Hygienemaßnahmen

Der Kapitan wollte, dass wir gut durch den Winter kamen, dazu entwickelte er ein Abhärtungsprogramm. Wir Jungen mussten jeden Morgen im Freien Frühsport machen. Dazu traten wir barfuß und nur mit einer kurzen schwarzen Turnhose aus den Leningrader Kisten bekleidet draußen an. Dann trabten wir im Gänsemarsch im hohen Schnee einmal um das gesamte, inzwischen recht groß gewordene Lagergelände. Dabei bewarfen wir uns mit Schnee und »wuschen« uns gegenseitig unter lautem Gejohle. Der Marsch endete an einer Reihe von Holzschemeln und einem Stapel Aluminium-Waschschüsseln der Wehrmacht in der Nähe der Schwengelpumpe, die trotz der Kälte funktionierte. Wir lösten uns beim Pumpen ab und wuschen uns richtig in dem eiskalten Wasser. Wir spürten die Kälte kaum, waren krebsrot und glühten.

Danach durften wir uns anziehen, gingen mit dem Viehsalz Zähne putzen, und schließlich gab es Frühstück, ein Stück Brot mit trockenem, in Scheiben geschnittenem kascha, Brei, als Belag. Dazu gab es tschai, Tee, entweder russischen grünen Tee oder von den Mädchen gesammelten Lindenblütentee, der bei den Russen sehr beliebt war.

Das Abhärtungsprogramm bekam mir gut, ich war während der Zeit im Lager kein einziges Mal erkältet. Ein Problem war eher das Ungeziefer, das sich bei der mangelnden Hygiene überall verbreitete. Das war aber eher unangenehm als lebensgefährlich. Es starben jetzt kaum noch Kinder. Wer es bis dahin geschafft hatte, der hatte gute Aussichten, zu überleben.

Die Winterluft war kalt, trocken und gesund. Die Kälte hatte Vor- und Nachteile. Von Vorteil war, dass unsere Donnerbalken-Gruben nicht stanken. Was abgeworfen wurde, übernahm in Windeseile die Temperatur des Eises. Allerdings war es sinnvoll, den Aufenthalt auf dem Sitzbalken so kurz wie möglich zu gestalten. Gefrorenes am Hintern fühlt sich einfach nicht angenehm an!

Von Nachteil war, dass die Temperatur unserer ungeheizten Zimmer, durch nur halbdichte Fenster kaum vor Kälte geschützt, immer dicht am Gefrierpunkt lag, und wir sehr froren, vor allem, wenn wir uns umzogen. Jeden Morgen musste unsere Unterwäsche, besonders das Unterhemd in den Nähten unter den Achseln und am Hals, nach Läusen und Nissen abgesucht werden. Die Viecher versteckten sich besonders gern darin. Wenn man fündig wurde, führte man beide Daumennägel an sie heran und zerquetschte sie. Wegen des typischen Geräusches, mit dem die Läuse oder ihre Eier zerplatzten, nannten wir es Läuseknacken. Wir jagten sie um die Wette und zählten, wie viele wir erledigt hatten. Jeder wollte gerne einmal den Rekord des Tages erringen. Auf dem Kopf hatten wir keine Läuse, denn wir mussten uns ja mit einer Handhaarschneidemaschine immer gegenseitig die Köpfe kahlscheren. Zu Anfang war uns kalt am Kopf gewesen, aber mit der Zeit hatten wir uns daran gewöhnt. Es war die Regel, und wir widersetzten uns nicht, auch wenn wir keine Strafen zu befürchten hatten. Niemals wurde uns für irgendetwas ernsthaft Strafe angedroht. Die Russen mochten uns Kinder, und es gab keine Probleme mit der Disziplin.

Was uns sehr zu schaffen machte, war die Krätze, eine ansteckende, stark juckende Hautkrankheit, die von Milben verursacht wird. Überall bildete sich schorfiger Grind, der unablässig nässte und zum Kratzen reizte. Es war eine wirkliche Qual. Wir mussten allein damit zurechtkommen, und das war manchmal sehr hart. Am Körper bildeten sich zahllose Narben, die erst nach Jahrzehnten verschwinden sollten.

Eines Nachts erwischte es mich besonders schlimm. Dieses Mal war es aber nicht die Krätze, wie ich zunächst dachte, sondern eine hungrige Ratte, die in unser Zimmer gedrungen war und mich in die rechte Ferse biss. Die Höhe unserer auf Ziegelsteinen stehenden Pritschen war für Ratten ideal. Tagelang lief ich mit nur einem Schuh und einem Fußlappen herum und hatte Schmerzen. Auch die anderen wurden Opfer solcher Attacken. Darum wickelten wir jeden Abend unsere Füße fest ein, nachts im Schlaf jedoch strampelten wir die Lappen wieder ab, und schon hatten die Ratten freie Bahn. Es gab keine Medizin, um Rattenbisse zu behandeln, alles musste von selbst heilen, was auch irgendwann geschah. Aber es dauerte oft lange.