Kapitel 4

Als Molly und Nat die Tavern betraten, waren Jim und Morris bereits anwesend. Sie saßen an dem großen Tisch, der am nächsten an der Bar stand, und unterhielten sich angeregt. Erst als Molly und Nat herantraten, sahen sie auf.

Morris wartete, bis sie Platz genommen hatten, und sagte: »Ich bin gerade dabei, Jim von Elisabeths Fortschritten in der Therapie zu erzählen. Entschuldigt, dass ich kaum darüber gesprochen und keine Details preisgegeben habe, aber es fällt mir sehr schwer, das Ganze überhaupt zu begreifen.« Er klopfte Jim auf die Schulter. »Hätte mein alter Freund mich jetzt nicht genötigt, endlich zu reden, würde ich über den bevorstehenden Winter, das Versicherungs- und Immobiliengeschäft oder sonst etwas Neutrales sprechen.«

»Wir sind deine Freunde, Morris, und immer für dich da. Auch du musst dich jemandem anvertrauen. Es ist schlecht, seinen Kummer wegzupacken«, entgegnete Jim.

»Wie geht es ihr denn nun?«, fragte Nat ohne Umschweife.

Kurz hielt Molly den Atem an und schenkte ihm einen tadelnden Blick. Männer – und dazu zählte Nat allemal – verhielten sich manchmal wie Elefanten in einem Porzellanladen. Sie war genauso gespannt, was Morris zu berichten hatte, wäre aber deutlich vorsichtiger an die Sache herangegangen und hätte Morris den Ausweg gelassen, über das Thema zu schweigen.

Entgegen ihren Gedanken schien Morris Nats unverblümtes Vorgehen nicht zu stören. Mehr noch, er wirkte sogar erleichtert, so direkt darauf angesprochen zu werden. Seine Antwort kam prompt. »Elisabeths Diagnose ist Schizophrenie, zum Glück in einer leichten Ausprägung. Sie hat keine Halluzinationen, jedoch Wahnvorstellungen. Sie haben sich in ihrem plötzlichen religiösen Wahn gezeigt. Elisabeths spezielle Art davor – ich muss nicht extra erläutern, was ich damit meine – war schon ein Hinweis. Laut der Erklärung des Arztes war sie nicht süchtig nach dem Tratsch selbst, auch ihre Einmischungen und Geschichten entstammten nicht einem bösartigen Wesen, vielmehr war sie nicht fähig, die Dinge real wahrzunehmen. Sie hat in einer verzerrten Wirklichkeit gelebt.«

»Ich werde nie ihre ständigen Fragen vergessen. Sie konnte bohren wie keine Zweite«, erwiderte Nat. »Wenn wir nur gewusst hätten …«

»Der Arzt nimmt an, dass sie hinter allem etwas Geheimnisvolles, womöglich Bedrohliches vermutet hat. Für Elisabeth muss es sich angefühlt haben, als gäbe es rund um sie herum unzählige kleine Verschwörungen. In der Folge hat sie dann ihre eigene Wahrheit eingebracht und damit die Dinge in ihrem Licht dargestellt. Ich bemühe mich, diese Fakten zu begreifen, doch verstehen kann ich sie nicht.«

Molly spürte, wie sich ihr Magen vor Mitleid verkrampfte. Wie schwer musste es sein, mit solch einer Situation umzugehen? Mit leiser Stimme fragte sie: »Ich weiß wenig über Schizophrenie. Ist diese Krankheit heilbar?«

»In der letzten Zeit habe ich viel darüber gelernt. In gewisser Weise werde ich mitbehandelt«, antwortete Morris. »Es ist nämlich wichtig, dass Elisabeth von ihrer Familie und ihren Freunden verstanden wird und jeder richtig mit ihr umgeht – mit richtig meine ich normal. Schizophrenie verläuft in Schüben und es gilt, diese zu vermeiden. Dazu gehört, einerseits die Ursachen zu finden und andererseits Auslöser zu vermeiden. Im Augenblick erhält sie in der Klinik Medikamente und eine umfassende Therapie. Beides wird sie auch danach begleiten, möglicherweise für ihr restliches Leben.«

Molly streckte den Arm aus und ergriff Morris’ Hand. »Sag uns, wenn du etwas benötigst. Wir sind für dich und Elisabeth da.«

Morris lächelte. »Danke, Molly. Wenn es so weit ist, dass sie nach Hause kommt, wird es sicherlich einiges –« Er sah zur Eingangstür.

