In Königsberg erwartete uns eine Überraschung: eine Tonne mit Salzheringen, die Vater einer Ju 52-Maschine in Norwegen mitgegeben hatte und die uns für eine Weile vom eintönigen Kartoffel- und Graupenessen befreite. Er hatte auch mein Geschenk zum achten Geburtstag mitgeschickt: ein echtes chromglänzendes Fahrrad, das es im Kriegsdeutschland nirgendwo mehr gab. Ich war überglücklich über dieses prachtvolle Rad.
Es wurde ausgepackt, mit Großvater zusammengebaut und im Keller in Maraunenhof an die Wand gehängt. Fahren durfte ich es nicht, denn meine Sauerländer Großmutter war der festen Überzeugung, dass man im kalten Ostpreußen im August nicht mehr fahrradfahren konnte. Ich würde mir eine Lungenentzündung holen, meinte sie, die noch nie im Leben auf einem Fahrrad gesessen hatte. Und sie schenkte mir eine Winterjacke, in die ich erst noch hineinwachsen musste. Die Jacke, die mir später von größtem Nutzen sein sollte, war von einem Schneider aus einer dicken grauen Pferdedecke genäht und braun eingefärbt worden.
Fahrradfahren kam für »Bullerchen« nicht infrage, da half kein Protest. Ich musste selbst im herrlichsten Spätsommerwetter schon die langen kratzigen Wollstrümpfe tragen, die mit immer zu kurzen Strumpfhaltern an einem Leibchen befestigt waren und mich zu einer leicht servilen Haltung zwangen. Dazu gab es kurze Bleyle-Strickhosen, bis mich Großmutter im Herbst zwang, Skihosen mit breiten Beinen zu tragen, die unten mit einem Band zusammengebunden waren. Auf Knöchelhöhe hatte meine Mutter Lederflicken aufgenäht, damit sich der Stoff durch die Gehbewegungen nicht abschabte. Wenn ich im Herbst mit diesen Hosen draußen erschien, riefen meine Freunde, die noch mit kurzen Hosen herumrennen durften, regelmäßig: »Scheiße locker, Knickerbocker« und ähnliche Sprüche.
Warum ich mir solche Zwänge auferlegen ließ, weiß ich heute nicht mehr. Ganz offenbar übten die vielen Frauen in meiner Familie bei den Dingen, um die sie sich kümmerten, einigen Druck auf mich aus, ließen mir aber dafür bei allem, was »Männersache« war, relativ freie Hand.
Das Fahrrad bin ich nie gefahren. Es muss heute noch in dem Keller sein, aber völlig zerdrückt, denn bei einem späteren Angriff wurde das Haus von einer Sprengbombe getroffen, sank in sich zusammen und beerdigte mein Geburtstagsgeschenk.
Die Sendung aus Norwegen war vor allem ein eindeutiges Zeichen dafür, dass Vater lebte. Obwohl er so weit weg sein musste, war er doch für uns da. Die Väter von manchen Schulkameraden waren gefallen, und ich hatte erlebt, welches Unglück das für eine Familie bedeutete. Auch wenn ich Vater im Grunde nur wenig kannte und kaum sah, hing ich sehr an ihm und hatte großes Vertrauen in ihn.
Bei seinem letzten Besuch hatte sich etwas Besonderes ereignet, wovon ich erst jetzt erfuhr. Meine Mutter war schwanger, und im März sollte ich endlich ein Geschwisterchen bekommen. Darauf freute ich mich überschwänglich. Ich hatte mir schon lange eines gewünscht. Dass wir in Zeiten lebten, in denen eine Schwangerschaft und die Versorgung eines Babys sehr schwierig werden können, war mir dabei natürlich nicht klar. Ich war einfach nur glücklich und machte mich sofort mit Eifer daran, aus der Vornamensliste hinten im Familienstammbuch einen Namen für das Baby auszusuchen. Mutter und ich überlegten mehrere Tage gemeinsam, schließlich einigten wir uns auf Kriemhild für ein Mädchen und Siegbert für einen Jungen. Da mein Vater nicht da war, besprach meine Mutter viele Fragen mit mir und redete mit mir fast wie mit einem Erwachsenen. Mit wem hätte sie sich auch sonst unterhalten sollen? So erfuhr ich unter anderem, dass sie sich wegen der bevorstehenden Geburt Sorgen machte, dass schon meine Geburt nicht einfach gewesen war und sie wegen einer Venenentzündung so lange mit mir im Krankenhaus hatte bleiben müssen, dass man mich dort schon als »Opa« bezeichnet hatte. Im Krieg würde alles bestimmt noch schwieriger sein, meinte sie.
Obwohl mich solche Probleme beschäftigten, schob ich sie zwischendurch mühelos beiseite. Neue Abenteuer warteten auf mich. Mit den Freunden entdeckten wir jeden Tag neue militärische Niederlassungen in der Stadt. Inzwischen hatte sich in dem kleinen Park nahe meiner Schule und nicht weit von unserem Haus entfernt eine Panzereinheit eingerichtet. Mann und Gerät sollten vor ihrem Einsatz an der Verteidigungsfront wieder neu aus- und aufgerüstet werden. Im Winter hatten wir in diesem Park immer unseren Rodelberg und waren oft zu spät von der Schule nach Hause gekommen, weil wir noch auf dem Tornister rodeln wollten. Nachmittags gingen wir dann mit dem Schlitten dorthin. Jetzt war an solche Kinderspiele kaum zu denken, uns interessierten das Kriegsgerät und die Soldaten viel mehr. Wir sahen zu, wie sie versuchten, ihre Panzer haftminensicher zu machen und halfen ihnen dabei. Zu diesem Zweck wurde die Wanne von unten mit einer Isoliermasse eingestrichen, einem gelblichen, stark nach Marzipan duftenden Zeug. Dass eine solche Maßnahme kaum Wirkung haben würde, wenn ein Panzer im Einsatz war, wussten wir natürlich nicht. Die Soldaten waren nicht so richtig überzeugt von der gelben Masse. »Demnächst klebt der Iwan eben Nägel an seine Minen, die bleiben so richtig schön in der Pampe stecken, und dann Mahlzeit ...« Wir waren jedenfalls begeistert, als die Männer uns fragten, ob wir ihnen nicht helfen wollten. Der Bauch eines Panzers liegt dicht über dem Erdboden und für einen ausgewachsenen Mann ist es alles andere als einfach, unter dem Panzer zu liegen und die gelbliche Masse über Kopf aufzutragen. Da waren wir schon besser geeignet.
