Das Lager der Russen

Eines Tages waren plötzlich und überraschend die lieben Nonnen und der freundliche Priester verschwunden. Es hatte keinen Abschied gegeben, niemand hatte uns etwas erklärt. Wir waren tieferschrocken. Wenn es den Schwestern zu viel geworden wäre, sie hätten uns sicher Bescheid gesagt. Statt der Nonnen kamen die Russen. Offenbar wollten sie die Federführung übernehmen. Es gab einen neuen Heimleiter, einen kriegsversehrten russischen »Kapitan«, dessen Rang dem eines Majors entsprach. Er brachte zwei bewaffnete russische Soldaten mit, die nicht uns bewachen, sondern uns vor umherziehenden, zum Plündern neigenden Russen beschützen sollten. Das waren nicht immer Soldaten, sondern auch russische Heimatlose, darunter viele Halbwüchsige ohne jede Erziehung, die ums Überleben kämpften und in immer größerer Zahl nach Ostpreußen kamen, immer hinter der kämpfenden Truppe, so wie früher Abenteurer und Freibeuter die Heerzüge der großen Feldherren begleitet hatten.

Drei ältere deutsche Frauen wurden als Küchenhilfen beschäftigt, und ein paar Tage später trafen zu unserer Freude noch zwei deutsche Kriegsgefangene ein, Sigismund und Herr Düsselbach. Der Kapitan, ein freundlicher Mann, der uns gleich gefiel, wollte Ordnung schaffen. Es kam System in unser Lager. Sigismund war Tischler von Beruf. Er reparierte Türen und Fenster. Er suchte in Ruinen nach Glas und setzte fehlende Scheiben ein. Uns Kindern gab das ein Gefühl von Geborgenheit, so weit so etwas dort überhaupt möglich war.

Herr Düsselbach reparierte alle Zäune und das große Haupttor, an dem immer einer der beiden russischen Soldaten mit über der Schulter hängender, nach unten zeigender MP postiert war. Auch das geschah zum Schutz vor den Landsleuten des Kapitan, der diese offenbar gut kannte.

Vorn an der Straße wurde an einem Torpfosten ein Schild mit der Aufschrift Dom ssirott, Waisenhaus, angebracht. So sollten potenzielle russische Diebe und Einbrecher gleich erfahren, dass dort keine Reichtümer zu erwarten waren. Hinten im Garten wurde ein Donnerbalken gebaut. Dazu wurde ein 75 Zentimeter breiter, drei Meter langer und ein Meter tiefer Graben angelegt. Während der Ausschachtungsarbeiten liefen wir zu den Soldaten und sagten: »Vorsicht, hier sind ganz viele Kinder beerdigt!« Dann zeigten wir ihnen genau, bis wohin sie graben konnten.

Sie bemühten sich, die Gräber nicht zu beschädigen. Über der Grube wurde in Sitzhöhe ein solider Balken befestigt, dazu ein anderer als Lehne. Vorbei war die Zeit, in der jeder irgendwo in irgendwelchen Gärten im Gebüsch sein Geschäft verrichtete, »Abprotzen« genannt. Benutzt wurde der Donnerbalken nach Anweisung des Kapitan zu bestimmten Zeiten. Nach dem Frühstück, Mittagessen und Abendbrot zuerst die Jungen, danach die Mädchen. Als Klopapier dienten aus einem der bombardierten Nachbarhäuser herangeschaffte Buchseiten. Wenn eine Grube voll war, wurde die nächste angelegt. Das war immer noch besser als ganz ohne Toiletten zu leben und wurde für ganz selbstverständlich gehalten. Nur bei eisiger Kälte war es ratsam, den Aufenthalt drastisch abzukürzen.

Wir vier Freunde hatten das Glück, auch unter der neuen Lagerleitung in unserem Souterrainzimmer bleiben zu können. Dies war so etwas wie exterritoriales Gebiet. Niemand verlief sich zu uns. Inzwischen hatten wir auch ein kleines Vorratslager mit Sachen verschiedenster Art eingerichtet. Besonders wichtig war das feine, dünne Papier aus den Neuen Testamenten, die noch aus der Zeit von Sankt Katharinen im Haus herumlagen. Wir trieben damit regen Handel mit den Russen, falteten es zu kleinen Heftchen und verkauften es als Zigarettenpapier. Nicht alle Russen konnten Papirossi rauchen, die hatten meist nur Offiziere. Die einfachen Soldaten rauchten Machorka, Tabak aus Blättern, Rispen und Stangen, der in kleinen Päckchen aus braunem Packpapier geliefert wurde. Bisher hatten die Russen die Prawda, also Zeitungspapier zum Zigarettendrehen verwendet, vielleicht der beste Verwendungszweck für dieses Blatt. Mit unserem feinen, edlen Zigarettenpapier zogen neue Gewohnheiten herauf. Es fand reißenden Absatz. Auch wenn der Tabak dadurch kaum besser schmeckte, das Papier mit Goldrand faszinierte, obwohl es nicht reißfest war, die Russen sehr. So verdiente ich meine ersten Kopeken.