»Warum hast du mich nicht sofort angerufen?«, fragte Molly, während sie noch versuchte, Dorothys Informationen zu verarbeiten und zu bewerten.
»Ich war komplett durcheinander, und mein einziges Bedürfnis war, aus der Spirale herauszukommen. Hätte ich dich angerufen, wäre ich nur tiefer hineingeschlittert. Also habe ich die ganze Nacht geschrieben. Immerhin sind vier Kapitel fertig geworden, und ich habe sie sogar bereits überarbeitet.«
»War es denn wirklich so schlimm? Oft spielt uns die Erinnerung Streiche, und wir sehen etwas dramatischer, als es tatsächlich gewesen ist«, erkundigte sich Molly weiter und protestierte in Gedanken auf der Stelle gegen ihre eigenen Worte. Ihre Freundin war zwar ein impulsiver Mensch, aber in heiklen Beziehungsangelegenheiten verhielt sie sich im Normalfall vernünftig und fiel nicht aus der Rolle. Nicht ohne Grund galt Dorothy in diesem Bereich als Koryphäe – ihre Bücher verkauften sich wie warme Semmeln – und natürlich wendete sie ihr umfangreiches Wissen bei sich selbst an.
Dorothy schluchzte auf. »Ich bin total in Rage geraten. Das Gefühlspotpourri hat mich beinahe um den Verstand gebracht. Erst die Enttäuschung, als Jack mir gesagt hat, er müsse arbeiten, dann mein Geistesblitz, durch den meine Laune jäh wieder in die Höhe geschnellt ist … und schließlich die beinharte Abfuhr. Sie hat mich endgültig aus dem Konzept gebracht. Es war, als würde mit einem Schlag alles in mir einstürzen. Ehrlich, ich wusste nicht mehr, was ich rede.«
Molly antwortete nicht unverzüglich. Als Erstes musste sie herausfinden, ob bei Dorothy ein durchaus bekannter Zustand eingetreten war oder ob sie aus purer Verzweiflung heraus gehandelt hatte. Es käme in Jacks Fall zwar gänzlich unerwartet, aber er wäre nicht der erste Mann, von dem ihre Freundin spontan genug hatte. »Wirst du die Beziehung zu Jack beenden?«, fragte sie vorsichtig.
Dorothy schien sogleich zu wissen, worauf Molly hinauswollte. »Ich bin verliebt in Jack, ernsthaft und innig. Es ist nicht wie sonst, das musst du mir glauben.«
Unmerklich atmete Molly auf. Von ganzem Herzen wünschte sie sich für ihre Freundin dasselbe Glück, das ihr mit Nat zuteilgeworden war. »Dann ist es doch einfach. Ruf ihn an und erkläre ihm, wie du dich gefühlt hast. Vielleicht schaffst du obendrein eine Entschuldigung, wobei ich nicht glaube, dass die nötig ist. Jack wird dich verstehen, es geht ihm bestimmt ebenfalls nicht gut.«
»Ich will und werde ihn nicht anrufen – aus zwei Gründen«, entgegnete Dorothy prompt.
Geschwind erwog Molly, was sie Stichhaltiges dagegenhalten konnte. »Jeden einzelnen deiner Beziehungsratgeber habe ich aufmerksam gelesen. Wie oft erwähnst du darin die Wichtigkeit, den ersten Schritt zu tun, genauso wie zu verzeihen?«
»Das ist vollkommen richtig. Jedoch rate ich auch, dass man zu seinem Wort stehen muss. Natürlich verfasse ich das in den Büchern sanft und mit der Möglichkeit eines Auswegs. Ich schreibe nicht für einen einzigen Menschentyp. Viele schaffen es nicht, über ihren Schatten zu springen und stillzuhalten. Ich kann es, und für mich gilt diese Regel ohne Einschränkung – so schwer es mir fällt.« Dorothy unterstrich ihre Aussage, indem sie hinzufügte: »Ich wünschte, du könntest mich umstimmen, ehrlich.«
»Was sind das für zwei Gründe, die du erwähnt hast?«, fragte Molly. Auf den Spuren des Versöhnungsengels kam sie keinen Schritt vorwärts, also musste sie auf andere Art versuchen, Licht in das Dunkel zu bringen.
»Genau das, was ich gerade ausführlich erörtert habe: Aus Überzeugung weiche ich von meinen Äußerungen nicht ab. Auch wenn ich es womöglich nicht so drastisch gemeint habe und Zorn wie Enttäuschung aus mir gesprochen haben, war es dennoch deutlich: Ich will, dass Jack in Toronto bleibt und nicht nach Maple Creek reist. Darüber hinaus möchte ich in naher Zukunft keinen Kontakt mit ihm. Soll er in seiner Arbeit ersticken – ach, streich diesen Satz bitte, er war unprofessionell und gemein.« Nach kurzem Schweigen fügte Dorothy hinzu: »Inzwischen habe ich mir überlegt, was ich mit meiner Zeit in Maple Creek anfangen werde: Auf meiner To-do-Liste stehen Interviews mit Lilly und Pamela – du weißt, ich darf sie in mein neues Buch einbauen. Die beiden sind ein besonderes Paar, und es wird –«
»Du hast mir den zweiten Grund noch nicht genannt«, unterbrach Molly ihre Freundin. Sie vermutete, dass sich hinter diesem der wahre Auslöser verbarg.
