Kapitel 7
Der geplatzte Traum
Am nächsten Morgen verließ Mara pünktlich Chris‘ Wohnung und machte sich auf den Weg nach Hause. Wenige Meter vor der Haustür klingelte jedoch ihr Handy. Überrascht nahm Mara es aus ihrer Hosentasche. Es wurde eine ihr unbekannte Nummer angezeigt.
„Ja, bitte?“, meldete sie sich freundlich, zog jedoch skeptisch eine Augenbraue in die Höhe.
„Steiner hier!“, antwortete die ihr vertraute Stimme etwas angespannt.
Überrascht blieb Mara stehen, obwohl sie die Hand schon fast an der Türklinke hatte.
Ihr Herz schlug schneller und die wildesten Gedanken rasten durch ihren Kopf. Ich werde sicherlich wieder gefeuert, dachte sie traurig, während sie versuchte, ihre Stimme freundlich und heiter klingen zu lassen.
„Es tut mir leid, dass ich mich jetzt schon bei Ihnen melde. Um Sie zu beruhigen, das Jobangebot besteht weiterhin, und ich freue mich schon auf unseren Termin in wenigen Tagen, um alle Formalitäten zu klären“, teilte Maras zukünftige Chefin ihr beruhigend mit, verlor jedoch den angespannten Ton in ihrer Stimme nicht.
„Das freut mich sehr! Aber wie kann ich Ihnen helfen?“, erkundigte sie sich weiter und ihr Herz schlug wild, denn sie hatte die Befürchtung, dass sich die Chefin nicht nur meldete, um zu fragen, wie es ihr gehe.
„Ich hoffe, es ist in Ordnung, wenn ich sofort zur Sache komme? - Unsere Marketing-Fachkraft in England ist kurzfristig ausgefallen. Sie sollte dort zusammen mit der britischen Außenstelle ein Konzept erarbeiten, das einen ziemlich großen Einfluss haben wird. Wäre es möglich für Sie, diesen Auftrag zu übernehmen?“, fragte Frau Steiner mit kühler Stimme.
Maras Herz machte einen Sprung. Ihre Befürchtung war also nichtig und schon machte sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht breit. Sie wollte schon immer einmal im Ausland arbeiten und England begeisterte sie ohnehin seit Jahren.
„Aber natürlich!“, stieß sie mühsam beherrscht hervor und räusperte sich, um ihre Stimme wieder unter Kontrolle zu bekommen. Am anderen Ende der Leitung hörte sie Frau Steiner erleichtert aufatmen.
,,Prima!“, erwiderte sie am anderen Ende der Leitung.
„Es gibt nur einen kleinen Haken an der Sache …“, ergänzte sie vorsichtig und Maras Lächeln fror ein.
„Und der wäre?“, fragte Mara leise und rechnete mit dem schlimmsten.
„Die Reise wäre bereits nächste Woche fällig, das heißt im Klartext: Vom 19. Dezember bis 18. Juni…“, brachte Frau Steiner hervor und Maras Lächeln verschwand augenblicklich. Sie schluckte schwer und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. So sehr sie sich darauf freute, ins Ausland zu fahren, so fest hatte sie schon geplant, mit Chris das Weihnachtsfest zu verbringen. Dass sie somit über Weihnachten und Silvester weg wäre, brach Mara fast das Herz.
„Ich würde darüber gerne noch nachdenken und Ihnen meine endgültige Antwort mitteilen, wenn wir die Formalitäten besprechen!“, erwiderte Mara leise und war uneinig, für was sie sich entscheiden sollte.
„Natürlich, kein Problem!“, antwortete Frau Steiner und Mara atmete erleichtert durch.
„Ich müsste wohl nur noch eine Kleinigkeit hinzufügen: Die Kollegin, die wegen gesundheitlicher Probleme nicht verreisen darf, besetzt eigentlich die Stelle, die durch die Reise frei werden sollte. Falls Sie also die Reise nicht antreten wollen, was vollkommen nachvollziehbar wäre, kann ich Ihnen leider keinen Job mehr bei uns anbieten, auch wenn ich das sehr bedauern würde…“, fügte sie zögerlich hinzu und Mara hörte in ihrer Stimme, dass sie ehrliches Bedauern ausdrückte.
