Viele Jahre oder vielmehr Jahrzehnte habe ich nur selten oder kaum an meine Kindheitserlebnisse in Königsberg gedacht. Es war mir lieber, all diese Dinge nicht zu sehr an mich heranzulassen. Ich verdrängte alles, was mich an die schlimme Zeit hätte erinnern können. Dieses »Vergessen« setzte sehr bald nach den Ereignissen ein. Nachdem mein Vater mich im Erholungsheim abgeholt hatte, begann ein neues Leben. Auch wenn damals, so relativ kurz nach dem Krieg, die Zeiten in Deutschland noch recht schwer waren, in besonderer Weise auch für uns Flüchtlinge, so genoss ich doch ein Gefühl der Unbeschwertheit, wie ich es lange nicht mehr gekannt hatte. Vater hatte es mir ermöglicht. Mit seiner Hilfe kehrte ich zurück in die Kindheit und konnte mich weiterentwickeln. Er war stolz auf mich und freute sich über meine Fortschritte.
Großvater vermochte den Verlust seiner Heimat, seines Hauses und all der Dinge, die ihm wichtig und wertvoll gewesen waren, immer besser zu verkraften. Er blickte nach vorn und freute sich, seinen einzigen Enkel zu erleben und zu beobachten, wie es mit ihm weiterging.
Nach dem Abitur studierte ich Wirtschaftsingenieurwesen in Graz, Hamburg und Berlin. Das Studium verdiente ich mir als freier Mitarbeiter beim SFB-Fernsehen und als freier Dozent für Tonaufnahmetechnik an der damals gerade gegründeten Deutschen Film- und Fernsehakademie. Ich wurde dann Verkaufsdirektor und später Geschäftsführer einer Firma für professionelle Aufnahmegeräte der Tonstudiotechnik. In den letzten zwanzig Jahren meiner Berufstätigkeit betrieb ich ein eigenes Ingenieurbüro.
Nachdem ich mich zur Ruhe gesetzt, die Hektik des Berufslebens sich gelegt hatte, begann sich der dichte Vorhang, der sich nach meiner Heimkehr 1948 hinter mir und meinen furchtbaren Erlebnissen für fast sechzig Jahre gesenkt hatte, zu heben. Ich beschäftigte mich mehr mit den Ereignissen und lernte, sie näher an mich heranzulassen. Langsam zunächst, dann aber immer schneller, immer drängender, immer fordernder, fing ich an zu schreiben. Die Erinnerungen stürmten auf mich ein, die Fragen, die ich mir dann selbst stellte, häuften sich.
Wer war ich damals, 1944 und später? Ein kleiner, achtjähriger Junge, wenngleich in der Familie behütet, jedoch aufgewachsen in einer zutiefst militarisierten Umwelt, der seine Vaterstadt liebte, der allen Parolen der Regierung glaubte, der neugierig und technisch interessiert das Geschehen um sich herum verfolgte, dabei allmählich ahnte, dass sich ein großes Unheil auf ihn zuwälzte, und der deshalb in seiner Naivität gewillt war, das ihm Mögliche beizutragen, seine Vaterstadt gegen die Eindringlinge, die Russen, zu verteidigen und seine Mutter zu beschützen.
War es also unter den damaligen Umständen verständlich, unseren Soldaten zu helfen, wo immer es sich anbot? Ihre Waffen zu putzen? Ihnen die Dynamitstangen zu reichen, mit denen sie die Brücken über den Pregel zur Sprengung vorbereiteten? Artillerie-Munition mit dem Schlitten zu den Geschützen zu schleppen und die Zielkoordinaten des Artilleriebeobachters auf dem Kirchturm zu den Geschützen zu bringen? Keinen Unterschied zu machen – wie hätte ich überhaupt den Unterschied wissen können – zwischen den Einheiten der Wehrmacht und der kämpfenden Abteilung einer SS-Panzerdivision? Ich meine ja!
Heute weiß ich, dass vieles Propaganda, Indoktrination war, dass die edelsten Gefühle skrupellos missbraucht wurden. Aber damals erschien alles so logisch, so folgerichtig, so richtig. Auch im demokratischen Nachkriegsdeutschland wurde erst nach Jahren des Schweigens sehr zögerlich über die Vergangenheit, die Verbrechen, die Untaten gesprochen. Und nur ganz allmählich zeichnete sich die ganze Wahrheit ab.
