieser Sänger eine Zukunft im Fernsehen hat?«

»Im Nachmittagsprogramm vielleicht«, lachte Ellis.

»Sie sind aber herzlos.«

»Ich bin Realist. Jeder ist sich doch selbst der Nächste und will Geld scheffeln, ob er es nun zugibt oder nicht. Und daran ist auch nichts auszusetzen, ich wünschte nur, die Leute würden es zugeben. Die meisten Leute, die glauben, sie würden mich missbilligen, tun das überhaupt nicht. Sie wären nur gerne wie ich.«

»Ja, wahrscheinlich«, sagte Eric – tödlich gelangweilt.

Langsam ließen sie die Musik hinter sich. »Waren Sie lange im Ausland?«, fragte Ellis aus Höflichkeit.

»Etwa drei Jahre.«

»Und wo?«

»Vor allem Paris.«

»Warum sind Sie hingegangen? Für einen Schauspieler gibt es dort doch nichts zu holen, oder? Ich meine, für einen amerikanischen Schauspieler.«

»Ach, ich hab ein paar Sachen fürs amerikanische Fernsehen gemacht.« Zwei glitzernde, stimmgewaltige Tunten kamen ihnen entgegen. Eric zog den Bauch ein und blickte geradeaus. »Und ich habe mir viel Theater angesehen – ich weiß nicht –, für mich war es sehr gut.« Die Paradiesvögel zogen vorüber, ihr Grölen verebbte.

»Solche Leute tun mir immer so leid«, sagte Ida.

Ellis grinste. »Warum sollten die Ihnen leidtun? Sie haben doch einander.«

Die vier waren jetzt auf einer Höhe, und Ida hakte sich bei Eric ein.

»Ein paar Kellner aus meinem Restaurant sind so. Wie die behandelt werden …! Sie erzählen mir davon, sie erzählen mir alles. Ich mag sie, wirklich, sie sind reizend. Und natürlich sind sie eine fabelhafte Begleitung. Von denen hat man nichts zu befürchten.«

»Sie kosten auch nicht viel«, sagte Vivaldo. »Ich hol dir nächste Woche einen, dann haben wir ein Haustier.«

»Ich schaffe es heute einfach nicht, oder, irgendwas zu sagen, was bei dir gut ankommt?«

»Streng dich halt weniger an. Ellis, wo schleppen Sie uns hin für Ihren zwanglosen Geschäftsdrink?«

»Zügeln Sie Ihre Begeisterung, wir sind fast da.« Sie verließen den Park in Richtung 8th Street und betraten eine Kellerbar. Ellis war dort natürlich bekannt; sie fanden eine Nische und gaben ihre Bestellung auf.

»Also, was das Geschäftliche angeht« – Ellis blickte von Ida zu Vivaldo –, »ist die Sache ganz einfach: Ich habe schon anderen geholfen, und ich glaube, ich kann Miss Scott helfen.« Er sah Ida an. »Sie sind noch nicht so weit. Sie haben noch massenhaft Arbeit vor sich und massenhaft zu lernen. Und ich hätte gern, dass Sie diese Woche mal an einem Nachmittag zu mir ins Büro kommen, damit wir das in allen Einzelheiten besprechen können. Sie müssen lernen und üben und bei alledem lebendig bleiben, und vielleicht kann ich Ihnen dabei helfen.« Dann sah er Vivaldo an. »Und Sie können mitkommen, wenn Sie das Gefühl haben, dass ich Miss Scott ausbeute. Planen Sie, als ihr Agent tätig zu werden?«

»Nein.«

»Sie haben keinen Grund, mir zu misstrauen; Sie mögen mich nur einfach nicht, ist es das?«

»Ja«, sagte Vivaldo nach einem Moment, »das ist es wohl.«

»Ach, Vivaldo«, stöhnte Ida.

»Das ist okay. Immer gut zu wissen, woran man ist. Aber Sie werden doch gewiss nicht zulassen, dass dieses … Ressentiment … Miss Scott in die Quere kommt?«

»Nicht im Traum. Ida macht sowieso, was sie will.«

Ellis musterte ihn. Er warf Ida einen flüchtigen Blick zu. »Na gut. Das beruhigt mich.« Er machte dem Kellner ein Zeichen und wandte sich an Ida. »Welchen Tag sollen wir nehmen? Dienstag, Mittwoch?«

»Mittwoch wäre vielleicht besser«, sagte sie zaghaft.