Pamela und Lilly waren eingetreten und steuerten direkt auf sie zu.

Mit einem Stöhnen ließ sich Pamela auf einen Stuhl fallen. »Ihr ahnt nicht, wie froh ich bin, endlich einmal aus dem Hotel herauszukommen. Ich liebe das Maple Lake Inn, aber manche Gäste machen mich verrückt.« Sie tippte sich an die Stirn, blickte in die Runde und fragte: »Ist alles in Ordnung? Ihr schaut mich so seltsam an.«

Nat verzog den Mund. »Was du gesagt hast, war unpassend.«

»Morris hat uns soeben von Elisabeth berichtet«, warf Molly eilig ein. Obwohl sie wusste, wie gut sich Pamela und Nat mittlerweile verstanden, hatte sie manchmal noch immer das Gefühl, Pamela verteidigen zu müssen. Früher hatte Nat die Ernsthaftigkeit seiner Schwester angezweifelt. Die Erinnerung an die vielen Diskussionen war fest in ihr verankert.

Morris hob beschwichtigend die Hand. »Das konntest du nicht wissen, Pam. Mach dir keine Gedanken darüber. Molly soll dir alles erzählen, jetzt würde ich lieber über andere Dinge sprechen – ich brauche angenehme Themen, die mich ablenken. Was ist mit deinen Gästen?«

Pamela verdrehte die Augen. »Mrs Blueberry zum Beispiel kommt in der Regel viermal täglich zu mir, um sich über den Lärm zu beschweren. Ich verstecke mich schon vor ihr, aber sie findet mich überall. Wahrscheinlich würde sie mich sogar entdecken, wenn ich mich unter einem Bett verkrieche.«

Lilly schmunzelte. »Pam hat begonnen, im Schlaf zu reden. Nun, eher ist es ein grimmiges Murmeln. Bestimmt träumt sie von dieser Mrs Blueberry.«

Alle lachten, und Jim sagte: »Ja, jeder trägt seine kleinen Dämonen huckepack durch die Nacht. Meine gegenwärtigen haben vier Beine, einen langen Schweif und wiehern.«

»Solang es nur Anns Pferde sind, die dir Albträume bescheren, und nicht sie selbst, musst du keine Furcht haben«, erwiderte Nat. »Apropos, warum hast du sie nicht mitgenommen? Hältst du sie von uns und der Tavern fern?«

Schnell versetzte Molly Nat unter dem Tisch einen Tritt gegen das Schienbein. Er fand heute aber wirklich jedes Fettnäpfchen, das man ihm darbot. Wiederum wusste er noch nichts von Jims Bedenken Ann betreffend. Sie war nicht dazu gekommen, Nat davon zu erzählen. Verstohlen musterte sie Jim, der sich in seinem Stuhl zurücklehnte und die Arme verschränkte.

»Ann und ich gehen es langsam an«, entgegnete er, dann schien er sich zu besinnen und sagte: »Ach was. Vor wem an diesem Tisch sollte ich ein Blatt vor den Mund nehmen? Die Wahrheit ist, dass ich Schwierigkeiten mit Anns Art habe. Wir sind grundverschieden, und was in jungen Jahren womöglich für Spannung sorgt, entpuppt sich in meinem Alter als anstrengend.«

»Ich hatte gedacht, ihr versteht euch gut«, bemerkte Lilly.

Jim wiegte den Kopf. »Molly und ich haben beim heutigen Spaziergang bereits darüber gesprochen. Ann ist eine wunderbare Frau, und ich bin nach wie vor sehr angetan von ihr. Es fällt mir jedoch schwer, richtig mit ihr umzugehen. Manchmal habe ich den Eindruck, als fehlte mir die Bedienungsanleitung für sie. Etwa neigt sie zu plötzlichen Ausbrüchen, die ebenso rasch wieder verebben. Will ich hinterher darüber sprechen, verschließt sie sich und negiert, was geschehen ist. Sie scheint zu meinen, Entschuldigungen reichten aus, um ihr Aufbrausen zu erklären. Deutet meine Worte nicht falsch, die Bitte um Verzeihung ehrt sie, doch es bringt weder sie noch mich zum Kern der Sache. Ich muss wissen, warum sie manchmal so ist, damit ich lerne, sie zu verstehen.«

»Vielleicht hat sie Angst, dich zu verlieren, und möchte sich deshalb nicht offenbaren«, überlegte Pamela.

