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Die Skrutinatoren kamen zu einem Ergebnis.
Ryk kämpfte ein wenig mit dieser Funktionsbeschreibung. Er kam zu dem Schluss, dass die Gruppe von Männern und Frauen, zu denen auch Cenn gehörte, im Grunde am besten als Problembetrachter bezeichnet werden konnte. Es wurde rasch klar, dass das Dorf über keine politische Führung im engeren Sinn verfügte. Es gab wohl diverse kollektive Dienstverpflichtungen, bei denen im Regelfall ausreichender sozialer Druck zu genügen schien, um die Leute zur Teilnahme zu motivieren, und es gab die Problembetrachter, denen quasi per Amt die Autorität übertragen worden war, Probleme zu betrachten und Lösungen zu erarbeiten. Da diese Gruppe von ehrwürdigen Hinguckern aber nicht über eine eigene Exekutive verfügte, war sie auf die Tag- oder die Nachtwache angewiesen, sich der Sache anzunehmen. Wenn Ryk das richtig verstand, waren diese dazu oft geneigt, aber keinesfalls verpflichtet.
Ein Stadtherr von Metropole 7 würde angesichts dieser Regierungsstruktur entweder schreiend davonrennen oder sogleich die Macht zu ergreifen suchen. Warum das bisher hier offenbar noch keiner erfolgreich getan hatte, vermochte Ryk nicht zu sagen. Er fragte aber auch nicht danach.
Es war mittlerweile durchgesickert, dass die vier Besucher zumindest aktuell wenig Interesse daran zeigten, sich der Gemeinschaft des Dorfes anzuschließen, sondern stattdessen zu den Menschen in Kryv aufzubrechen gedachten. Nun war die Feindschaft zwischen den beiden Siedlungen eher eine passive, die sich vor allem darin ausdrückte, sich gegenseitig aus dem Weg zu gehen und despektierlich übereinander zu sprechen, dennoch war es eben eine Feindschaft, zumindest im Sinne eines gegensätzlichen Lebensentwurfes. Und obgleich Uruhard hatte glaubhaft machen können, nicht »so ein« Apostel zu sein, blieb doch ein bitterer Nachgeschmack. Die Aussicht darauf, dass die vier bald wieder aufbrechen und ihrer Wege gehen würden, erleichterte die Urteilsfindung der Hingucker daher ganz erheblich.
»Wir werden euch helfen, den Weg nach Kryv zu finden, wenn dies euer Ansinnen ist«, erklärte Cenn mit würdevoller Stimme, deutlich kräftiger als noch bei ihrer ersten Begegnung. »Wir sind mit diesem Vorhaben nicht einverstanden, warnen sogar davor, werden euch aber nicht davon abhalten. Dalia wird euch ein Stück des Weges begleiten, dann aber steht euch der weite und beschwerliche Aufstieg ins Gebirge bevor. Sie hat Anweisung, euch vorher zu verlassen. Wir wollen sie nicht unnötig in Gefahr bringen. Rechnet mit einer Reise von mehreren Tagen.«
Ryk hatte dazu seine eigenen Vorstellungen, mit denen er aber jetzt noch niemanden beunruhigen wollte. Er schloss sich dem stummen Kopfnicken seiner Weggefährten an.