Wie allen anderen Deutschen wurde mir mit den Jahren immer klarer, dass der Zweite Weltkrieg und die NS-Verbrechen unser Land für immer verändert hatten. Dies wurde vor allem mit der Teilung des Landes und dem Verlust der Ostgebiete, also meiner Heimat, deutlich. Nur allmählich und mühsam lernte ich, mich mit diesem Verlust abzufinden. In Berlin erlebte man alles intensiver, da man die Mauer vor Augen hatte, alliierte Truppen in der Stadt waren und man so nah an der Grenze lebte. Selbst wenn ich es gewollt hätte, Königsberg zu besuchen war in der Zeit des Kalten Krieges undenkbar. Die Stadt war russisch geworden, und es war sehr schwierig, wenn nicht unmöglich, ein Einreisevisum zu bekommen.
Je mehr Zeit verging, desto öfter fragte ich mich, was wohl aus meiner Heimatstadt geworden war. Erinnerungen an früher kamen mir immer häufiger in den Sinn. Gerne hätte ich Königsberg, das nun Kaliningrad hieß, wiedergesehen. Dann kamen die Ära Gorbatschow, der Zusammenbruch des Ostblocks, der Fall der Mauer. Noch ein paar Jahre länger dauerte es, bis sich auch das militärische Sperrgebiet Kaliningrad öffnete. Fünfzig Jahre nach Kriegsende, achtundvierzig Jahre, nachdem ich meine Vaterstadt verlassen hatte, wurde es endlich möglich, sie wieder zu besuchen – was ich schließlich auch tat. Mein vierundzwanzigjähriger Sohn Alexander begleitete mich. Ich hatte ihm im Laufe der Jahre von meinen Erlebnissen, meinen Abenteuern, meinem Glück im Unglück erzählt, und er war nicht nur begierig, die Schauplätze zu sehen, sondern wollte auch den Ort kennenlernen, aus dem seine Familie herkam und wo seine Wurzeln sind.
Im Oktober 1995 flogen wir in einer Aeroflot-Maschine von Berlin nach Kaliningrad. Selten im Leben war ich so aufgeregt wie auf diesem Flug, sehr gemischte Gefühle begleiteten mich. Ich fürchtete mich vor schlimmen Erinnerungen und starken Emotionen. Ich hatte zudem Zweifel, ob ich ein guter Reiseführer für meinen Sohn sein würde. Zugleich war ich nicht ohne Zuversicht, denn dieses Vorhaben war wichtig für uns beide, Vater und Sohn, und ich wollte, dass es uns gemeinsam gelang. Aber würde ich mich noch in meiner jetzt russisch gewordenen Vaterstadt zurechtfinden? Würde ich die Plätze wiederfinden, die einmal mein Leben bestimmt und meiner Großmutter, Mutter und meinem Bruder den Tod gebracht hatten? All dies beschäftigte mich, als sich die Iljuschin von Norden über die südliche Ostsee kurvend Königsberg näherte. Noch über dem Wasser durchstießen wir die Wolkenschicht unter uns und hatten auf einmal die Samlandküste mit ihrem breiten Sandstrand und die Kurische Nehrung mit dem Haff vor Augen.
War ich wieder zu Hause? Wohl kaum. Gleich nach der Landung holte uns die Realität ein. Das beim Hotel vorab bestellte Taxi war nicht da, ich musste wieder an das berühmte saftra, saftra denken: morgen, morgen oder überhaupt nicht. Mit Mühe und Not bekamen wir eines der wenigen Taxis, gegen einen Spitzenpreis, versteht sich. Es war ein Pkw sowjetischer Herkunft, der auf seinem Weg die Landstraße entlang schepperte, holperte und beim Bremsen zur Seite rutschte. Da es gerade vorher einen der kurzen, aber heftigen Regengüsse gegeben hatte, endete unsere Fahrt zunächst knapp vor der Stadtgrenze. Die Straße zum Flughafen hatten die Russen auf eine Überführung gelegt, die klugerweise in einer nicht entwässerbaren Senke endete. Darin stand das Wasser mehr als einen Meter hoch. Ein alter Kesselpumpwagen brauchte eine Stunde, bis die Straße wieder passierbar war. Derweil schauten alle zum Warten gezwungenen Autofahrer gleichmütig zu. Saftra, saftra!
