Die Ankunft

Nach einer uns endlos erscheinenden Fahrt hielt der Zug an einem Bahnhof in Mecklenburg, alle Türen wurden geöffnet, und es hieß: »Aussteigen, wir sind da.« Wir waren in einem Quarantänelager angekommen. Wie der Ort hieß, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Nach dem Aussteigen reckten und streckten wir uns, unsere Arme und Beine waren steif vom langen Sitzen. Wir waren froh, dass die Fahrt in dem engen Waggon endlich zu Ende war, und wir waren überglücklich, dass wir tatsächlich Deutschland erreicht hatten. Das merkten wir unmittelbar daran, dass wir sofort mit deutschen Krankenschwestern und Ärzten zu tun hatten. Wir hörten sie Deutsch sprechen, und das war sensationell für uns.

Wie sollte es mit uns weitergehen? Wir Kinder hatten nicht die geringste Vorstellung davon. Wir ließen alles, was passierte, wortlos über uns ergehen. Zuerst wurden wir in das Lager geführt und dort in einen Raum, in dem wir unsere Kleidungsstücke ausziehen und auf Drahtbügel hängen mussten. Diese Bügel kamen auf fahrbare Kleiderständer, die wir in einen Raum von der Größe einer Garage schoben. Es war ein blecherner Hitzeraum, in dem all die lieben Parasiten, die uns so lange und ausdauernd begleitet hatten, abgetötet wurden. Nachdem alles abgekühlt war, wurden die Ständer wieder nach draußen geschoben.

Wir selbst wurden in einem anderen Raum behandelt. Krankenpfleger bliesen uns aus großen Holzspritzen mit Unmengen DDT-Pulver voll, besonders zwischen den Beinen und unter den Achseln. Dann hieß es: »Augen zu!«, und auch unser kahler Kopf wurde gründlich eingestäubt.

Nachdem wir vom Ungeziefer befreit waren, durften wir zu unseren Baracken gehen. Am nächsten Tag wurden Blut, Urin und Stuhl auf Parasiten, Viren, Würmer und Bakterien untersucht. Es folgten zwei todlangweilige Wochen, in denen wir die Baracke nicht verlassen durften. Das war eine schrecklich lange Zeit, die unsere Geduld schwer auf die Probe stellte, nachdem wir gerade erst die endlose Zugfahrt hinter uns gebracht hatten. Die Tage wollten einfach nicht vergehen. Natürlich redeten wir viel über das, was uns erwartete, aber konnten uns nur wenig konkret vorstellen. Wir fragten uns, ob wir immer etwas zu essen bekommen und Verwandte wiederfinden würden und wie es wohl in Deutschland, von dem wir bislang so wenig erfahren hatten, aussähe.

In dieser Zeit betreuten uns die Krankenschwestern rührend. Sie redeten mit uns, machten uns Mut und spielten auch Spiele mit uns wie »Halma« oder »Mensch ärgere dich nicht«. Wie lange hatten wir so etwas nicht mehr erlebt. Überhaupt, das gesamte Personal ging mit uns sehr nett und rücksichtsvoll um. Als endlich die Quarantäne aufgehoben wurde und wir als seuchenfrei galten, durften wir schließlich nach draußen. Es hieß, dass wir weitertransportiert würden und zwar nach Erfurt in Thüringen. Wo das war und wie es dort war, konnten wir Kinder uns nicht vorstellen. Wir sahen uns gegenseitig fragend an. Immerhin, Erfurt war eine Stadt in Deutschland, und das allein war unendlich viel wert.