„Ich … verstehe“, stammelte Mara, so höflich sie konnte, obwohl sie innerlich wie gelähmt war. Hin und hergerissen zwischen Chris und ihrem Job, verabschiedete sie sich von Frau Steiner und legte schnell auf.
Die Haustür fiel laut hinter ihr ins Schloss. Gedankenverloren ging sie in ihr Zimmer und legte sich aufs Bett. Innerlich schrieb sie eine Pro- Contra-Liste für und gegen das Jobangebot, schaffte es aber nicht, die rationalen Gründe den Emotionalen gleichzustellen.
Auch wenn eine sichere Zukunft, die Chance auf eine eigene Wohnung, Geld und Sicherheit auf sie warteten, so schaffte sie es nicht, zu vergessen, dass sie in Chris jemanden gefunden hatte, den sie mehr liebte als alles andere. Jemanden, den sie, so oft es ging, sehen wollte und bei dem sie Sehnsucht verspürte, sobald sie aus seiner Wohnung trat. Die Vorstellung, mit ihm zusammen Weihnachten und Silvester, vielleicht sogar ihr ganzes Leben zu verbringen, war zu verlockend und kämpfte gegen die rationalen Gründe an.
Es zerriss sie innerlich, doch sie wusste keinen Ausweg, fühlte sich unfähig, zu entscheiden. Sie hatte die Wahl zwischen einem Job und ihrer wahren Liebe und sie wusste, dass, egal für was sie sich entscheiden würde, sie verletzt werden würde. Nun galt es jedoch abzuwägen, was sie mehr verletzen würde.
Mara lag bereits seit mehreren Stunden reglos auf ihrem Bett, als ihre Oma vorsichtig an die Tür klopfte.
Unheilahnend kam sie ins Zimmer und blieb vor dem Bett stehen. Überrascht schreckte Mara hoch, lächelte jedoch.
„Ich wollte dich zu deinem neuen Job beglückwünschen!“, brachte Charlotte hervor und strahlte übers ganze Gesicht.
Shit, in meiner grenzenlosen Freude habe ich Oma ja gestern geschrieben, dass ich den Job habe !, dachte Mara resigniert.
Obwohl sie im Inneren die Nachricht bereute, bedankte sie sich lächelnd bei Charlotte und die Bemerkung darüber, dass sie dann bald eine eigene Wohnung anmieten könnte, nahm sie kopfnickend hin.
Geduldig wartete sie, bis ihre Oma das Zimmer verlassen hatte und nahm dann seufzend ihr Handy hervor. Chris hatte sie vorerst nichts von dem Telefonat erzählt, damit er sich nicht für die Entscheidung die Schuld gab oder dachte, dass er etwas gesagt haben könnte, was sie beeinflusst hätte. Auch wenn er sicherlich gesagt hätte, dass sie den Job annehmen sollte und dass er sie ganz sicher besuchen würde, konnte sie sich nicht dazu durchringen.
Traurig und beschämt über ihre emotionale Entscheidung wählte sie die Nummer, die sie wenige Stunden zuvor angerufen hatte und erklärte Frau Steiner, dass sie den Job leider absagen müsse.
Diese schien ihre Entscheidung zu verstehen, war jedoch selbst sichtlich bestürzt, wünschte ihr aber viel Erfolg bei der weiteren Jobsuche.
Als sie auflegte, sank Mara weinend auf dem Bett zusammen, sich dessen bewusst, dass sie die Chance auf Unabhängigkeit ihrer großen Liebe geopfert hatte.
Obwohl sie davon überzeugt war, dass es die richtige Entscheidung war, konnte sie trotzdem die Tränen nicht zurückhalten. „Warum muss immer ausgerechnet mir so ein Mist passieren?“, schrie Mara frustriert unter Tränen und klammerte sich schluchzend an ihr Kissen.