Unser Hotel mit dem Namen »Hansa« war ein ehemaliges kleines Flusskreuzfahrtschiff eines österreichischen Reiseunternehmens, das auf dem Pregel ganz in der Nähe des Doms seinen festen Liegeplatz gefunden hatte. An der Hotelrezeption erhielt ich nur ausweichende Antworten, als ich nach meinem Taxi fragte. Dann aber bot sich ein älterer Mann an, ein – wie er sagte – pensionierter Marineoffizier namens Michail, uns für wenig Geld in deutscher Währung drei Tage lang dahin zu fahren, wo wir wollten. Er besaß ein uraltes Mercedes-Taxi vom Typ 180, das er, wie er stolz berichtete, auf einem Automarkt in Hannover-Langenhagen erstanden hatte. Das Motoröl habe er schon gewechselt, nach 350 000 Kilometern. Und da es ein deutsches Auto sei, könne ich als Deutscher ihm doch mit Sicherheit sagen, ob er das Öl des Automatikgetriebes ebenfalls wechseln solle. Solche Fragen an mich kamen mir seltsam bekannt vor.
Unseren ersten Tag nutzten wir, um die Stadt zu Fuß zu entdecken. Erstaunlicherweise fand ich mich noch gut zurecht, obwohl die Russen den Kriegsschutt der Stadt einfach planiert, Senken damit ausgefüllt und die Straßenführung zum Teil gravierend verändert hatten.
Als Erstes zog es mich in das Viertel, in dem wir in meiner Kindheit zunächst gewohnt hatten. Der Nordbahnhof stand noch, war jetzt aber ein Hotel für Seeleute geworden. Es verkehrten wieder Züge Richtung Küste. Die Bahnsteige sahen aus wie zu deutscher Zeit, waren allerdings in schlechtem Zustand.
Aus dem früheren großen Parkplatz vor dem Hauptgebäude war ein riesiger kahler Platz für Aufmärsche mit einem großen Lenin-Denkmal geworden. Im nahegelegenen Stadthaus war die sowjetische zivile Stadtverwaltung untergebracht. Damals waren dort deutsche Verwaltungen und Banken gewesen. Zu gerne hätte ich nachgesehen, ob der Paternoster noch fuhr, in dem wir als Jungen immer heimlich gefahren und ständig vom Pförtner verscheucht worden waren. Aber ich traute mich in das Gebäude nicht hinein.
Die stehengebliebenen Hallen der Ostmesse, die meisten ohne Dach, waren zum Basar geworden. Alte Mütterchen boten gebrauchte westdeutsche Plastiktüten und selbstgestrickte Socken an. Männer breiteten verrostetes Werkzeug auf dem matschigen Erdboden vor sich aus. Es war ein Anblick des Elends. So hatte auch der Schwarzmarkt zu meiner Zeit ausgesehen, ärmlich und überall dieser Schlamm. Viel hatte sich nicht geändert. Die Busse der Verkehrsbetriebe waren überfüllt, zumeist fuhren sie ohne Motorhauben wegen der besseren Kühlung. Die eigentlich selbstschließenden Türen standen während der Fahrt weit offen, aus dem Auspuff quoll dicker Qualm. Beim Anfahren erzitterten sie, als würden sie von Presslufthämmern angetrieben. »Vater, da hast du mir den Zustand Königsbergs aber ein bisschen anders geschildert, selbst nach den Bombardierungen«, sagte mein Sohn. »Da musst du durch«, erwiderte ich nur und meinte damit auch mich selbst.
Am nächsten Tag begannen unsere Rundfahrten mit Michail. Zunächst fuhren wir zum Preyler Weg. Ich konnte ihm genau sagen, wie man dahin kam. Von dem großen vierseitigen Wohnblock war nichts mehr zu sehen. An seiner Stelle stand eine Lastwagenfabrik, zu der auch das frühere Mercedes-Ausbesserungswerk gehörte, umgeben von meterhohen Mauern. Der kleine Rodelberg oberhalb meiner Volksschule war verschwunden, die Umgebung mit Schutt aufgefüllt. Allerdings stand die Schule noch, unversehrt, selbst der kleine Uhrturm auf dem Dach des Haupthauses war noch da. Nun war es eine russische Schule geworden.
