Festung Königsberg

Immer mehr näherten sich die russischen Truppen der Stadt. Wir hörten Gefechtslärm in der Ferne, denn schon seit Wochen kämpften sich die Russen auf dem Weg nach Berlin durch Ostpreußen. Berlin zu erobern war Stalins wichtigstes Ziel, deshalb war Königsberg noch verschont geblieben und umgangen worden. Da Hitler die Stadt zur Festung erklärt hatte – einen so prächtigen traditionsreichen Ort darf man doch nicht einfach aufgeben, dem Feind überlassen und fliehen! –, war der Kampf um Königsberg zu einer Prestige-Angelegenheit geworden. Anstatt der Bevölkerung zu verstehen zu geben, dass sie wegen des Vormarschs der Russen dort keine Zukunft mehr hatte und gen Westen fliehen musste, um sich zu retten, forderte die NS-Regierung sie auf, sich zu bewaffnen, durchzuhalten und alles zu tun, um die Stadt zu verteidigen. Die Menschen waren folgsam, denn sie standen zu ihrer Stadt und wollten alles tun, um sie zu retten. Sie taten es in erster Linie nicht aus Gehorsam gegenüber der Partei, sondern ihrer Heimatstadt zuliebe. Angesichts der Überzahl russischer Truppen war es aus heutiger Sicht eine absolute Zumutung für die Menschen in Königsberg und die Soldaten, die sich dort konzentrieren mussten und kaum Aussicht hatten, etwas gegen die Russen auszurichten, geschweige denn zu überleben. Solche Gedanken sprach damals niemand aus, es gab nur einzelne Unwillensbekundungen.

In der »Adolf-Hitler-Schule«, in die ich früher zum Unterricht gegangen war, nur zehn Minuten von unserem Haus entfernt am Ende des »Adolf-Hitler-Parks« gelegen, wohnten jetzt Soldaten. Viele andere Schulen Königsbergs wurden ebenfalls zu Kasernen oder kleinen Festungen ausgebaut, die Tore zugemauert, die Fenster in Schießscharten für MGs umgewandelt. Genauso, wie wir die Hitlerjungen bewundert hatten, himmelten wir die Soldaten an, die uns sehr freundlich behandelten. Wir besuchten sie jeden Tag und hielten uns stundenlang bei ihnen auf. Sie waren für uns wie Freunde. Es waren Soldaten sämtlicher Waffengattungen mit entsprechender Ausrüstung, und es dauerte nicht lange, bis wir uns bestens auskannten und genau wussten, woran man diesen oder jenen Rang erkannte, was die Soldaten trugen, welche Waffen sie benutzten und wie sie eingesetzt wurden. Wir stellten ständig Fragen, und die Männer beantworteten sie gern. Viele von ihnen waren selbst Väter und schon seit Jahren von ihren Kindern getrennt. Was gab es Schöneres für sie, als sich mit uns zu beschäftigen? Unsere unbefangene Neugier lenkte sie ab. Sie wussten im Gegensatz zu uns, was Krieg wirklich bedeutete, und sie müssen sich angesichts der aussichtslosen Lage der Stadt sehr gefürchtet haben. Davon ließen sie uns jedoch nichts spüren, waren immer freundlich zu uns und gutgelaunt.

Wie lange war es her, dass wir in der Sommerhitze, barfuß und nur mit Turnhosen bekleidet, durch das Regenwasser im Rinnstein gelaufen waren, dass wir am Strand nach Donnerkeilen – versteinerten Resten einer uralten, ausgestorbenen Tintenfischart – gesucht und Fangen gespielt hatten? Dass ich in Begleitung einer fröhlichen, sorgenfreien Mutter am Meer und auf dem Bauernhof gewesen war? Es waren nur wenige Wochen, und nun befanden wir uns in einer ganz anderen Welt, einer Welt der Bedrohung und bevorstehender Kämpfe.

Allmählich wurden wir Kinder zu Spezialisten in Sachen Krieg. Nicht nur, dass wir alle eigenen und feindlichen Flugzeuge in Modellbögen nachgebaut hatten, wir kannten inzwischen jedes ihrer Geräusche und selbstredend die Sirenen, die am helllichten Tag die britischen Flugzeuge ankündigten, die uns überflogen und beim Rückflug ihre überzähligen Bomben abwarfen.

