Uns Kindern wurde nie grundsätzlich erläutert, was man mit uns vorhatte. Was um uns und mit uns geschah, konnten wir nur so hinnehmen, wie es war. Nie hatte uns jemand erklärt, warum die Ordensschwestern so plötzlich verschwunden waren, auch wussten wir nicht, was der Kapitan oder seine Vorgesetzten mit uns im Sinn hatten. Wir spürten zwar seine Sympathie und Fürsorge, aber richtig zu Hause fühlten wir uns in diesem Lager nicht. Noch immer ging es ums Überleben, genug zu essen zu haben und einen Platz zum Wohnen. Doch in uns allen wuchs die Sehnsucht nach einem echten Zuhause, nach einer richtigen Familie. Wo meine Postkarte wohl war?
Eines gehörte sicher zu den Absichten des Kapitan. Er wünschte sich, dass wir Russisch lernten, und fragte uns, wer von uns dazu bereit sei. Ich und auch andere meldeten sich, und bald darauf bekamen wir eine Lehrerin, die uns zweimal in der Woche Unterricht gab. Es war eine ältere, sehr nette Dame. Wir bekamen auch eine Fibel für Erstklässler, lernten Reime auswendig und übersetzten sie. Meistens waren es Lobsprüche auf die große Sowjetunion und die tapfere Rote Armee. Auch die Nationalhymne brachte die Lehrerin uns bei, auswendig lernen mussten wir sie in der deutschen Übersetzung. Man wollte wohl sicher sein, dass wir den Inhalt aufnahmen. »Von Russland, dem großen, auf ewig verbündet, steht machtvoll der Volksrepubliken Bastion ...«
Wir lernten zudem ein Kindergedicht, das von der geliebten Armee mit ihren Panzern, Kanonen und fahrbaren Maschinengewehren und der Kavallerie erzählt (ja rissuju, ja rissuju, nascha armi ljubaju, tanki, puschki, polemjoti, ich zeichne, ich zeichne, unsere geliebte Armee, Panzer, Geschütze, Maschinengewehre, fahrbar mit Panzerschild).
Uns wurde bei diesem Inhalt ganz anders zumute. Wir liebten die russische Armee wirklich nicht. Sie hatte uns besiegt, sie war unser Feind gewesen, und dass wir nun bei den Russen waren, dafür konnten wir Kinder nichts. Da wir aber ohne diese Armee unter den herrschenden Bedingungen noch schlechter gelebt hätten – wir hatten tatsächlich viele nette, zu uns Kindern freundliche Russen kennengelernt –, handelten wir, glaube ich, recht pragmatisch. Außerdem war ich wissbegierig, wild darauf, zu lernen. Ich hatte mich vor allem deshalb für den Russischunterricht gemeldet. Selbstverständlich fühlten wir uns alle weiterhin als Deutsche.
Besser gefiel uns daher das eher unpolitische Lied vom fröhlichen Wind, der uns ein Lied singen soll, weil er Meere und Berge gesehen hat (Anuka pjesnunam propoi wjessoli wjetjer, Nun singe uns ein Lied, du lustiger Wind). Wir kannten noch ein weiteres Lied, das hatten wir von den Soldaten direkt gelernt. Es ging um die Liebe eines Soldaten zu dem Mädchen Marusja. Er verabschiedet sich zur Roten Armee, verspricht aber, bald wiederzukommen.
Sehr gern hatte ich zudem das Lied »Ot Moskwie do samych do ukrain«, das wir auf Russisch sangen und auch verstanden. Die deutsche Übersetzung lernten wir ebenfalls: »Vom Amur bis an die Beresina / Von der Taiga bis zum Kaukasus / Schreitet frei der Mensch mit heitrer Miene/Wahrt des Lebens Wohlstand und Genuss.« Der Refrain lautete: »Heimatland, kein Feind soll dich besiegen/Teures Land, das unsere Liebe trägt/Denn es gibt kein andres Land auf Erden/Wo das Herz so frei dem Menschen schlägt.« Ich mochte besonders die Melodien und sang die Lieder immer gern. Daneben lernten wir auch russische Flüche von den Soldaten, besonders drastische, zum Beispiel: Chui tbjier na glasa, was sinngemäß übersetzt heißt: »Ich hau dir eins mit dem Schwanz aufs Auge«, oder jupt twoj matj, »Fick deine Mutter«. Wir Jungen amüsierten uns darüber köstlich.