»Hier ist dein Vater gerodelt, hier hat er unter deutschen Panzern gelegen und Anti-Minenkitt daruntergeschmiert, hier hat er das einzige Schuljahr in vier Jahren absolviert ... Und hier war mal ein schöner Park mit hohen alten Laubbäumen.« Jetzt waren alle abgeholzt und nichts war nachgepflanzt. Immer wieder berichtete ich meinem Sohn, wo ich was erlebt hatte, und er hörte interessiert und manchmal auch verwundert zu.
Nächste Station war das nördliche Oberteichufer, um das Gelände des Lagers zu besuchen, in dem ich zweieinhalb Jahre gelebt hatte. Auf dem Weg dorthin zeigte ich meinem Sohn das Krankenhaus, in dem Siegbert geboren und meine Mutter gestorben war und das ebenfalls noch stand. Ich führte ihn zur alten Schlossteichpromenade an der Hinterseite des großen Gebäudes und zeigte ihm das kleine, jetzt in scheußlichem Rosa gestrichene Gartenhaus, in dem damals alle Kinder, deren Mütter im Krankenhaus verstorben waren, gesammelt wurden, darunter auch ich. Am Oberteichufer war von den Lagergebäuden noch das Haupthaus übrig, in dem ich so verschiedene Tätigkeiten wie Messdiener und Elektriker ausgeübt hatte. Wie viele Kinder waren hier in der ersten Zeit gestorben! Dies alles kam mir wieder in den Sinn. Ich zeigte meinem Sohn das Fenster im Souterrain, durch das wir »vier Musketiere« nachts so oft zu Beutezügen bei den Russen aufgebrochen waren.
Das Haus war bewohnt. Allerdings hatte man das Hauptportal zugemauert und betrat es nun durch den Kellereingang. Misstrauisch folgten mir die Blicke der Bewohner, als ich mir alles genau ansah und mit dem Zustand von damals verglich. Aus den beiden Garagen, Sigismunds sowie Herrn Düsselbachs und meiner Werkstatt, war im Laufe der langen Zeit ein kleines Wohnhaus geworden. An der Stelle der Hauswirtschaftsschule und auf den Grundstücken daneben wurde gerade eine moderne Wohnanlage gebaut, die vom Aussehen her eher Festungscharakter hatte. Sie war von schweren Eisengittern umgeben. Riesige Scheinwerfer überall, Gitter an den Fenstern. Würden hier bald neureiche Russen einziehen, die sich vor Einbrechern schützen wollten?
Als nächstes besuchten wir den Quitzow Weg, an dem das zerbombte Haus meiner Großeltern gestanden hatte. Auch den Weg dorthin fand ich mühelos, sodass unser Fahrer schon ganz nervös wurde. »Wann warst du wirklich zuletzt hier?«, fragte er. »Du kennst die Stadt besser als ich! Bestimmt warst du schon öfter hier, und du sprichst unsere Sprache bestimmt noch besser, als du vorgibst.« Ich versicherte ihm, dass ich zuletzt als Kind in Königsberg gewesen sei, und er war sehr erstaunt. Ich weiß nicht, ob er mir glaubte, vielleicht hielt er mich auch für einen ehemaligen Spion.
Die Häuser im Quitzow Weg waren verschwunden. An ihrer Stelle stand etwas zurückgesetzt ein dreistöckiger Plattenbau. Die ehemals gepflegten Gärten glichen einer Wüste. Über der alten Asphaltstraße lag eine dicke Sandschicht. Und plötzlich war ich weit fort. Ich vergaß meinen Sohn, vergaß Michail, den Fahrer, war wieder der Junge von früher. Dort hatte ich 1943 Fahrradfahren gelernt. In den Sommerferien war meine vier Jahre ältere Cousine Brigitte wie immer für zwei Wochen zu unseren Großeltern gekommen; von mir schon ungeduldig erwartet, denn sie brachte ihr Fahrrad mit. Mutter saß mit den Großeltern im Garten, und ich hörte sie rufen: »Pass auf, verletz dir nicht das Knie! Nachher gibt es gezuckerte Erdbeeren aus dem Garten.« Großmutter meinte, ängstlich wie sie war: »Das ist alles viel zu früh für Bullerchen.«
Brigitte lief ein Stück hinter mir her und führte mich am Gepäckträger, bis ich ihr wackelnd davonfuhr. Auch den Wendekreis am Ende der Straße schaffte ich, aber als ich zu ihr zurückkam, musste ich abspringen; auf der schmalen Straße zu wenden, erschien mir unmöglich. »Du musst einfach um diesen Deckel herumfahren«, sagte sie und zeigte auf den Kanaldeckel, der genau vor unserem Garteneingang fast mitten auf der Straße lag. Als ich erneut zu ihr zurückkam, achtete ich auf den Deckel und umrundete ihn. »Du hast es geschafft«, rief meine Cousine begeistert und klatschte in die Hände. »Morgen machen wir weiter, jetzt gehen wir Erdbeeren essen.« Gehorsam folgte ich ihr.
