Immer noch standen wir auf dem Königsberger Güterbahnhof herum, der Zug fuhr und fuhr nicht los. Es war noch keine Lokomotive davorgespannt worden. So blieben die Waggons geöffnet und wir saßen oder lagen stundenlang herum und warteten, dass die Fahrt endlich losging. Von unseren Waggons durften wir uns nicht entfernen. Irgendwann wurden wir müde und wachten erst am nächsten Morgen wieder auf. Da standen wir immer noch da.
Dann kam endlich die Lok, und die Russen schoben von außen die Waggontüren zu. Unsere Bewacher wollten sie von außen zuriegeln, aber da schrien wir vor Angst und protestierten so laut, dass sie sie während der gesamten Reise zumeist unverschlossen ließen.
Es ruckelte und quietschte, und der Zug fuhr los. Wir waren erleichtert. Er fuhr nicht sonderlich schnell, und so öffneten wir während der Fahrt die Wagentür, setzten uns an den Rand und ließen die Beine baumeln. Auf diese Weise konnten wir die Fahrt sogar ein bisschen genießen. Die beiden Alten schwiegen. Sie hatten gleich begriffen, wie selbständig wir waren und dass wir uns von niemandem etwas sagen ließen.
Jedes Mal, wenn wir uns einem Ort näherten, hielt der Zug. Dann kamen die Russen, und wir mussten die Türen zuschieben. Für die Zeit des Aufenthalts verriegelten sie die Türen, offenbar um zu verhindern, dass wir flohen, oder um uns vor möglichen Eindringlingen zu schützen.
Gelegentlich durften wir auch aussteigen, aber nur, um Trinkwasser oder Kohle für den Ofen zu holen. Waren wir durch den Ort durchgefahren, hielt der Zug wieder und die Türen wurden entriegelt. So blieben wir von der Außenwelt abgeschirmt. Das störte uns vor allem deshalb, weil wir gern gewusst hätten, wohin wir fuhren. Wir hatten das Gefühl, dass wir den Russen nicht trauen konnten. Wir fürchteten, sie würden uns gar nicht nach Deutschland, sondern vielleicht nach Sibirien bringen.
»Hoffentlich ist das die richtige Richtung«, sagte jemand.
»Das kriegen wir schon irgendwie raus«, erwiderte ich. Die Waggons hatten in jeder der vier Ecken kleine vergitterte Fensterlöcher mit einer verschiebbaren Klappe gleich unterhalb der Decke über dem Zwischendeck. Obwohl wir nicht auf das Zwischendeck steigen durften, nutzte ich jede Gelegenheit, wenn der Zug hielt, hinauszusehen, um herauszufinden, wo wir waren. Der Zug stoppte ziemlich oft auf freier Strecke, manchmal sogar stundenlang oder auch einen ganzen Tag. Der Grund dafür war meistens, dass man unsere Lok abkoppelte, weil sie für andere Züge gebraucht wurde. Wir mussten warten, bis eine neue kam. Bei dieser Gelegenheit durften wir auch nach draußen, um die Kackeimer, wie wir sie nannten, auszukippen; man konnte auch »ins Gebüsch« gehen.
Hin und wieder fuhr der Zug, nachdem er wieder fahrtüchtig war, in entgegengesetzter Richtung weiter. Dann wurden wir besonders misstrauisch. Einmal gelang es uns schließlich, auf einem Bahnhof ein original deutsches Schild zu lesen. Darauf stand »Preußisch Eylau«. »Das liegt westlich von Königsberg«, sagte der alte Mann, »wir sind also wirklich nach Deutschland unterwegs.« Da waren wir alle sehr beruhigt.
Doch unser Misstrauen wuchs jedes Mal, wenn der Zug wieder in Gegenrichtung fuhr. Wir nahmen offenbar nicht die direkte Strecke nach Westen, vielmehr fuhren wir in einem wirren Zickzackkurs, erst durch das inzwischen von Polen besetzte südliche Ostpreußen, dann durch andere Gegenden, von denen ich noch nicht gehört hatte. Im Ganzen dauerte die Fahrt vierzehn Tage. Auch die russischen Behörden hatten wohl jegliche Orientierung verloren und nicht mit einer so langen Reisedauer gerechnet, denn unser Brot begann knapp zu werden.
Die vielen Umleitungen hatten einen konkreten Grund. Es gab immer noch polnische Partisanengruppen oder antisowjetische Einheiten polnischer Patrioten. Diese nutzten jede Gelegenheit, russische Züge zu überfallen oder Gleise zu verminen. Deshalb hatten wir auch unsere Bewacher dabei. In mehreren Nächten kam es tatsächlich zu Überfallen. Wir wurden zumeist durch wilde Schießereien wach. Das MG ratterte, und die russischen Soldaten gingen mit ihren Maschinenpistolen im Anschlag gebückt an den Waggons entlang und gaben von Zeit zu Zeit auf Verdacht ein paar Feuerstöße aus ihrer aftomat ab, um mögliche Partisanen darunter aufzuspüren. Erst wenn niemand unter den Wagen oder auf den Puffern oder Dächern gefunden worden war, hörte die Schießerei wieder auf. Wir schoben die Türen auf, die Russen überprüften die Innenräume, und wir fuhren weiter.
Diese nächtlichen Zwischenfälle waren natürlich beängstigend, aber nach allem, was wir Kinder erlebt hatten, konnte uns nichts mehr so leicht aus der Ruhe bringen. Und wir hatten gelernt, blitzschnell zu handeln. Die Russen brauchten gar nicht erst zu schreien, dass wir uns auf den Boden der Waggons legen sollten, wir lagen bereits da, auch die Kleinen, die auf den Befehl der Älteren sofort reagierten. Dass wir danach die Türen aufschoben, nachdem wir die uns vertrauten russischen Stimmen hörten, war reine Neugierde, und wir fragten die Russen, was denn los gewesen wäre. Welche Antwort gaben die Russen? Alles gut, schlafen!