»Darüber hinaus werden wir gerne weitere Fragen beantworten«, fuhr Cenn fort, »und euch Obdach gewähren, bis ihr wieder aufbrecht, aber nicht länger als für zehn Tage. Danach solltet ihr so weit sein. Wenn ihr die Reise überlebt und zurückkehren solltet, wird erneut über euer Schicksal entschieden. Es dürfte davon abhängen, was ihr für Neuigkeiten mitbringt. Vielleicht seid ihr dann ja vornehmlich daran interessiert, die Welt zu retten. Eure Welt.«
Cenn breitete die Arme aus. »Diese hier bedarf keiner Rettung. Wir sind zufrieden. Wir leben sicher. Uns tut keiner was, wenn wir auf uns aufpassen. Was auch immer ihr vorhabt, führt es aus, aber lasst uns damit in Frieden.«
Das war gewiss der wichtigste Teil der Botschaft. Ob man diese Aufforderung aber auch würde umsetzen können, war ungewiss. Manchmal entwickelten sich die Dinge unvorhergesehen, das hatten sie die Ereignisse in der Heptarchie gelehrt. Die vier nickten, ohne es weiter zu kommentieren. Die Absichten der Dorfgemeinschaft waren deutlich formuliert und obgleich sich zahlreiche weitere Zuhörer eingefunden hatten, fand sich niemand, der Widerspruch erhob. Bestimmt wurden die Problembetrachter vor allem deswegen ausgewählt, weil sie eine Tendenz hatten, die Stimmung des Dorfes vorherzusehen und dann eine entsprechende Entscheidung zu fällen. Was geschah wohl, wenn einmal keine Übereinstimmung herrschte, ein Problem aber trotzdem einer dringenden Lösung bedurfte? Ryk konnte es sich nicht recht ausmalen. Wenn die Gemeinschaft mit diesem System aber überlebt hatte, bedeutete das gleichzeitig, dass sie in der Tat ein vergleichsweise sicheres und ruhiges Leben führte, das auch durch eine ernsthafte Meinungsverschiedenheit oder einen Mangel an Konsens nicht aus dem Gleichgewicht gebracht worden war.
So erschien zumindest die Aufforderung zum Schluss nachvollziehbar. Die vier Besucher waren jetzt vor allem eine potenzielle Störung. Sie verdienten Gastfreundschaft und es gab Neugierde, das stärkste Bedürfnis aber war die Sehnsucht danach, in Ruhe gelassen zu werden.
Sie richteten sich darauf ein.
Einige Stunden verbrachten sie damit, sich zu überlegen, wie sie möglichst rasch nach Kryv kamen. Nach einer etwas fruchtlosen Diskussion brachte Ryk seine Idee vor: »Ich denke, es gibt einen schnelleren Weg dorthin, vor allem durch das Gebirge – und einen, der am Ende weniger gefährlich sein dürfte.«
»Ich ahne bereits, worauf du hinauswillst«, erwiderte Sia. »Ich habe dich genau beobachtet.«
»War mir klar«, sagte Ryk grinsend. »Wir benutzen den Muskelzug. Wir springen!«
Er schaute hocherfreut in die Runde. Von der Hybriden erntete er immerhin ein verständnisvolles, eher nachsichtiges Lächeln. Uruhard und Momo, in unterschiedlichen Abstufungen, wirkten eher entsetzt.
»Ich bin alt und gewiss nicht mehr sehr gelenkig«, wandte Uruhard ein. »Soweit ich die Fortbewegungsprinzipien der Springer kenne, hat das eine Menge mit einem guten Gleichgewichtssinn, einem Haken und exaktem Reaktionsvermögen zu tun. Ich verfüge über nichts dergleichen.«
»Ich bin zu dick«, war Momos Antwort, die er durch ein betontes Kopfschütteln bekräftigte.
»Ihr seid zu bescheiden«, sagte Ryk. »Aber ich bin kein Volltrottel. Natürlich erwarte ich nicht, dass ihr wie ich auf einen Triebwurm springt. Ich werde etwas tun, was wir auf Terra nur sehr selten gemacht haben, weil dafür schlicht nicht die Notwendigkeit bestand: Ich werde einen Muskelzug zum Stillstand bringen und ihr werdet ganz normal einsteigen. Und wenn wir angekommen sind, läuft es exakt genauso. Kein Springen, kein Haken, keine schnellen Reaktionen. Wir müssen nur abgestimmt und gezielt handeln. Ich werde die Stationen ankündigen und zwischendurch Snacks servieren.« Er machte ein betont nachdenkliches Gesicht. »Gut, über Letzteres müssen wir nochmal reden. Einer muss das Großmaul im Blick halten.«
»Du meinst wirklich, dass das klappen kann?«, fragte Sia.