Ich kehrte zurück in die Gegenwart. Da, wo ich stand, musste der Kanaldeckel sein. Wie in Trance begann ich den Sand fortzuscharren, während mich mein Sohn und Michail ziemlich entgeistert ansahen. Und da war er tatsächlich. Nur mühsam konnte ich meine Tränen unterdrücken, während ich den beiden erzählte, woran ich eben gedacht hatte. »Komm, Vater, wir fahren besser weiter«, meinte mein Sohn unsicher, und da lachte ich plötzlich. »Mein Geburtstags-Fahrrad liegt bestimmt noch unter dem Schutt, auf den die Russen diesen grässlichen Plattenbau gestellt haben.«
Am nächsten Tag fuhren wir zum Oberhaberberg, wo wir gemeinsam mit Großmutter Bertha unsere letzte Königsberger Wohnung gehabt hatten. Die Kirche, in deren Turm der Artilleriebeobachter gesessen hatte, war verschwunden. Jetzt stand ein Kino da. Wo das Haus gestanden hatte, von dem aus wir über die brennende Straße geflohen waren, klaffte eine Lücke, die als Parkplatz diente. So gelangten wir unmittelbar zur Hinterseite des großen Backsteinbaus, in dem Tante Christel gearbeitet hatte. Den Mauerdurchbruch, durch den wir damals in dieses Gebäude geflohen waren, hatte man zugemauert, die Treppenstufen zu dem ehemaligen Durchbruch standen ziemlich nutzlos an ihrer alten Stelle.
Durch den Torbogen vom Oberhaberberg aus ging ich mit meinem Sohn auf den dahinterliegenden Hof. Ich wollte ihm den Ort zeigen, an dem wir nach der Begegnung mit den ersten Russen durch den mit Glut gefüllten Durchgang getrieben worden waren, und wir maßen seine Länge aus, fünfzehn Meter!
Mehr konnte ich an diesem Tag nicht besichtigen. Die Reise kostete Kraft. So machten wir uns erst am nächsten Tag nach Pobethen auf. Dort fand ich unsere Lagergebäude sofort, wenn auch in recht verfallenem Zustand. Die alte ausgebrannte Kirche stand zwar noch, doch der schöne Eichenhain, der sie umgeben hatte, war abgeholzt, die Grube, in der wir Sauerkraut getreten hatten, war eine Schrottdeponie, das Saunagebäude war vermutlich zu Brennholz verarbeitet worden. Der Rest des Dorfes war verfallen, an die zweihundert Häuser in schlimmem Zustand. Wo es früher Felder gegeben hatte, war jetzt Ödland. In ein paar halbverfallenen Katen hausten Menschen, hie und da stand in einem verunkrauteten Vorgarten eine Kuh. Auch dort überall ein Anblick des Elends. Michail fuhr nicht allzu gern durch diese Gegend. Es war ihm peinlich, dass alles so verwahrlost aussah.
Ich zeigte meinem Sohn auch Cranz und Rauschen, die Ostseebäder, in denen ich als Kind oft gewesen war. Dort gab es noch das alte Granitsteinpflaster, und die einzige Tankstelle aus deutschen Tagen mit der Schwengelpumpe funktionierte noch. Am Strand standen Russen mit Keschern in der Brandung und fischten nach Bernstein. Auch dort herrschte eine Atmosphäre der Trostlosigkeit. Alles war vollkommen geschmacklos in abblätternden blässlich-blauen Farben gestrichen. Von dem früheren Ambiente war nichts mehr zu spüren.