Allmählich zwang sie sich, ruhiger zu atmen und sich auf das Positive zu fokussieren. Sie dachte an Chris, wie sie an Weihnachten Geschenke austauschen würden, wie sie vielleicht zusammen Essen gehen würden und dachte an einen Kuss während des Feuerwerks an Silvester. Langsam schaffte sie es, zu lächeln und spürte die Wärme, die ihren Körper durchflutete, als sie daran dachte, Chris zu küssen und in seinem Arm zu liegen.
Da Chris in den nächsten Tagen bei seiner Mutter in Bayern war, sahen sie sich für einige Tage nicht, hielten aber über WhatsApp Kontakt. Sie schrieben sich fast stündlich und obwohl Chris Mara fragte, ob sie bereits den Arbeitsvertrag unterschrieben hat, brachte sie es nicht über sich, ihm die schlechte Nachricht über das Smartphone mitzuteilen. Und so wollte sie warten, bis er wieder in Berlin war und sie es ihm erzählen konnte.
Charlotte war auf einmal so freundlich zu Mara wie lange nicht mehr. Sie wirkte erleichtert und sprach mit ihr wieder normal, ab und an machte sie sogar einen Spaß oder erzählte ihr eine witzige Geschichte. Auch wenn Mara wusste, dass dies daher rührte, dass sie einen Job hatte, genoss sie die Zeit mit ihrer Oma. Sie erinnerte sich an damals, als sie als Kind bei ihr aufgenommen wurde und sie sich gegenseitig die Trauer nahmen. Es stellte damals wie heute eine angenehme Abwechslung zu der täglichen Trauer da und gab Mara das Gefühl, nicht alleine zu sein. So schaffte es Charlotte unbewusst, Mara über den verlorenen Job hinwegzuhelfen.
„Sag mal, schläfst du?“, fragte Charlotte am übernächsten Morgen und riss Mara aus ihren Gedanken, die träumend am Frühstückstisch saß und ihr Brötchen mit Marmelade aß.
„Wie bitte, was sagtest du?“, fragte sie verschlafen und zog müde eine Augenbraue in die Höhe.
„Ich komme gerade von einem Frühstück mit Renate“, berichtete die Oma und Mara wartete vergeblich auf eine weiterführende Ergänzung, ehe sie einsah, dass Charlotte auf eine Frage wartete.
„Ja und?“, antwortete Mara und schaute fragend zu Rudolf, der neben ihr am Tisch saß und sie ebenfalls fragend ansah. Dunkle Falten durchzogen sein Gesicht und die Augen wirkten müde, was verständlich war angesichts der Tatsache, dass er gerne ausschlief und es für seine Verhältnisse noch früh war.
„Es war ein aufschlussreiches Zusammensein!“, brachte Charlotte hervor, doch Mara verstand ihre kryptische Sprache nicht. Die Gesichtszüge ihrer Oma verhärteten sich und zeigten tiefe Trauer, was Mara nicht einordnen konnte. In der letzten Zeit schien ihre Großmutter fröhlich und glücklich gewesen zu sein, doch war diese Stimmung nur temporär?
„Inwiefern denn? - Muss ich dir nun alles aus der Nase ziehen?“, lachte Mara unsicher und legte ihr Brötchen aus der Hand, gespannt, was Charlotte ihr mitteilen würde.
„Renates Tochter arbeitet zufälligerweise auch in der Firma, in der du eigentlich auch arbeiten solltest…“, fing sie ruhiger an, als Mara gedacht hatte.
Mist, dachte Mara und überlegte fieberhaft nach einer passenden Ausrede, weshalb sie noch nicht auf der Arbeit erschienen war.
„Wenn du darauf anspielst, dass ich noch nicht dort war… Es gab Komplikationen mit dem Vertrag. Irgendeine Fußnote war falsch und jetzt muss das erst notariell noch abgeklärt werden“, wand Mara sich heraus und kicherte nervös, während sie auf eine Reaktion ihrer Oma wartete.
