Überlebenshilfen

Wichtiger als solche Nutzgegenstände aber war für uns alles, womit man spielen konnte. Wir Kinder brauchten dringend einen Ausgleich, etwas Ablenkung von der täglichen Not, und die fanden wir in den Spielen, die wir uns ausdachten. Ich glaube, ohne sie wären wir seelisch zugrunde gegangen. Sie halfen uns, das Elend, in dem wir lebten, die immer wiederkehrenden Schrecken der Nächte zu vergessen und trotz allem ein bisschen von jener Lebensfreude zu haben, ohne die wir nicht existieren können.

Auf unseren Streifzügen besuchten wir manchmal die Rosenauer Kirche, die einen Kilometer von der Kaserne entfernt war. Wir kletterten auf die Orgelempore und bauten kleine Orgelpfeifen aus, auf denen man herrlich pfeifen konnte. Wir sahen uns die ganze Kirche genau an, ein bisschen unheimlich war uns dabei zumute, auch hatten wir den Anflug eines schlechten Gewissens. Durfte man in der Kirche einfach etwas wegnehmen und damit spielen?

Das Vergnügen, mit den Orgelpfeifen zu spielen, war stärker als unsere Skrupel, und so ließen wir uns immer mal wieder in der Kirche blicken, in die sonst kein Mensch kam, mit dem Gefühl leichten Schauderns und der Lust auf Schabernack.

In der Kaserne nahmen wir die Ausschneidebögen mit den Modellen der feindlichen und deutschen Panzer an uns, dazu Tuben mit Uhu-Alleskleber, von denen wir mehr gefunden hatten, als wir je würden brauchen können. Wir deckten uns mit Brenngläsern ein, die wir in einer Kiste entdeckt hatten, und nahmen auch Schachteln mit Fliegenfängern mit. Alle diese Schätze brachten wir in eine hölzerne Baracke auf dem Gelände.

In einer Ecke der vielen Kasernenhöfe standen mehrere Horchgeräte. Diese bestanden aus vier bis sechs Exponentialtrichtern, so angeordnet, dass sie mit ihren großen Trichterseiten im Geviert zu einer Gesamtöffnung zusammengefasst waren. Montiert war das Ganze auf einer Lafette mit vier Rädern. Mit zwei großen Kurbelhandrädern konnte der gesamte Horchkopf eine 360-Grad-Horizontaldrehung und auch einen 90-Grad-Vertikalschwenk machen. Man vermochte ihn so mit seiner großen Schallöffnung auf jeden Punkt des Himmels zu richten, um Flugzeuggeräusche aus großer Entfernung aufzufangen und zu lokalisieren.

Ich hatte solche Geräte schon kennengelernt und wusste, wie man sie bedient. Wir machten damit nun folgendes Spiel: Vier von uns kletterten in den senkrecht gestellten Horchkopf, jeder in einen Trichter. Vier weitere kletterten in ein zweites Horchgerät. Dann versuchten beide Parteien, sich gegenseitig zu überfallen, indem sie aus den Trichtern sprangen. Da die Trichter sich nach unten hin stark verjüngten, stellten wir Kartons mit Fliegenfängern hinein, um nicht mit gestreckten Füßen wie Balletttänzer darin stehen zu müssen. Die Fliegenfänger hatten aber noch eine zweite Funktion. Sie dienten zur Abwehr der feindlichen Mannschaft, die zuerst aus den Trichtern kletterte. Diese wurde von den Gegnern mit Fliegenfängern beschossen, die in ihren Haaren hängenblieben, weil wir sie vorher ein wenig ausgerollt hatten. Das hielt die Angreifer aber nicht auf: Sie arbeiteten sich weiter vor bis zu den Handrädern und kurbelten den Trichterkopf so lange gen Erdboden, bis den Verteidigern nichts anderes übrigblieb, als aus den Trichtern zu springen, da sie sonst einfach ausgeschüttet worden wären. Damit stand der Sieger fest und eine neue Runde begann.

In einer anderen Halle fanden wir riesige Flakscheinwerfer auf Lafetten, dazu, ordentlich preußisch in Regalen gestapelt, einen Meter lange kräftige Papprollen, in denen sich zehn fingerdicke Kohlestäbe für die Lichtbogenlampen der Scheinwerfer befanden. Die Dinger waren ein Vermögen wert, was für ein Jammer, dass wir sie nicht gegen Essen umtauschen konnten. Amüsieren allerdings konnten wir uns gut damit. Eines Tages zerbrachen wir die dicken Glasreflektoren mit Ziegelsteinen, was wunderschön schepperte. Mit den Spiegelscherben zielten wir auf uns und blendeten uns gegenseitig. Die Kohlestäbe zersprangen wie Glas in tausend Stücke, wenn man sie draußen an einer Hallenecke flach gegen die Wand schlug. Es machte großen Spaß, und zur Entschuldigung sagten wir uns, dass diese Geräte auf keinen Fall in russische Hände geraten dürften.

Mit den Brenngläsern hielten wir Mutproben ab. Jeder bekam eins, und alle mussten es so lange über den Handrücken halten, bis es nach angesengter Haut zu riechen begann. Dann hatte man die Mutprobe bestanden.

Jeden Tag entdeckten wir mehr in den Kasernenhallen: zum Beispiel hölzerne längliche Kisten mit vier nagelneuen, in Ölpapier verpackten Ersatzläufen für die Zwei-Zentimeter-Vierlingsflak oder Munitionskästen voller Übungsmunition mit violetter Holzspitze. Die brachten wir in die Baracke, in der schon die Ausschneidebögen lagen. Die Munitionsmagazine ließen wir liegen.

Wir richteten eine Serienproduktion von Panzern aus Pappe ein. Auf meinen Vorschlag hin wurde die Arbeit aufgeteilt: Manche schnitten aus, andere knifften, die Dritten klebten. Nach ein paar Tagen hatten wir genug Panzer fertig, um auf dem Gelände eine Panzerschlacht veranstalten zu können. Gewinnen sollten natürlich die Deutschen.

Damit die Panzer auch richtig kämpfen konnten, nahmen wir die Übungsmunition und brachen die violetten Spitzen mit einer Kneifzange aus der Patronenhülse. Dann entfernten wir eine kleine Filzscheibe und schütteten das Schießpulver aus. Es erinnerte an winzig kleine Salmiakpastillen. Nachdem wir eine Menge Patronen zerlegt hatten, füllten wir das Pulver in drei große Wasserkannen.

Jetzt war es so weit. Die große Schlacht konnte beginnen. Die Panzer wurden in Schlachtordnung aufgestellt, und wir füllten in jeden durch die eigens offengelassene Turmluke Schießpulver ein. In jedes Modell wurde an der Unterkante ein Loch gebohrt, bis etwas Pulver herausrieselte.

Dann streuten wir mit den Händen eine Pulverspur von Panzer zu Panzer und zündeten das Pulver an einer Stelle an, nicht mit Streichhölzern, sondern mit dem Brennglas, damit die Spannung größer wurde. Neugierig und andächtig verfolgten wir die laufende Flamme, bis sie einen Panzer erreichte. Der flog mit einem lauten Blubb in die Luft. Wir hatten die Zündspuren sternförmig angelegt, so ging es Schlag auf Schlag. In wenigen Minuten hatten unsere deutschen Panzer gewonnen, ein schönes Erlebnis, für das sich, so fanden wir, die vielen Stunden Arbeit durchaus gelohnt hatten.