Lilly nickte. »Das ist gar nicht so weit hergeholt. Eventuell kann sie etwas, das du tust, nicht ausstehen und regt sich darüber auf. Geradewegs kehrt sie auf den Boden zurück, und es tut ihr leid. Das Problem anzusprechen, traut sie sich allerdings nicht.«

»Ehrlich, ich weiß es nicht. Wichtig ist auch nicht der Grund selbst – Charakterzug, Verlustangst oder sonst etwas –, sondern der Umgang damit. Wie soll eine Beziehung funktionieren, wenn man nicht offen zueinander ist? Wenn einem am anderen etwas nicht passt, muss man das sagen. Ich kann mich nicht verändern, aber das eine oder andere durchaus variieren.« Jim sah zu Tom hoch, der eben an den Tisch herangetreten war. »Du rettest mich aus einer heiklen Situation. Es geht um Ann – ich stehe gerade Rede und Antwort.«

Tom grinste. »Ich habe deinen letzten Satz gehört, Jim, und bin ebenfalls überzeugt davon, im richtigen Moment gekommen zu sein.« Er winkte der neuen Servierkraft und zeigte auf ein Tablett mit Gläsern darauf, das er auf der Bar bereitgestellt hatte. »Ich hole Laurie.« Er drehte sich um und eilte um die Bar herum auf den Durchgang der Küche zu.

Während die junge Frau die vorbereiteten Getränke verteilte, schwiegen alle, doch ließ es sich keiner nehmen, bedeutungsvolle Blicke in die Runde zu schicken – was hatten Laurie und Tom ihnen mitzuteilen?

Als sich die beiden schließlich dazugesellten, fragte Jim sofort: »Okay, wir platzen vor Neugierde. Würdet ihr uns bitte nicht länger auf die Folter spannen?«

Laurie lächelte vielsagend. »Ich wollte meine liebsten Freunde zu diesem besonderen Anlass unbedingt um mich haben und bekochen. Zu eurer Info: In Kürze servieren wir eine Pilzsuppe mit Knoblauch-Basilikum-Croutons, danach gibt es gespickten Wildbraten mit Prinzesskartoffeln und als Nachspeise eine Crème brûlée alla Laurie. Zum Abschluss habe ich Käse besorgt und Sesambrot gebacken.«

Molly fixierte Laurie und versuchte, aus deren Mimik etwas herauszulesen. Sie wirkte durch und durch fröhlich, jedoch nicht auf eine ausgelassene Art, sondern eher besinnlich und gedankenvoll. Unweigerlich drängte sich Molly der Vergleich mit einem Kind auf, das vor dem Weihnachtsbaum stand und die brennenden Kerzen, glitzernden Kugeln und Geschenke bestaunte – genau dieses Strahlen war es, das Laurie im Gesicht trug.

Tom räusperte sich. »Mit dem Tom’s Maple und Pamelas Mapleccino haben wir hier in Maple Creek – so finde ich – eine kleine Tradition begründet, die meines Erachtens unbedingt fortgeführt werden muss. Also habe ich etwas Neues entwickelt: Lauries Maplemilk.« Er schmunzelte. »Ich dachte, etwas Gesundes tut uns allen gut: Buttermilch, fein püriertes Erdbeermark, ein Schuss Sahne, selbstverständlich Ahornsirup und obenauf ein wenig Ahornzucker. Ach ja, für die prickelnde Schärfe auf der Zunge sorgt Cayennepfeffer. Lauries Maplemilk steht vor euch. Probiert!«

Noch ehe alle die Gläser nahmen, ergriff abermals Laurie das Wort. »Ich liebe Buttermilch und Erdbeeren, außerdem die Kombination von süß und scharf. Tom hat den Shake aber nicht einfach zum Spaß für mich kreiert, sondern weil ich für eine geraume Weile keinen Alkohol trinken darf.«

Jim begriff als Erster. »Du liebe Güte! Laurie, bist du … schwanger?«

Ihr Lächeln wurde breiter. »Ja, Tom und ich bekommen ein Baby. Ich bin in der achten Woche, also ganz am Anfang. Wir haben es selbst erst vor einigen Tagen erfahren.«

Wie auf Befehl sprangen Molly und Pamela auf, umrundeten den Tisch und umarmten Laurie, eine von links, die andere von rechts. Lilly wartete kurz und folgte ihrem Beispiel.