»Wenn sich die Muskelzüge hier nicht wesentlich von denen auf der Erde unterscheiden, sehe ich keinen Grund, warum es misslingen sollte. Ich werde Dalia dazu befragen, vielleicht weiß sie doch mehr, als sie bisher preisgegeben hat. Aber ich bin ganz zuversichtlich. Was ich benötige, ist ein Haken, aber ich glaube, die Bewohner des Dorfes können mir dabei helfen. Ich werde etwas aus der Notausrüstung dagegen eintauschen.«
»Es würde unsere Reisezeit deutlich verkürzen«, murmelte Uruhard. »Wenn der Triebwurm nahe genug an Kryv vorbeifährt.«
»Nach allem, was wir wissen und was uns bisher erzählt wurde, ist das so«, bekräftigte Ryk seinen Plan.
»Dann rede mit Dalia und wenn du dir sicher bist, versuchen wir es.« Sia hatte das letzte Wort, nachdem von Momo nicht mehr als ein abschließendes Schulterzucken gekommen war. »Wir haben mittlerweile die verrücktesten Dinge mitgemacht, da ist eine Fahrt auf einem Triebwurm beinahe harmlos.«
Es ergab sich rasch eine Gelegenheit, mit der Frau aus dem Dorf über seinen Plan zu reden. Sie hörte seinen Absichten mit geweiteten Augen zu, doch anstatt echtes Entsetzen oder Zweifel zu zeigen, verriet ihre Reaktion eher eine wachsende Begeisterung. Als er ihr im Detail seine Erfahrungen als Springer geschildert hatte, war sie kaum noch zu bremsen. »Das ist wunderbar! So etwas haben wir nie getan!«, stieß sie hervor. »Was genau benötigst du?«
Ryk beschrieb den Haken und versuchte, ihr klarzumachen, welche Kräfte er aushalten musste, um ihm dienlich zu sein.
Dalia nickte eifrig. »Das ist kein Problem. Wir bearbeiten Metallreste, die wir in den toten Hives vorfinden. Wir haben Schmiede. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir exakt das herstellen können, was du benötigst. Ich werde dafür sorgen, dass du deinen Haken bekommst, aber …«
Natürlich, dachte Ryk und zeigte ein tapferes Gesicht. Alles hatte seinen Preis.
»Es hat seinen Preis«, vollendete Dalia den Satz. Ryks Menschenkenntnis hatte ihn nicht getrogen.
»Worin besteht er? Ich kann etwas zum Tausch aus unserer Ausrüstung anbieten.«
»Gut, ja. Der Schmied wird etwas für seine Arbeit verlangen und ich bin mir sicher, du wirst mit ihm handelseinig. Aber ich rede von mir. Ich werde mich für deinen Plan einsetzen. Dann geht alles leichter. Aber das kostet dich etwas.«
»Was ist dein Wunsch?«
Dalias Augen leuchteten, als sie es sagte. »Du musst mir das Springen beibringen.« Und dann, wie zur Erklärung, fügte sie hinzu: »Mir ist egal, was das Dorf tut und welche Traditionen es hier gibt. Ich werde diesen Teil eurer Reise mitmachen. Ich möchte wissen, wie man die Muskelzüge benutzt.« Sie senkte die Stimme. »Ich will reisen.«
»Bist du …?«
»Ich. Will. Reisen.«
Es lag eine große Sehnsucht in diesen drei Worten, ein starkes Verlangen, wie der Schrei eines Tiers, das aus einem Käfig entkommen wollte. Ryk widersprach dem nicht. Er hatte dieses Verlangen einst ebenfalls gespürt.
Es hatte dann mit der Zeit doch stark nachgelassen.