Vor unserer Weiterreise wurden wir in einen großen Backsteinbau, womöglich eine Kaserne, geführt, und dort für den Kindersuchdienst des Deutschen Roten Kreuzes fotografiert und gefilmt. Ich fand das großartig, denn wenn mein Vater noch lebte, würde er sicher mein Bild sehen. Jedes Kind musste eine Schultafel vor seine Brust halten, auf der seine persönlichen Daten und der Name der Person standen, von der es glaubte, sie sei noch am Leben. Auf vielen Tafeln stand nicht mehr als der Ort, an dem das Kind nach dem Krieg in Ostpreußen gefunden worden war. Manchmal stand auch gar nichts auf der Tafel oder nur das geschätzte Alter. Diese Filmsequenzen liefen wenig später in allen deutschen Kinos in der Wochenschau. Ich hoffte inständig, dass mein Vater sehr, sehr bald dort hingehen und mich sehen würde.

Am nächsten Tag gingen wir alle zu Fuß zum Bahnhof. Wir waren auf verschiedene Kinderheime in der sowjetischen Besatzungszone verteilt worden. Ich kam nach Bad Elgersburg im Thüringer Wald. Die anderen Kinder, die mit mir dahin gebracht wurden, kannte ich nicht. Schon wieder war ich allein und musste mich auf eine neue Umgebung einstellen. Aber ich war nicht mutlos, sondern dachte unentwegt an meinen Vater, voller Hoffnung, ihn bald wiederzusehen.

In Bad Elgersburg gab es ein Erholungsheim der Volkssolidarität, dem Wohlfahrtsverband der Ostzone, das in einer ehemaligen Villa eines Feuerzeug-Fabrikanten untergebracht war. Die Fabrik stand gleich gegenüber auf der anderen Straßenseite. Wir waren ungefähr dreißig Kinder. Bei unserer Ankunft machte das Heim einen seltsam leeren und unbewohnten Eindruck. Zum ersten Mal seit drei Jahren bekam ich ein richtiges Bett. Es stand in einem Zimmer, in dem noch drei andere Kinder untergebracht waren. Wir kamen gut miteinander aus. Wer keine Fairness besaß, hatte im russischen Lager keine Chance gehabt zu überleben.

Zu meiner großen Freude gab es dreimal am Tag etwas zu essen, ohne dass ich dafür arbeiten musste. Ich fühlte mich wie im Paradies. Es gab beispielsweise Béchamelkartoffeln, die ich noch nie vorher gegessen hatte, und ich fand dieses Wort urkomisch.

In dem Heim waren eine Heimleiterin und drei Betreuerinnen. Sie waren alle sehr jung und kümmerten sich in einer Weise um uns, wie wir es in den letzten Jahren nie erlebt hatten. Abends nach dem Essen saßen wir mit ihnen in einem Kreis zusammen und sangen zur Mandoline oder Gitarre Lieder wie »Hohe Nacht der klaren Sterne«, oder wir beschäftigten uns mit Spielen. Das war so ungewohnt, so schön, dass es einem ganz unwirklich vorkam. Wir genossen all diese normalen Dinge, die wir so lange entbehrt hatten, über die Maßen.

Obwohl ich mich in diesem Heim sehr wohl fühlte, wuchs in mir die Sehnsucht nach meinem Vater und meiner Familie. Mit den anderen Kindern redeten wir dauernd darüber, wann wir endlich unsere Verwandten wiedersehen würden. Wir erzählten uns gegenseitig, wer noch lebte, wer gestorben war, zu wem wir wohl bald kommen würden. Es war mittlerweile tiefer Winter, und draußen lag hoher Schnee. Fast jeden Tag zogen wir mit kleinen Schlitten die Straße hinauf, die am Heim vorbeiführte. Nach einer Stunde erreichten wir im Wald eine Rodelbahn. Wenn es dunkel wurde, fuhren wir mit den Schlitten vergnügt wieder die Straße bis zum Heim hinunter. Autos gab es nicht. Im Garten der Villa bauten wir Schneemänner. Wir waren endlich wieder richtige Kinder, unbeschwert, fröhlich, zu jedem Spaß bereit und geradezu wild darauf, uns mit den anderen zu amüsieren, und dennoch oft einsam.