»Gegen drei?«

»Ja, das passt gut.«

»Also, abgemacht.« Er notierte sich etwas in seinem Kalender, holte seine Brieftasche raus, nahm die Rechnung und gab dem Kellner einen Zehndollarschein. »Bringen Sie den Herrschaften, was sie wollen«, sagte er, »das geht auf mich.«

»Ach, Sie verlassen uns schon?«, fragte Ida.

»Ja. Meine Frau bringt mich um, wenn ich nicht rechtzeitig zu Hause bin, um die Kinder zu sehen, bevor ich mich ins Studio aufmache. Wir sehen uns am Mittwoch.« Er reichte Eric die Hand. »Schön, Sie kennengelernt zu haben, Rotschopf; alles Gute. Vielleicht machen Sie ja mal was für mich.« Er blickte auf Vivaldo hinunter. »Ade, großer Geist. Schade, dass Sie mich nicht mögen. Vielleicht sollten Sie sich bei Gelegenheit mal fragen, wieso. Es bringt nichts, mir die Schuld zu geben, wenn Sie nicht wissen, wie Sie das, was Sie haben wollen, bekommen oder behalten.« Damit drehte er sich um und ging. Vivaldo sah die kurzen Beine die Treppe zur Straße hinaufgehen.

Er wischte sich mit seinem feuchten Taschentuch die Stirn, und die drei saßen einen Moment schweigend da. »Ich ruf jetzt Cass an«, sagte Vivaldo, stand auf und ging nach hinten zum Telefon.

»Ich habe gehört«, sagte Ida vorsichtig, »du warst ein enger Freund meines Bruders.«

»Ja«, sagte er, »das stimmt. Jedenfalls habe ich mich bemüht.«

»Fandst du es so schwer – sein Freund zu sein?«

»Nein. Nein. Das wollte ich damit nicht sagen.« Er versuchte zu lächeln. »Er lebte ganz in seiner Musik, er war sehr – er selbst. Ich war jung damals, vielleicht habe ich das nicht immer – verstanden.« Er schwitzte unter den Achseln, auf der Stirn, zwischen den Beinen.

»Ah.« Sie betrachtete ihn aus weiter Ferne. »Vielleicht wolltest du mehr von ihm, als er dir geben konnte. Viele Menschen wollten das, Männer und Frauen.« Das ließ sie einen Augenblick zwischen ihnen stehen. »Er war wahnsinnig attraktiv, oder?«, sagte sie dann. »Ich glaube ja, deswegen ist er gestorben, weil er so attraktiv war und nicht wusste, wie – wie er sich die Leute vom Hals halten soll.« Sie nahm einen Schluck. »Menschen sind gnadenlos. Im Namen der Liebe reißen sie dich in Stücke, und wenn du tot bist, wenn sie dich umgebracht haben durch die ganze Quälerei, die sie dir aufdrücken, behaupten sie, du hättest keinen Charakter gehabt. Bittere Tränen vergießen sie – aber nicht um dich, um sich selbst, weil sie ihr Spielzeug verloren haben.«

»Das ist eine ziemlich herbe Sicht auf die Liebe.«

»Ich weiß, wovon ich rede. Genau das meinen die meisten Menschen, wenn sie von Liebe reden.« Sie nahm sich eine Zigarette und wartete darauf, dass er ihr Feuer gab. »Danke. Du warst nicht hier, du hast Rufus’ letzte Freundin nicht gekannt – eine schreckliche kleine nymphomanische Hure aus Georgia. Sie wollte ihn einfach nicht loslassen, er hat alles Mögliche versucht, um von ihr wegzukommen. Er hat sogar überlegt, nach Mexiko abzuhauen. Sie hat ihn so fertiggemacht, dass er nicht mehr arbeiten konnte – ehrlich, nichts ist schlimmer als weiße Südstaatler, ganz besonders eine weiße Südstaatlerin, die sich einen Schwarzen krallt.« Sie blies eine große Rauchwolke über seinen Kopf hinweg. »Und sie lebt noch, diese schmierige weiße Schlampe, und Rufus ist tot.«

Er sagte, in der Hoffnung, dass sie ihn wirklich hörte, und im Wissen, dass sie ihn nicht hören würde, vielleicht nicht hören konnte: »Hoffentlich glaubst du nicht, dass ich deinen Bruder auf diese entsetzliche Art geliebt habe, die du hier beschreibst. Ich glaube, wir waren wirklich sehr gute Freunde, und – sein Tod war ein furchtbarer Schock für mich. Ich war in Paris, als ich davon erfuhr.«

