Auf dem Land

Die Feriensommer waren lang, und deshalb verbrachten wir nach den Tagen am Meer noch zwei Wochen auf einem Bauernhof. Wir verdankten diese Ferien auf dem Land, die uns die Entbehrungen des Krieges eine Weile vergessen ließen, ausgerechnet dem Krieg, denn der Hof gehörte den Eltern eines Kriegskameraden von Vater. Das Gut lag bei Lyck im östlichsten Masuren. Schon der Weg dorthin war ein Abenteuer: erst der Zug nach Lyck, dann die Kleinbahn, zwei Holzsitzwaggons und ein Güterwagen, die fast im Schritttempo über holperige Schienen fuhren. Wir befanden uns im tiefsten Ostpreußen, wo die Uhren ganz anders gingen als im umtriebigen, modernen Königsberg, einer Großstadt mit rund 350 000 Einwohnern. Unterwegs hielt der Zug immer wieder an, um frischgemolkene Milch aufzuladen. Das letzte Stück legten wir mit dem Leiterwagen des alten Bauern zurück.

Ich kam in eine unbekannte Welt, denn ich war noch nie auf dem Land gewesen. Ich spielte mit den Bauernkindern, Burkhard, der Junge aus der Stadt, der keine Ahnung von Heumachen, Pflügen, Eggen, Tierzucht und Milchkühen hatte. Die Kinder dort hatten mir vieles zu zeigen und erklärten mir das Leben auf dem Hof. Wenn wir nach wilden Geländespielen im Gras saßen und uns ausruhten, erzählte ich ihnen vom Leben in Königsberg.

Ich erlebte zum ersten Mal eine richtige Ernte. Mutter und ich fuhren morgens mit aufs Feld, wir sahen zu, wie das Korn gemäht, wie es in Garben gebunden und zu Hocken aufgerichtet wurde, und natürlich durften und sollten wir mithelfen. Mittags gab es Suppe und Brot, die wir zu meinem Erstaunen und zu meiner Freude draußen, im Schatten einer Baumgruppe, aßen. Auf dem Land konnte man sich noch richtig satt essen, es war ein Hochgenuss. In der Stadt waren die Mahlzeiten in letzter Zeit immer eintöniger geworden, nur selten fanden sich noch Speck, Wurst oder Fleisch in der Suppe wie dort auf dem Bauernhof, wo man eigene Tiere hatte und von der Mangelwirtschaft des Krieges weitgehend unbehelligt blieb. Von unserem Rastplatz aus hatte man einen Blick über die weiten Felder, die bis zur russischen Grenze reichten. Von Grenzbefestigungen war nichts mehr zu sehen, Weißrussland war von den Deutschen erobert worden, und man konnte ganz unbehelligt hinüber. Dazu hatte allerdings während der Ernte niemand Zeit. Der Altbauer meinte, er hätte ohne weiteres die Felder in Weißrussland bearbeiten können, aber das sei ihm zu viel gewesen.

Nach dem Essen wurden die Garben auf den Leiterwagen geladen und auf den Hof gefahren. Der hochbeladene, von zwei Pferden gezogene Wagen schwankte beängstigend, während er über die Feldwege ratterte. Wir Kinder liefen zu Fuß nebenher durch die Stoppelfelder und spielten Fangen.

Auf dem Land war das Leben sehr einfach, das fiel uns Stadtmenschen besonders auf. Im Hof gab es eine Schwengelwasserpumpe, in der Küche ebenfalls, darunter ein brauner Keramikspülstein, ein einziges Handtuch zum Händewaschen, Tischabwischen und Geschirrabtrocknen. Dazu kamen mindestens hunderttausend Fliegen. Bis heute habe ich eine tiefe Abneigung gegen dieses Insekt.

Zum Abendbrot saßen wir alle, der Bauer und seine Frau, die polnischen Mägde und Knechte, um den langen Holztisch in der Küche und löffelten die Abendsuppe aus zwei großen Schüsseln. Alle waren guter Dinge, und es gab viel Gelächter. Ich verstand nicht alles, denn man sprach den Polen zuliebe Masurisch, ein Gemisch aus Deutsch und Polnisch. Großvater hatte mir erzählt, dass in seinem Geburtsort Packerau bei Tharau Polen und Deutsche friedlich zusammengelebt hätten und dass beide Sprachen ohne Arg und falschen Nationalstolz verwendet worden seien. Auch er mischte manchmal die Sprachen, zum Beispiel sagte er oft »Na sowasjer«, wenn er sich über etwas wunderte. Die Silbe »jer« war eine Verballhornung des im Polnischen oft gebrauchten und ähnlich wie »sier« ausgesprochenen Reflexivpronomens »sie«.

Die Toilette war in dem berühmten Häuschen mit dem Herzen untergebracht. Sie befand sich am Ende des Hofes. Man saß auf einer Art Bank über einem rund ausgesägten Loch, auf einem gebogenen Draht war Zeitungspapier aufgespießt. Ich gewöhnte mich schnell daran, obwohl wir es in der Stadt viel bequemer hatten.

Auf dem Hof redeten wir kaum über den Krieg, die idyllische Landschaft mit rauschenden Bäumen, rieselnden Bächen, der warmen Sonne, dem Geruch des frischgeernteten Korns ließ uns alles vergessen: die Frontberichte, die Wochenschauen und die Gespräche mit den Nachbarn über das Thema Nummer eins: Was wird geschehen, »wenn der Russe kommt«? Dafür nahmen wir gerne in Kauf, dass man auf manchen Komfort verzichten musste, der in der Stadt selbstverständlich war.

Es gab keine Elektrizität. Der Jungbauer, Vaters Kamerad, hatte ein Radio angeschafft, das mit gläsernen Blei-Akkumulatoren betrieben wurde. Die mussten ständig in Lyck geladen werden, was der Altbauer als lästig empfand, zumal während der Ernte kaum Zeit war. So blieb das Radio, das ich, technikbegeistert, mit gierigen Augen umschlich, leider stumm.

Ich saß zum ersten Mal auf einem Pferd, ich fütterte Hühner und Gänse, beobachtete den Hofhund an der Kette. Wir lernten auch die polnischen Mägde und Landarbeiter kennen, die sich seit jeher bei deutschen Bauern verdingten. Die meisten von ihnen waren nicht als Zwangsarbeiter dort, sondern infolge einer langen Tradition, ähnlich den Erntehelfern beim Spargelstechen oder bei der Gurkenernte im Spreewald fünfzig Jahre später. Das Zusammenleben zwischen Deutschen und Polen machte auch jenseits des Esstisches einen friedlichen Eindruck auf uns. Die Knechte und Mägde waren freundlich zu uns Kindern. Schöner, abwechslungsreicher und harmonischer hätten diese Ferien für uns Kleinen, aber auch für meine Mutter gar nicht sein können.