Dorothy gab einen leisen Klagelaut von sich. »Es hat mich zutiefst verletzt, dass er mich nicht nach Toronto mitnehmen will. Du hättest es hören müssen. Sein Aufschrei kam, kaum dass ich den Vorschlag gemacht hatte. Solch eine strikte Ablehnung tut verdammt weh.«
Selbsttätig verkrampfte sich Mollys Herz. In Dorothys Worten lag ein Schmerz, den sie beinahe selbst körperlich spürte. Ihre Freundin litt Höllenqualen. »Hat er es denn begründet?«, murmelte sie.
»Ja, mit der Arbeit. Er sei von früh bis spät unterwegs und könne sich nicht konzentrieren, weil er bei mir sein und sich um mich kümmern wolle«, antwortete Dorothy. »Er müsste mich bereits besser kennen. Ich bin doch selbstständig und benötige keinen Babysitter. Eine fremde Stadt zu erkunden, bereitet mir Freude, und meine Arbeit habe ich ohnehin immer mit dabei. Molly, ich befürchte wirklich, ich habe mich in etwas verrannt. Jack ist nicht mit jener Ernsthaftigkeit dabei, wie ich es bin. Das ist die traurige Realität.«
Unwillkürlich stöhnte Molly auf. Sie musste zugeben, der Verbindung von Dorothy und Jack am Anfang skeptisch gegenübergestanden zu haben – allerdings nicht wegen Jack. Zu oft hatte sie Dorothys Aufflammen für einen Mann miterlebt, das geradewegs zu weniger als einem Glimmen verkommen war. Dann aber hatte sie hautnah dabei sein dürfen, wie ernst ihre Freundin die Angelegenheit nahm – Dorothy war aufrichtig verliebt. Konnte es sein, dass sie sich als außenstehende Dritte letztlich in Jack getäuscht hatte? Betrachtete er Dorothy gar nur als angenehmen Flirt, der nichts mit seinem wahren Leben zu tun haben sollte? Nein! Das glaubte sie nicht. Sie hatte in Jacks glühende Augen geblickt, und auch Lauries und Toms diesbezügliche Informationen entsprachen dem nicht. Molly beschloss, sich jetzt weder weiter in Annahmen zu verstricken noch Dorothy einen Rat zu geben. Erst musste sie mehr erfahren, bevor sie eine Stellungnahme abgab. »Es tut mir so leid, dass es dir schlecht geht«, sagte sie leise.
»Aber du verstehst mich?«, fragte Dorothy. »Ihn anzurufen und die Schuld auf mich zu nehmen, wäre schlichtweg falsch. Es geht dabei nicht um Stolz oder Sturheit, sondern darum, bei sich zu bleiben und seinen Werten zu folgen. Außerdem, wie heißt es? Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.«
»In diesem Zusammenhang habe ich einen hervorragenden Alternativspruch parat: Es ist nicht aller Tage Abend«, entgegnete Molly. »Und ich kann nachvollziehen, warum du dich nicht bei ihm meldest.« Unweigerlich musste sie an die anfänglichen Wirren mit Nat denken. Er war es gewesen, der den ersten Schritt auf sie zu gemacht hatte. Trotz all ihrer Trauer damals hätte sie sich niemals dazu entschließen können. Dass Pamela unterstützend eingegriffen und ihrem Bruder den Kopf zurechtgerückt hatte, zählte dabei nicht. »Ich selbst weiß am besten, wie schwierig das ist«, fügte sie deshalb rasch hinzu.
»Ich werde nichts tun und die Zeit für mich arbeiten lassen«, erwiderte Dorothy und gähnte. »Entschuldige, Molly, ich brauche dringend ein paar Stunden Schlaf. Vierundzwanzig Stunden durchzumachen und dann fidel zu einer Univorlesung zu gehen, das ist vorbei.«
»Ruf mich an, wenn du wieder aufgewacht bist.« Molly legte das Handy zur Seite und schloss kurz die Augen. Wie unterstützte sie Dorothy in dieser Situation am besten? Nichts lag ihr ferner, als sich in die Angelegenheiten ihrer Freundin einzumischen, aber sie wollte ihr helfen. Zumindest konnte sie ihren Gedanken während des Telefonats aufgreifen und Jacks Beweggründe herausfinden, um richtig auf Dorothys Aussagen zu reagieren. Laurie und Tom wussten wahrscheinlich ebenfalls mittlerweile Bescheid und hatten Jacks Seite gehört. Als Erstes würde sie allerdings mit Nat reden und ihm von der Auseinandersetzung erzählen. Er war Toms bester Freund und kannte auch Jack sehr gut.