Ich bat Michail, uns zum Hotel zu bringen. Er fuhr einen großen Umweg an der Küste entlang, zunächst in westlicher und dann in südlicher Richtung. Dabei kamen wir dicht an das Bernsteingebiet Palmnicken heran, das auch in meiner Kindheit schon von Bedeutung gewesen war. Ganz hineinfahren wollte er nicht; es sei strikt verboten, dieses Sperrgebiet zu betreten, sagte er. Auch einen Marinestützpunkt passierten wir, an dem eine ganze Reihe mittelgroßer Marineschiffe im Wasser vor sich hin rottete, von einem dicken Ölfilm umgeben. Die große Rote Baltische Flotte – welch deprimierender Anblick.
Als wir wieder in die Stadt kamen, fühlte ich mich besser. Der Königsberger Dom und das Grabmal von Immanuel Kant brachten mich auf andere Gedanken. Man hatte gerade begonnen, den Dom mit deutschen Spendengeldern wiederaufzubauen. Mein Sohn und ich saßen zu Füßen des Gebäudes und sahen den beiden Bauarbeitern zu, die kleine Mengen Baumaterial mit einem Seil per Hand nach oben zogen, wie im Mittelalter. Wir hingen unseren Gedanken nach. Dann gingen wir zur Hinterseite des Doms, wo das Grabmal Immanuel Kants steht. Ein junges russisches Hochzeitspaar nach dem anderen ließ sich dort fotografieren, trank mit seinen Gästen ein Glas Sekt und prostete Kant zu. Dort begann ihr neues Leben, ihr neues Glück – kein schlechter Ort.
Als wir abends in unseren Betten in der winzigen Schiffskabine lagen, die Fenster weitgeöffnet, konnten wir, aufgewühlt wie wir waren, lange nicht einschlafen. Alexander stellte mir Fragen über Fragen; ich beantwortete sie, so gut ich konnte.
»Wo war die Stelle, an der du deine Mutter so blamiert hast?«, fragte er und wollte mich an ein lustiges Ereignis erinnern.
»Das war hier ganz in der Nähe, ungefähr dort, wo wir vorhin in diesem Containerbasar neben dem nie fertiggewordenen Betonklotz, dem Monument des Größenwahns der Kommunistischen Partei, Rubel getauscht haben.« Und wieder fing ich an, von damals zu erzählen. Mutter war mit mir in der Straßenbahn gefahren, ich muss noch recht klein gewesen sein. Wir hatten uns unterhalten, und plötzlich hatte ich laut und mit gutvernehmbarer Stimme behauptet – und ich war davon nicht abzubringen gewesen –, dass ich mich noch ganz genau an Mutters Hochzeit erinnern könne. Die Leute grinsten, Mutter wurde puterrot und verließ mit mir an der nächsten Haltestelle am Kaiser-Wilhelm-Platz unterhalb des Schlosses fluchtartig die Bahn. Es war die Hochzeit von Freunden gewesen, und Mutter war zu diesem Anlass festlich gekleidet. Sie war mir so schön erschienen, dass nur sie die Braut sein konnte. Nach dieser heiteren Erinnerung schliefen wir endlich ein.
Für den letzten Tag hatten wir einen Ausflug auf die Kurische Nehrung geplant, an Rossitten, der alten deutschen Vogelwarte, vorbei bis zur russisch-litauischen Grenze. Ich hatte schon bei »Inturist« dafür gezahlt, aber die russische Bürokratie gewährte uns keinen Zugang. So fuhren wir enttäuscht von Cranz nach Königsberg zurück. Wir liefen noch einmal zum Dom; die Nachmittagssonne ließ seine Vorderfront glühendrot erstrahlen, und der immer noch so vertraute blaue ostpreußische Himmel mit seinem schneeweißen Wolkenkranz über der See schaute wie seit Jahrhunderten auf dieses Bauwerk. So wollte ich es in Erinnerung behalten.
Gegen Abend ging unser Rückflug nach Berlin. Die Reise, die ich mit so vielen Befürchtungen und Emotionen begonnen hatte, endete in tiefer Ernüchterung. Königsberg, so zerstört es auch am Kriegsende gewesen war, war damals noch meine Stadt gewesen. Jetzt gab es sie nicht mehr. Es würde sie niemals mehr geben.