»Ach, dich klage ich doch nicht an. Du und ich, wir werden Freunde, meinst du nicht?«

»Das hoffe ich sehr.«

»Na, für mich ist es damit geklärt.« Mit großen Augen fragte sie: »Was hast du die ganze Zeit in Paris gemacht?«

»Ach« – er lächelte –, »versucht, erwachsen zu werden.«

»Hättest du das nicht auch hier machen können? Oder wolltest du nicht?«

»Ich weiß nicht. In Paris hat das mehr Spaß gemacht.«

»Das glaube ich.« Sie drückte ihre Zigarette aus. »Und, bist du erwachsen geworden?«

»Ich bin mir nicht mehr sicher, ob Menschen dazu überhaupt fähig sind.«

Sie grinste. »Da ist was dran, Kumpel.«

Vivaldo kam zurück an den Tisch. Sie blickte auf. »Und? Wie geht es den Kindern?«

»Ihnen geht es gut. Cass klang ein bisschen verstört, aber sie lässt euch beide grüßen und hofft, euch bald mal wieder zu sehen. Bleiben wir noch hier, oder was haben wir vor?«

»Lass uns was essen gehen«, sagte Ida.

Vivaldo und Eric wechselten einen blitzschnellen Blick. »Ihr müsst leider ohne mich auskommen«, sagte Eric schnell. »Ich bin erledigt, mir reicht’s, ich geh nach Hause und leg mich schlafen.«

»Aber es ist noch so früh«, sagte Ida.

»Na ja, ich bin gerade erst vom Schiff runter, und mich ruckelt’s immer noch.« Er stand auf. »Ich heb’s mir auf für nächstes Mal.«

»Na dann.« Sie warf Vivaldo einen ironischen Blick zu. »Tut mir leid, dass der Herr und Meister nicht besserer Laune ist.« Sie schob sich aus der Nische. »Ich muss mal für kleine Mädchen. Wartet oben auf mich.«

»Tut mir leid«, sagte Vivaldo, als sie die Stufen zur Straße hochgingen, »ich hatte mich wirklich drauf gefreut, heute Abend mit dir zusammenzusitzen und richtig zu quatschen, aber wahrscheinlich ist es besser, du lässt uns alleine. Das verstehst du doch, oder?«

»Klar verstehe ich das. Ich ruf dich nächste Woche mal an.« Sie standen auf dem Gehweg und sahen die ziellose Meute an sich vorüberziehen.

»Es muss sich merkwürdig anfühlen«, sagte Vivaldo, »zurück zu sein. Ich hoffe, du denkst nicht, dass wir keine Freunde mehr sind, das sind wir nämlich. Du bist mir sehr wichtig, Eric. Nur, damit du nicht denkst, dass ich dich heute Abend irgendwie abserviere. Aber es ist nun mal, wie es ist.« Er starrte erschöpft in die Ferne. »Manchmal macht mich das Mädchen so verrückt, dass ich nicht weiß, wo oben und unten ist.«

»Da kenne ich mich auch ein bisschen aus«, sagte Eric. »Keine Sorge.« Er streckte die Hand aus; Vivaldo hielt sie einen Moment fest. »Ich ruf dich in ein paar Tagen an, okay? Sag Ida auf Wiedersehen.«

»In Ordnung, Eric. Mach’s gut.«

Eric lächelte. »Mach’s besser.«

Er drehte sich um und ging auf die Sixth Avenue zu, aber eigentlich wusste er gar nicht, wohin er ging. Er spürte Vivaldos Blick im Rücken, bis er vom Gedränge verschluckt wurde.

An der Ecke Sixth Avenue wartete er und sah sich um, während die Ampel ein paarmal umsprang. Ein Laster kam angefahren; Eric blickte ins Gesicht des Fahrers und verspürte das heftige Verlangen, sich zu diesem Mann zu setzen und in diesem Laster mitzufahren, wohin auch immer.

Doch er überquerte die Straße und schlug den Weg nach Hause ein. Das war der sicherste Ort, der einzige Ort. Fremde – jetzt erschienen sie ihm fremd, eines Tages wäre er wieder einer von ihnen – warfen ihm im Vorbeigehen ihre unsäglichen, verzweifelten Blicke zu, doch er behielt die Augen auf dem Pflaster. Noch nicht, nicht du. Noch nicht. Noch nicht.