Auch nachts erfolgten nun immer öfter Luftangriffe. Man wurde vom Heulen der Sirenen geweckt und musste schnell hinunter in den Luftschutzkeller. Wir hatten einen Koffer und eine Tasche, die jeden Abend fertiggepackt an der Wohnungstür standen. Bei Fliegeralarm nahm meine Mutter den Koffer, ich die Tasche, und wir rannten die zwei Stockwerke hinunter. Im Keller standen Pritschen mit Wolldecken, aber an Weiterschlafen war nicht zu denken. Uns ging es nicht anders als den vielen Nachbarn, mit denen wir den Luftschutzkeller teilten. Schon von fern hörte man das langsam immer lauter werdende, beängstigende Dröhnen der anfliegenden Bomber. Es klang wie ein riesiger Hornissenschwarm, der sich auf uns herabstürzen wollte. Alle saßen mit eingezogenen Köpfen da, manche jammerten leise vor sich hin und wurden von den anderen zur Ordnung gerufen. Allmählich wurde das Geräusch wieder leiser und verschwand. Die große Anspannung machte sich durch laute Gespräche Luft. Wir waren erleichtert, dass uns nichts geschehen war.

Im Bunker stand eine dicke Daimon-Batterie mit einer Klemme für eine Taschenlampenbirne auf dem Tisch. Wenn der Strom ausfiel, sollte dieses Gebilde den Luftschutzraum in einen beruhigenden Lichtschimmer tauchen. Ich interessierte mich für alles Technische, und Elektrizität war das Allerinteressanteste. Diese Batterie faszinierte mich. Deshalb fragte ich den Hausmeister und Luftschutzwart, ob er nicht vielleicht eine neue Batterie aus dem Reservepacken nehmen und mir die schon benutzte schenken könne. Leider sagte er nein.

Noch immer gingen lebensbedrohliche Situationen und die normalen Kinderspiele ineinander über, ohne dass mir das auffiel. So freute ich mich zum Beispiel sehr, als ich von Onkel Emil ein Schaukelpferd geschenkt bekam und einen blauen Tretroller Marke Hudora, der noch in Friedenszeiten hergestellt worden war und ein zweites Trittbrett hatte, das über eine Zahnstange das Hinterrad antrieb und über eine Fußbremse verfügte. Damit war ich der König in unserer Straße, die anderen Kinder fuhren alle nur auf Holzrollern. Wenn wir auf der Straße spielten, vergaßen wir den Krieg völlig, jedenfalls vorübergehend.

Die Fliegeralarme häuften sich nämlich. Inzwischen ließen wir und die anderen Hausbewohner das Gepäck gleich im Keller. Unser Neubaublock, der von vier Straßen eingefasst war, im Innenhof Grünflächen und einen großen Sandkasten besaß und auch das zentrale Heizwerk beherbergte, wandelte sich immer mehr zu einem künftigen Kriegsschauplatz. Uns Kindern boten sich dauernd neue Spielmöglichkeiten. Allein die ausgebauten Luftschutzkeller mit der betonverstärkten Decke und der gasdichten Tür faszinierten uns sehr. An der gesamten Straßenfront waren anderthalb Meter hohe Wälle als Splitterschutz aufgeschüttet worden. Darauf lagen Rollrasenstücke, und nur an den Hauseingängen war der Wall unterbrochen. Dies war ein ideales Gelände für Versteck- und Verfolgungsspiele.

Später wurden im Keller die Brandmauern zwischen den Häusern aufgebrochen, es entstanden mannsbreite Löcher, die mit Decken zugehängt wurden – als Fluchtweg von einem Haus ins nächste. Wir verbrachten viele Stunden dort unten, tasteten uns mit klopfendem Herzen von einem dunklen Gang in den nächsten, bereit, uns zu verstecken oder wegzurennen, wenn wir Geräusche hörten. Wir rätselten auch, an welcher Stelle des Blocks wir wohl inzwischen angekommen waren. Manchmal gingen wir in zwei Gruppen in entgegengesetzter Richtung los, gespannt, wo wir uns wohl treffen würden. Dabei versuchten wir zu schleichen, um die entgegenkommende Gruppe zu überfallen.

Wir hatten auch wieder neue Sammelobjekte entdeckt: Die Schrapnellmunition, mit der die Flaks feindliche Flieger beschossen, fiel in Form von Eisensplittern zur Erde zurück. Diese hatten bizarre Formen, unterschiedliche Größen und waren in allen Regenbogenfarben angelaufen. Ideal zum Sammeln und Tauschen. Mit der Zeit lernten wir auch zu unterscheiden, von welcher Stelle des Geschosses die Splitter stammten, größere vom Geschossboden, feinere, besonders hübsch angelaufene von der Spitze. Am besten kam man an die Splitter heran, wenn man noch während des Angriffs nach oben ging und auf das scheppernde, platschende Geräusch des Aufschlagens achtete. Wir folgten dabei unserem Gehör und sammelten die Stücke auf. Ich mag gar nicht daran denken, welcher Gefahr wir uns damals aussetzten.

Besonders verlockend war es, nachts den Flakscheinwerfern zuzuschauen. Wie gleißende Lichtfinger bohrten sich ihre Strahlen in den dunklen Himmel. Dann plötzlich leuchtete ein erfasster Feindbomber auf, mehrere Scheinwerfer konzentrierten sich auf ihn, und er bot der Abwehrflak ein brillantes Ziel.