Kapitel 1

Es kostete Pamela alle Anstrengung, die freundliche Fassade aufrechtzuerhalten. Mit einem eingefrorenen Lächeln flötete sie: »Selbstverständlich achten wir darauf, dass die Bauarbeiten pünktlich zur Mittagszeit unterbrochen und erst um zwei Uhr wieder aufgenommen werden, Mrs Blueberry. Machen Sie sich keine Sorgen, Ihre Ruhe ist nicht gefährdet – es verhält sich wie jeden Tag.«

»Ich wollte nur sichergehen.« Mrs Blueberry wandte sich ab und ging auf den Ausgang des Maple Lake Inn zu.

Timothy, der gerade das hölzerne Treppengeländer mit einer Schutztinktur einrieb, eilte zur Tür und öffnete sie. »Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Spaziergang, Mrs Blueberry, und genießen Sie die Sonne. Laut dem Wetterbericht soll es morgen sehr windig werden und eventuell sogar regnen.«

»Danke, mein guter Timothy, aber lass dir von einer alten Frau gesagt sein, dass es im hohen Alter nichts mehr zu genießen gibt.« Mrs Blueberry nickte ihm zu und trat ins Freie.

Eilig schloss Timothy die Tür hinter ihr und gesellte sich zu Pamela an die Rezeption. »Wie bringst du fertig, Chefin, durchgehend höflich zu bleiben?«

Unwillkürlich musste Pamela schmunzeln. Noch immer schaffte Timothy es nicht, sie mit dem Vornamen anzusprechen. Seit sie ihn darum gebeten hatte, fand er Bezeichnungen wie Chefin oder Boss, Pamela wollte ihm allerdings nicht über die Lippen kommen. »Nicht so gut wie du, habe ich den Eindruck.«

»Ich bin nicht gezwungen, nahezu rund um die Uhr dieselben Fragen in einer Endlosschleife zu beantworten. Außerdem habe ich dank meiner Mutter und Tante Elisabeth Übung darin, den lieben Jungen zu spielen. Ich kann dich jedenfalls beruhigen. Niemand würde auf den Gedanken kommen, dass dich Mrs Blueberry und Co. nerven.«

Pamela seufzte auf. »Ich verstehe sie ja. Die Gruppe besteht ausschließlich aus Senioren. Sie machen hier wegen der Ruhe Urlaub. Eigentlich sollte während der Instandsetzung des Dachs das Hotel geschlossen bleiben, aber ich brauche die Einnahmen und will zudem den Reisegruppenveranstalter nicht verlieren.«

Timothy schüttelte den Kopf. »So darfst du nicht denken. Du hast nichts verheimlicht und der Reisegesellschaft einen Preisnachlass von fünfundzwanzig Prozent gewährt. Sie wussten, worauf sie sich einlassen.«

»Der Baustellenlärm schafft mich ja selbst – in doppelter Hinsicht. Nach wie vor habe ich Albträume von der Sturmnacht und höre das Geräusch, als der Baum auf das Dach gekracht ist. Ich könnte das alles schneller vergessen, wenn der –« Pamela brach mitten im Satz ab und sah der Frau entgegen, die gerade im Durchgang zum Aufenthaltsbereich erschien und direkt auf sie zusteuerte.

»Miss Pamela! Ist die Schreckschraube endlich weg?«, erkundigte sie sich und setzte eine verschwörerische Miene auf.

»Hallo, Mrs Miller. Ich nehme an, Sie reden von Mrs Blueberry?«

Die Frau bejahte. »Diese alte Nörglerin! Ich wollte nicht mit ihr spazieren gehen und habe mich versteckt. An allem hat sie etwas auszusetzen, so war sie schon früher. Ich kenne sie seit fünfzig Jahren, wir sind im selben Ort aufgewachsen.« Mrs Miller warf einen bedeutungsvollen Blick zur Tür. »Ihr stattlicher Bruder ist nicht vielleicht durch Zufall auf der Baustelle, Pamela? Ich sehe ihm so gern zu. Wenn ich nur einige Jahre jünger wäre …«

»Mrs Blueberry hat das Hotel verlassen. Und Nat kommt erst am Nachmittag, gegen drei Uhr – falls es Sie interessiert.« Pamela zwinkerte Mrs Miller zu. »Sie wissen, dass mein Bruder glücklich vergeben ist?«

»Ach ja, mit der reizenden Hotelbesitzerin Molly. Ich habe gestern auf der Terrasse mit ihr geplaudert – eine sehr nette junge Frau, aber gegen mich hätte sie keine Chance gehabt.« Mrs Miller legte den Zeigefinger auf die Lippen und gab ein zischendes Geräusch von sich. »Meinem Joseph dürfen Sie nichts von Nat erzählen. Er kann rasend eifersüchtig werden. Übrigens macht er soeben ein Schläfchen auf dem Zimmer. Wenn er mich später suchen sollte, würden Sie ihm sagen, dass ich im Aufenthaltsraum bin und lese?«

»Natürlich«, antwortete Timothy.

Mrs Miller winkte ihnen zu und entfernte sich.

Als sie die Lobby verlassen hatte, fragte Pamela: »Du hast Elisabeth zuvor erwähnt. Wie geht es ihr? Ich sehe Morris zwar regelmäßig in der Sycamore Tavern, möchte ihn jedoch nicht darauf ansprechen.«

»Ja, Onkel Morris redet nicht so gern darüber. Tante Elisabeths übertriebene Sucht nach Tratsch hat er jahrelang locker weggesteckt, dass sie allerdings wirklich ein bisschen verrückt ist, trifft ihn schwer. Was ich von meiner Mutter weiß, geht es ihr mittlerweile deutlich besser. Der Aufenthalt in dieser Klinik in Northville dürfte ihr guttun.«

»Was ist mit ihrem Kiosk am See?«, erkundigte sich Pamela weiter. Auch sie war einmal Opfer von Elisabeths Geschwätz geworden, aber das gehörte der Vergangenheit an. Längst hatte sie ihr verziehen.

»Den hat Onkel Morris dichtgemacht und will ihn verkaufen. Die Sommersaison mit der Bootsvermietung ist ohnehin vorbei, und das Wintergeschäft mit Punsch und Weihnachtsdekoration hat noch nicht begonnen. Tante Elisabeth soll sich auf ihre Genesung konzentrieren, meint er.« Timothy senkte die Stimme. »Charlotte hat Onkel Morris aufgesucht und sich angeboten, den Kiosk zu führen, bis es Tante Elisabeth besser geht. Er hat sie hochkant hinausgeschmissen – das ist auch eine Info von meiner Mum.«

Automatisch zog Pamela die Brauen zusammen. »Charlotte besitzt wahrlich keinen Anstand. Ich habe sie nie gemocht, und der Instinkt trügt nicht.« Sie warf einen Blick auf die alte Pendeluhr, die neben der Treppe an der Wand hing. »Du musst bald losfahren, damit du pünktlich in der Agentur erscheinst.«

»Ich habe mir den Handywecker gestellt. Lilly lässt mich heute beim Brainstorming für einen neuen Kunden mitmachen. Ich bin schon riesig gespannt.«

»Ideen sind deine große Stärke – und nicht nur das.« Nachdenklich musterte Pamela Timothy. »Ist dir die Arbeit im Hotel zu langweilig? Die Tätigkeiten in Lillys Werbeagentur sind weitaus aufregender.«

»Dir habe ich das alles zu verdanken, weil du an mich geglaubt hast, Boss. Ohne dich befände ich mich wahrscheinlich noch immer auf Jobsuche und könnte meine Fähigkeiten nicht unter Beweis stellen. Ich bin genauso gern im Hotel wie bei Lilly.«

Pamela lächelte. »Na hör mal, ich musste dich anstellen. Sonst hätte ich deine Ideen nicht verwenden dürfen. Dann gäbe es keinen Mapleccino und keine three o’clock coffee time hier im Hotel. Übrigens, richtest du Lilly bitte aus, sie soll nicht vergessen, heute pünktlich Schluss zu machen. Wir treffen uns alle um acht Uhr in der Tavern. Laurie und Tom haben uns zum Abendessen eingeladen. Ich bin schon neugierig. Laurie hat am Telefon sehr geheimnisvoll getan und nur gesagt, dass es um eine Überraschung ginge.«

»Wer erledigt den Abenddienst? Soll ich später zurückkommen?«, fragte Timothy sofort.

»Nein danke. Mary übernimmt ihn. Entspann dich und genieße den freien Abend.«

»Okay. Mein Date mit Netflix bleibt also bestehen«, entgegnete Timothy und eilte zurück zu dem Geländer, um seine Arbeit fortzusetzen.

Versonnen blickte Pamela ihm nach. Der junge Mann erwies sich tatsächlich als wahrer Glücksgriff. Auch bei ihm hatte ihr der Instinkt den richtigen Weg gewiesen.