»Ich bin Burkhard und ich lebe noch«

Das Wiedersehen mit meiner Tante, die so plötzlich, wie ich sie gefunden hatte, wieder verschwunden war, brachte mir meine elende Situation drastisch zu Bewusstsein. Ich musste an meinen Vater denken, von dem ich immer noch hoffte, dass er lebte. Aber war es auch wirklich so? Ich dachte auch an Großmutters Verwandte im Sauerland, bei denen wir wegen der Bombenangriffe gewesen waren, und ich sagte mir, wenn die Großeltern es im Winter 1944 – das war inzwischen zweieinhalb Jahre her – übers Eis geschafft hatten, wenn mein Vater noch lebte und nicht gefangen wäre, dann würden sie bestimmt bei diesen Verwandten die Sachen abholen, die wir dort eingelagert hatten. Deshalb beschloss ich, zu versuchen, mit meiner Familie Kontakt aufzunehmen und zwar per Post.

Oft genug war ich mit meiner Mutter in der Nähe des Schlosses am Postamt vorbeigekommen. Die Russen hatten am selben Ort ihre Post eingerichtet. Die Postkarten, die man dort kaufen konnte, kannten nur ein Motiv; sie zeigten das abgebrannte, aber noch nicht gesprengte Schloss, in Farbe! Darauf stand: »Pobjeda, Sieg, 8. Mai 1945«. Mit den beim Zigarettenpapierverkauf erworbenen Kopeken kaufte ich feierlich diese schreckliche Karte und eine Briefmarke. Ich setzte mich damit in eine Ruine und schrieb mit einem Bleistiftstummel, den ich, wie bei Großvater gesehen, mit einem Messer aufs feinste angespitzt hatte: »Ich bin Burkhard, der bei Euch war, und ich lebe noch. Meine Oma ist Lina Sumowski. Lebt mein Vater noch? Mutter ist tot.«

Als ich mit Schreiben fertig war, wurde mir klar, dass ich nicht mehr wusste, wie die Verwandten hießen, und auch ihre genaue Adresse nicht kannte. Also schrieb ich: »An den Lehrer in Stemel in der Nähe von Neheim-Hüsten, Deutschland«, und setzte mit kyrillischen Buchstaben »Njemjetzki« und vorsichtshalber noch »Germanski« hinzu.

Nun stellte sich die Frage, wie die Postkarte abgeschickt werden konnte. So einfach eine Briefmarke draufzukleben und sie einzuwerfen, schien mir zu unsicher. Bestimmt war zwischen Kriegsende und jetzt noch keine Postkarte nach Deutschland abgeschickt worden. Ich fragte also die russischen Postleute, und sie diskutierten eine Weile über diese interessante logistische Frage. Ich hatte ihren Ehrgeiz geweckt, demnach bestand keine Gefahr, dass sie meine Karte einfach wegwarfen. Dennoch war ich keineswegs sicher, dass sie ihr Ziel erreichen würde. Im Lager erzählte ich nichts davon. Ich war mir nicht sicher, ob es dort gerngesehen war, dass man »nach Hause« schrieb.

Immer mehr Kinder waren im Winter 1945 / 46 zu uns gekommen. Da es keinen Platz mehr für sie gab, wurde ein weiteres Haus in der Nachbarschaft in das Lager einbezogen. Auch dieses hatte wie alle anderen keine Türen mehr, und viele Fenster mussten mit Holz vernagelt werden. Doch der Dachstuhl war noch in Ordnung, und seine Bewohner hatten buchstäblich endlich wieder ein Dach über dem Kopf. Uns vier Freunden stand ein neuer Umzug bevor, da unser Kellerzimmer, wo wir in der Zwischenzeit wieder gelandet waren, von neuen Mädchen belegt wurde. Wir kamen in dieses Haus und suchten uns im Erdgeschoss ein Zimmer mit davorliegender Terrasse aus. Von dort aus konnten wir unbemerkt rausgehen, das war eine der wichtigsten Voraussetzungen für unsere Streifzüge.

Oft saßen wir abends auf der Terrasse um ein Feuer, manchmal verbrannten wir ein Stück Stabbrandbombe – vielleicht war es auch eine zur Beleuchtung von Bombenzielen abgeworfene Leuchtkerze gewesen –, das wir mit der Axt abgeschlagen hatten und das ein grellweißes, gleißendes Licht verbreitete. Manchmal saßen wir auch nur einfach im Dunklen und starrten in den Himmel. Der ostpreußische Himmel, so sauber, so rein, wie er nur in Ostseenähe sein kann, ließ die Millionen Sterne dermaßen hell und klar scheinen, dass wir meinten, wir könnten sie mit Händen greifen. Oft stand das Sternbild des Drachen vor uns, unverwechselbar und leicht zu erkennen, und ich fragte mich, ob die Menschen im fernen Deutschland, von dem ich nicht mal wusste, wo genau es lag, den Drachen wohl auch so sehen könnten.

Noch heute muss ich, immer beim Anblick dieses Sternbilds an den kleinen verlassenen Jungen denken, der ich war. Zugleich sehe ich wieder diesen unvergleichlich schönen Königsberger Sommerhimmel vor mir. Niemand hat die unglaubliche Wirkung dieses Sternenhimmels besser zum Ausdruck gebracht als der Königsberger Philosoph Immanuel Kant. Als ich später zum ersten Mal das Zitat »der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir« hörte, wusste ich sofort, was er meinte. Die leuchtende Pracht dieses Himmels ist die beste Metapher für einen klaren, kritischen Verstand und gewiss auch für die Einsicht in unsere Grenzen.