Nat öffnete die Tür der Tavern und ließ Molly den Vortritt.
Nachdem er von der Arbeit nach Hause gekommen war, hatte Molly ihm unverzüglich von dem Streit zwischen Dorothy und Jack berichtet. Keineswegs war sie sicher gewesen, dass Nat ihren Vorschlag für gut befinden würde, Laurie und Tom wegen Jack zu befragen, aber er hatte so reagiert, wie sie es erhofft hatte: Auf jeden Fall müssen wir erfahren, was hinter der Sache steckt. Wie es klingt, brauchen die beiden Hilfe. Dafür liebte sie ihn gleich noch mehr. So klar und strukturiert Nat in seinem Leben vorging, genauso viel Herz und Mitgefühl besaß er.
Sie erreichten die Bar und begrüßten Jim, der gerade an einer Espressotasse nippte.
»Hattet ihr nicht eigentlich vorgehabt, heute zu Hause zu bleiben? Wenn ich gewusst hätte, dass ihr kommt, hätte ich mit dem Essen gewartet – in Gesellschaft speist es sich immer angenehmer«, bemerkte Jim und hob die Schultern. »Jetzt ist es zu spät, ich bin bereits beim Kaffee angelangt.«
»Wir haben uns kurzfristig anders entschieden. Es gibt ein Beziehungsproblem zu klären«, entgegnete Nat und nahm auf einem Barhocker Platz.
Jim zog die Brauen hoch und musterte Nat mit offensichtlichem Erstaunen. »Woher wisst ihr beide, dass ich …? Oh, es geht gar nicht um mich«, schwenkte er sofort um, als er Nats Blick registriert hatte. »Also, wer hat Schwierigkeiten? Ihr seid es schon mal glücklicherweise ganz offensichtlich nicht.«
Von selbst musste Molly lächeln. Inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt, Freud und Leid nahezu ohne Einschränkungen mit den Freunden zu teilen, jedoch erachtete sie diesen Umstand noch nicht als Selbstverständlichkeit – und darüber war sie froh. Niemals wollte sie vergessen, welch besonderes Geschenk ihr damit allzeit dargeboten wurde.
»Es geht um Dorothy und Jack. Er muss den geplanten Urlaub in Maple Creek wegen der Arbeit verkürzen und will nicht, dass Dorothy ihn nach Toronto begleitet«, erklärte Nat freimütig.
»Diese beiden Turteltauben?« Jim kratzte sich am Kinn. »Seltsam, aber nachvollziehbar. Dorothy ist eine toughe wie emotionale Frau, da kann der gute Jack nicht schalten und walten, wie es ihm beliebt.«
Tom, der am anderen Ende der Bar mit einem Gast geredet hatte, trat zu ihnen. Übergangslos – ohne Begrüßung – fragte er: »Was wisst ihr über Dorothy und Jack? Hat sie mit dir gesprochen, Molly? