Jim leinte Cicero an, als er und Molly das Ortsgebiet wieder erreichten. »Ich freue mich, wenn du Zeit findest, mich auf meiner Runde zu begleiten. Seit über zwei Wochen sind wir nicht mehr dazu gekommen. Ich vermisse die Unterhaltungen mit dir. Es ist nicht dasselbe, wenn wir uns alle in der Tavern treffen.«
Molly nickte. »Mir haben unsere Gespräche auch gefehlt. Es hat sich viel verändert, seit ich beschlossen habe, in Maple Creek zu leben. Vorübergehend hatte ich wirklich an ein geruhsames Leben geglaubt – fernab von New York. Und nun? Nicht einmal unsere üblichen Spaziergänge kann ich einhalten.«
»Stehst du so unter Druck?«, erkundigte sich Jim.
»Es ist nicht mit New York und dem Rhythmus dort zu vergleichen, außerdem bin ich hier glücklich – das ist wohl der größte Unterschied. Aber ich gebe zu, dass ich manchmal nicht weiß, wo mir der Kopf steht. Der schreckliche Sturm und die Schäden am Hotel, mein neuer Job bei der Maple Creek News Time, die Kolumne für die NY Woman, der Einzug bei Nat und dazu die rundherum anfallenden Kleinigkeiten.«
»Wenn der erste Schnee fällt, wird es ruhiger, das verspreche ich dir. Dann begeben wir uns alle in den Winterschlaf. Wie fühlst du dich in Nats Haus?«
Von selbst erschien ein Lächeln auf Mollys Lippen. »Wir genießen jede gemeinsame Minute. Ich bin so froh, dass ich meine Ängste wegen einer Entfremdung abgelegt habe. Ehrlich, ich hätte nie gedacht, wie wunderschön die Liebe und das Zusammenleben sein kann – herrje, das klingt jetzt überkitschig. Wie läuft es bei dir?«
»Du meinst mit Ann?« Jim zuckte mit den Schultern. »Sie ist auf ihre Art eine beeindruckende Frau – wie sie den Reitstall in Schuss hält und darüber hinaus versucht, sich auf mich einzustellen. Was will ich mehr in meinem Alter? Du darfst nicht vergessen, ich werde dreiundfünfzig.«
Kurz musterte Molly ihren väterlichen Freund von der Seite. Seine Antwort traf nicht den Ton eines verliebten Menschen. Vielmehr klang es nach einer sachlichen Feststellung. Als sich Jim für ihre Chefin bei der NY Woman interessiert hatte, war er weitaus euphorischer in seiner Wortwahl gewesen. Dabei hatte er Nora bis heute nicht kennengelernt. Wenn Molly überlegte, erzählte er kaum etwas über Ann. Dabei musste es einiges zu berichten geben. Mit einem tiefen Atemzug machte sie ihren Gedanken Luft: »Ann erscheint mir wie ein Geist. Ich weiß, es gibt sie, dennoch ist sie nicht viel mehr als ein Schatten. Ehrlich, Jim, du sprichst häufiger darüber, wie sich deine Rosen von dem Sturm erholen, als von Ann. Stimmt etwas nicht zwischen euch beiden?«
»Es lässt sich schwer in Worte fassen, was ich empfinde. Ich achte Ann und verbringe gern Zeit mit ihr. Sie hat ihre Eigenheiten, wie ich meine habe, und ich möchte erst gar nicht darauf herumreiten …« Jim schmunzelte. »Ein kleines, passendes Wortspiel und zugleich eine gute Illustration: Ich liebe Tiere. Hunde, Katzen, Vögel, Pferde – allesamt, doch werde ich niemals auf ein Pferd steigen. Ann lässt nicht locker und piesackt mich oft richtiggehend damit, dass ich reiten lernen soll. Zudem trägt sie ein nicht unbedeutendes Maß an Kontrollsucht in sich …« Wieder vollendete er den Satz nicht und schüttelte den Kopf. »Aber das gibt nicht den Ausschlag. Es fühlt sich an, als gehörte Ann nicht zu mir. Begreifst du, worauf ich hinauswill?«
»Wie ich und Jackson? Du erinnerst dich an meinen Ex-Freund aus New York?«
Jim lachte auf. »Ich habe ihn offen gestanden aus meinem Gedächtnis verdrängt. Ja, der Vergleich ist nicht übel. Alles scheint nach außen hin in Ordnung zu sein, in einem drinnen ist man sich hingegen bewusst, dass das Gegenüber nicht der Deckel auf dem Topf ist. Ich sage mir vor, dass ich auch meine Macken habe und man sich arrangieren muss. Ist das allerdings tatsächlich notwendig? Mit harmonierenden Spleens würden gewisse Probleme von vornherein nicht auftreten. Letzten Endes lande ich erneut beim Alter, das unsere Eigenheiten wohl verhärtet und den Menschen unflexibel werden lässt.«
»Ich gebe dir recht, bis auf den Schluss. Natürlich kommen im Laufe eines Lebens Erfahrungen hinzu, die einen beeinflussen und prägen, doch was du meinst, ist der ureigene Charakter. Er wird geformt, aber nicht verändert. Und Menschen passen zueinander oder nicht, ob sie dreißig oder siebzig sind – so denke ich darüber«, entgegnete Molly.
»Womöglich habe ich mich bloß verrannt. Ich weiß jedoch nicht, in welche Richtung.« Jim winkte ab. »Lassen wir das Thema. Ich habe beschlossen, die Dinge zu nehmen, wie sie kommen. Erzähl mir von den Arbeiten am Maple Lake Inn. Das hat wenigstens Hand und Fuß.«
»Die Reparaturen gehen gut voran. Nat sagt, dass in spätestens zwei Wochen sowohl das Dach als auch die kleinen Schäden an der Fassade instand gesetzt sein werden. Dann hat der Spuk endlich ein Ende. Ich hoffe nur, Pamela hält so lange durch. Sie ist ziemlich entnervt, was ich verstehen kann. An ihr hängt die gesamte Last.«
»An dir ebenfalls, meine Liebe. Schmälere deine Aufgaben nicht. Als Eigentümerin bist du verantwortlich für die Instandsetzungen. Das ist eine gewaltige Verpflichtung.«
Molly nickte. »Das stimmt, aber dank Morris’ hervorragender Versicherungspolice habe ich keine zusätzlichen Kosten zu tragen. Damit ist mir der größte Stein vom Herzen gefallen.«
»Ich erinnere mich, als deine Tante Gynnie das Hotel neu bewerten ließ. Sie hat Morris einen dreckigen Halsabschneider genannt, der besser bei seinen Immobilien bleiben sollte«, antwortete Jim grinsend. Jäh erschien ein wehmütiger Ausdruck auf seinem Gesicht. »Ich denke noch immer oft an Gynnie. Sie fehlt mir.« Nach einem Moment des Schweigens legte er seinen Arm um Molly und drückte sie an sich. »Dafür habe ich jetzt dich, und das macht mich sehr glücklich.« Kaum dass er ausgesprochen hatte, jaulte Cicero auf. »Siehst du, sogar er pflichtet mir bei«, kommentierte Jim den Laut seines Hundes.
Molly deutete auf Jims Haus. »Mir erscheint er eher gelangweilt, kein Wunder. Seit zehn Minuten stehen wir vor deiner Gartentür. Cicero ist müde und hat zweifellos Hunger.«
Jim warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Nicht nur er ist hungrig. Wir sehen uns später in der Tavern. Ich bin schon begierig darauf zu erfahren, was Laurie und Tom uns mitzuteilen haben.« Er öffnete die Gartentür und nahm Cicero die Leine ab. Sofort lief der Hund schwanzwedelnd zum Eingang des Hauses.
»Oh, das sind wir alle. Diese Form der Einladung ist neu. Es muss etwas Besonderes geschehen sein.« Molly hob die Hand zum Gruß. »Bis später.« Sie ging zu ihrem Wagen und stieg ein. Während sie startete, beobachtete sie Jim, wie er Cicero über den Rücken streichelte und sich beeilte, die Tür aufzuschließen. Erst als die beiden im Haus verschwunden waren, fuhr sie los.
Eigentlich hatte Molly vorgehabt, Jim gegen Ende ihres Spaziergangs von einem Telefonat zu erzählen, das sie gestern mit ihrer Chefin Nora geführt hatte, doch seine Worte über Ann hatten sie daran gehindert. Sie hätte es als unpassend erachtet, erst seine Probleme mit der einen Frau zu besprechen und sogleich nahtlos auf eine andere einzugehen. Immerhin wusste Molly, wie fasziniert Jim allein anhand ihrer Beschreibungen von Nora gewesen war. Im Grunde war dies sogar der Ausschlag gewesen, ihn davon zu überzeugen, sich auf einer Datingplattform zu registrieren, wo er letztlich Ann kennengelernt hatte. Seine Einsamkeit war für Molly offenkundig gewesen, und sie hatte helfen wollen.
Dass sich Nora nun tatsächlich entschlossen hatte, ihren alljährlichen Wellnessaufenthalt gegen eine Reise nach Maple Creek zu tauschen, hatte Molly nicht fest voraussehen können. Sie seufzte auf. Bis Nora ihren Urlaub antreten würde, verblieben einige Wochen. Bestimmt fand sie einen geeigneteren Zeitpunkt, Jim darüber zu informieren.