„Tatsächlich? - Aber gut zu wissen! Dann warst du also nicht diejenige, die einen Auftrag im Ausland abgelehnt und somit den Job verloren hat?“
Maras Atem stockte und sie musste schlucken, als der ärgerliche Blick ihrer Oma sie traf. Sie kam auf keine Ausrede und wusste nicht, wie sie sich herauswinden konnte. Sie wusste weder, wie sie den Ärger von Charlotte verpuffen lassen konnte, noch, wie sie ohne einen Streit zu provozieren antworten konnte. Und so ließ sie ihren Kopf hängen und nickte ihrer Oma nur zu, die Lippen zusammengepresst.
„Es tut mir leid, dass ich es dir nicht erzählt habe, aber du wirktest so glücklich…“, sagte Mara und hoffte auf Verständnis. Doch ganz im Gegenteil, Charlottes Kopf wurde rot und ihr Atem flach, als könnte sie sich kaum mehr zusammenreißen.
„Natürlich war ich glücklich! Du hattest einen Job! Dein Leben hätte endlich wieder vorwärts kommen können! Was war überhaupt der Grund, abzusagen? Bitte sag jetzt nicht, dass es an diesem Chris liegt, den du kaum kennst!“, brachte Charlotte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Doch, es liegt an ihm! Ich konnte es einfach nicht übers Herz bringen, ein halbes Jahr von ihm getrennt zu sein, jetzt, wo wir uns gerade gefunden haben …“, hauchte Mara und spürte, wie sie rot wurde. Sie schämte sich, so etwas vor ihrer Oma zuzugeben und rechnete bereits mit der nächsten Beschuldigung.
„Warum bist du nur immer so egoistisch? Wie naiv bist du eigentlich, dass du glaubst, Liebe sei wichtiger als Stabilität, wichtiger als finanzielle Sicherheit? Wie kannst du mich nur so enttäuschen?“, prustete Charlotte und auch Rudolf schreckte bei den Worten auf, mischte sich jedoch nicht ein und vertiefte sich wieder in sein Müsli.
„Ich musste schließlich eine Wahl treffen und ich habe die für mich richtige getroffen“, brachte Mara aufgebracht hervor und spürte die Verletzung, die Charlottes Worte angerichtet hatten.
„Die Richtige? Merkst du nicht selbst, dass dein Leben eine einzige Katastrophe ist?“, schrie sie und stützte sich heftig am Tisch ab, während sie Mara böse anfunkelte.
„Wenn du es so sehen magst …? Aber es ist zum Glück MEINE Katastrophe“, stellte Mara richtig und lachte bitter.
„Genau das ist ja das Problem! Du denkst, du kannst dein Leben vergeuden und eine Schande daraus machen, vergisst aber dabei, dass du damit zu einer Schande für deine Eltern wirst!“, schrie die ältere Dame und schrie sich all den Frust aus der Kehle, der sich bei ihr anscheinend angestaut hatte.
„Aber vielleicht ist es nur gut, dass deine Eltern es nicht miterleben müssen, wie du dein eigenes und das Leben deiner Nächsten zerstörst!“, ergänzte sie boshaft und merkte erst im letzten Moment, was sie gesagt hatte. Doch es war zu spät und so traf die Äußerung Mara mit voller Wucht. Eine einsame Träne rollte ihr die Wange herunter und verlief sich in ihrem Pullover. Getroffen zog sie die Nase hoch und räusperte sich. Auch wenn Charlottes Gesicht seine Boshaftigkeit verlor und einen Anflug von Reue zeigte, konnte Mara sich nicht mehr beherrschen.
„Alles klar! Dann haue ich lieber endgültig ab, bevor ich eure Leben durch meine Anwesenheit noch komplett zerstöre , wie du es nennst!“, sagte Mara energisch, schob ihren Stuhl zur Seite und marschierte in ihr Zimmer hinauf, wo sie unter Tränen ihre Reisetasche mit den wichtigsten Dingen packte.
Charlotte saß niedergeschlagen am Tisch, als Mara wenig später die Haustür hinter sich zuschlug und in den kalten Morgen hinaustrat.