Abends kam ich nach Hause, grässlich beschmiert, und erzählte meiner Mutter voll Stolz von unserer kriegswichtigen Arbeit an den Panzern. Darüber, dass ich die Arme kaum noch heben konnte, kam sie schnell hinweg, dass ich aber meine Kleider eingesaut hatte, gefiel ihr gar nicht: »Ich weiß ja, dass du die Arbeit für unsere Soldaten sehr ernst nimmst, aber wie soll ich das je wieder sauberkriegen!« Dennoch durfte ich auch an den folgenden Tagen wieder in den Park gehen und den Soldaten helfen, diesmal in alten Klamotten, die mir schon etwas zu klein waren.
Inzwischen wurde auch unser Wohnblock Teil der Wehranlagen. Eines Tages kam eine Hanomag-Zugmaschine mit gewaltigem Motorlärm durch einen der vier Torbögen an den Seiten des Blocks in den Hof gefahren. Wir Jungen sahen gebannt zu. Sie brachte eine 8,8-Flak, das Rohr flachgelegt. Es folgte noch eine Vierlingsflak. Beide Luftabwehrgeschütze wurden im Schutz der Sträucher im Innenhof abgestellt und mit Tarnnetzen überzogen, damit sie vom Flugzeug aus nicht zu erkennen waren. Die Mannschaften belegten verlassene Wohnungen, von denen es genug gab, da schon viele Familien geflohen waren. Die Munition für beide Geschütze und die Austauschläufe der Vierlingsflak wurden in einem Keller verstaut. Die Bewohner waren äußerst besorgt. Das war verständlich, denn von nun an kam unser Wohnblock nicht mehr zur Ruhe. Das bellende Geräusch der Flak im Einsatz brach sich vielfach im großen freien Geviert des Innenhofs und machte einen Höllenlärm. Auch das war eine Folge der Wahnsinnsidee von der »Festung Königsberg«. Wir Kinder hielten uns im entscheidenden Moment die Ohren zu, wie es uns die Soldaten gezeigt hatten, und genossen es, so unmittelbar dabei sein zu können. Angst hatten wir nicht. Wir kletterten auf die hinteren Auslegerarme der Flak, niemand verbot es uns. Neugierig verfolgten wir die Spur der Geschosse. Trafen sie oder trafen sie nicht? Die vier Läufe der Vierlingsflak fuhren im Rhythmus eines langsamen Tack, Tack, Tack hin und her, sodass die ganze Lafette, obwohl auf vier Auslegern am Boden abgestützt, erzitterte, und wir uns nur mit Mühe auf den Auslegerarmen halten konnten. Damit hatten unsere Spielabenteuer eine neue Qualität erhalten. Splittersammeln war im Vergleich dazu uninteressant und wurde eingestellt.
Zum Schutz des Mercedeswerks war ein gepanzerter Eisenbahn-Flakzug hinter dem Werk aufgefahren, ganz nah bei der Schindekopfbrücke. Die Lok war gänzlich mit Stahlplatten verkleidet, die angehängten Waggons waren ebenfalls gepanzert, um Bedienung, Geschosse und Munition zu schützen. Auf dem einen Waggon stand eine Flak, in dem zweiten befand sich Munition. Natürlich inspizierten wir alles aus der Nähe, plauderten mit den Soldaten und kannten uns täglich besser mit dem Kriegsgerät aus. Der Gedanke, dass damit Menschen vernichtet werden könnten, beschäftigte uns nicht weiter. Es waren schließlich Feinde, und so sahen wir es als notwendig an. Auch wir waren ja längst, natürlich unbewusst, von der Kriegspropaganda beeinflusst.
Unterdessen hielten sich aber nicht alle Leute an die Durchhalteappelle der Wochenschauen. Viele hatten begriffen, dass die Flucht nach Westen das beste Mittel war, zu überleben. So hatten sich mehr und mehr Familien mit Sack und Pack auf den Weg gemacht, und deshalb waren auch kaum noch Freunde da. Wir Jungs waren jetzt nur noch zu zweit.
Peter und ich unternahmen Erkundungstouren in die verwüstete Innenstadt, zu Fuß nur etwa zehn Minuten von den Hufen entfernt. Wir krochen in Ruinen herum, obwohl das wegen der Einsturzgefahr streng verboten war. Es war aber einfach zu interessant, herauszufinden, wie es da drinnen aussah. Während wir uns einen Weg durch die Trümmer bahnten, stellten wir fest, dass vierstöckige Fassaden einfach so dastanden, obwohl sie aussahen, als könnte man sie mit einer Handbewegung zum Einsturz bringen. Wir probierten es lieber nicht. Erst Monate danach habe ich mich an solche Dinge herangewagt, zu Zeiten, als es lebensnotwendig war.