Ich werde Messdiener

Unsere fünf Nonnen waren Köchinnen, Krankenschwestern, Mutterersatz, Putzfrauen, sie machten einfach alles und das mit größter Hingabe. Sie versuchten, den Waisenkindern nach Kräften zu helfen. Dabei vergaßen sie nicht ihre Ordenspflichten, wenn auch nur in einfachster Form. In einem kleinen Erkerzimmer richteten sie eine Kapelle ein, stellten gemeinsam mit dem Priester einen Tisch als Altar auf, legten eine Decke darüber, und der Priester stellte eine Monstranz darauf. Wo er sie wohl gefunden hatte? Das erste Gebet verrichteten die Nonnen schon um fünf Uhr in der Frühe.

Auch wir Kinder wurden religiös betreut. Sonntags gab es nach dem Frühstück immer einen richtigen kleinen freiwilligen Gottesdienst. Ich nehme an, so andächtige Zuhörer wie uns hat der Priester nie wieder gehabt. Nach der Liturgie redete er von all den Dingen, die unser tägliches schwieriges Leben betrafen. Er tröstete uns, half uns zu verarbeiten, dass wir Eltern, Geschwister und andere Verwandte verloren hatten. Seine Ansprache gab uns Mut und auch Kraft. Dieser Priester war wirklich ein besonderer Mensch. Leider habe ich seinen Namen vergessen, er war meistens unterwegs, um Essen aufzutreiben, während die Nonnen uns betreuten.

Für einen katholischen Gottesdienst braucht man Messdiener. Sie müssen singen können, lateinische Texte auswendig lernen, wissen, wann sie welche Sätze zu sprechen haben, und das Weihrauchgefäß schwenken. Ich erfüllte alle diese Voraussetzungen. Und so wurde ich als evangelisch getauftes Kind katholischer Messdiener. »Der liebe Gott wird das verstehen und Nachsicht üben«, sagte der Priester. Ich glaube, er hatte Recht. Es war, nach allem, was ich erlebt hatte, nicht selbstverständlich, dass es mich immer noch gab. Und ich freute mich jeden Tag darüber, so schwer mein Leben auch war.

An meinem neunten Geburtstag bekam ich von den Schwestern als Geburtstagsgeschenk ein Stück Brot extra, und ich empfand es als die schönste Gabe, die man sich denken konnte. Meinen achten Geburtstag ein Jahr zuvor konnte ich mir kaum noch vorstellen. Da hatte ich ein Fahrrad und einen Brief von meinem Vater bekommen, meine Mutter und alle anderen waren noch da gewesen. Der Gedanke daran trieb mir die Tränen in die Augen.

Auch heute galt das Gebot der Nächstenliebe. Die Schwestern sagten mir, ich solle mein Brot mit dem Mädchen, das ich betreute, teilen. Also ging ich in den Essraum der Mädchen und brachte es ihr. Es war ein peinliches Gefühl, an so vielen Mädchen vorbeizugehen. Wir hatten ja sonst kaum Kontakt zu ihnen.

Den Schwestern des Katharinenstifts kann ich ebenfalls nur dankbar sein, nicht nur für ihre aufopfernde Fürsorge, die mir geholfen hat zu überleben, sondern auch dafür, dass sie mir auf ihre pragmatische und einfühlsame Art ein paar Werte vermittelt haben. Wer weiß, was sonst in dem rauen Überlebenskampf, den wir führen mussten, aus uns geworden wäre. Sie haben uns einen moralischen Halt gegeben, der uns und anderen schon in dieser Zeit sehr zugute kam.

Ich weiß nicht, ob die Ordenstracht unsere Schwestern vor Übergriffen der Russen bewahrt hat. Ich wünsche es ihnen sehr. Eine von ihnen, Schwester Speziosa, mochte ich besonders gern. Auch sie mochte mich, und ich konnte immer zu ihr kommen, wenn ich Fragen hatte. Ich hatte viele Fragen, denn ich war sehr wissbegierig. Ab und zu bekam ich von ihr ein kleines Buch zum Lesen, ein Kinderbuch, und auch das Neue Testament. Offenbar hat sie gar nicht gemerkt, wie wenig Schulunterricht ich gehabt hatte. Ich las nicht schnell, aber durch den Unterricht meines Großvaters schaffte ich es, diese Bücher überhaupt zu lesen, wenn auch langsam. Auch sie waren wichtige Kost, ich wäre geistig sicherlich verkümmert, hätte ich mich nicht ab und zu mit einem Buch in eine andere Welt versetzen können.

Viel Zeit zum Lesen war mir aber nicht vergönnt. Einen weit größeren Spielraum nahm immer die Suche nach etwas zusätzlichem Essen ein. Sie bestimmte unseren Tagesablauf ganz und gar. Wenn wir ins Heim zurückkehrten, kamen wir von nicht ungefährlichen Streifzügen zurück, waren zu russischen Familien betteln gegangen, waren in Ruinen herumgekrochen.

Ich zog manchmal ganz allein los, meistens aber in Gesellschaft von drei anderen Jungen, die auch ins Heim gekommen waren. Gunther Hagen stammte wie ich aus Königsberg, Peter, dessen Nachnamen ich nicht mehr weiß, kam vom Fluss Gilge. Ihm waren die tiefsten Backengrübchen ins Gesicht gegraben, die ich je gesehen hatte. Seine Eltern hatten in der Flussebene Zwiebeln angebaut. Auch Kurt Pietsch kam vom Land. Wir vier hatten uns vorher nicht gekannt, aber wir waren alle schon sehr früh ins Heim gekommen. Wir schliefen in dem großen Gartenpavillon und freundeten uns an. Gunther war etwas älter als ich, die beiden anderen waren in meinem Alter. Gunther und ich wurden mehr oder weniger die Anführer, Kurt und Peter machten alles mit. Zusammen gingen wir durch dick und dünn, redeten über unsere Sorgen und erzählten uns gegenseitig aus unserem früheren Leben – eine Art Ersatzfamilie. Wir konnten einander vertrauen, wir hielten zusammen, halfen uns gegenseitig, und wir machten Scherze übereinander. Kurt Pietsch zum Beispiel nannten wir zum Spaß »Kirpitsch«, was auf Russisch Ziegelstein bedeutet – ein Wort, das damals in unserem Vokabular einen wichtigen Stellenwert hatte.

Der Name von Kurt Pietsch ist mir erst kürzlich wieder eingefallen, als ich nachts aufwachte und mir das Wort kirpitsch durch den Kopf ging. Erst nach einigem Überlegen kam mir mitten in einer Nacht im Jahr 2005 die ganze Geschichte, die zu seinem Spitznamen geführt hatte, wieder in den Sinn.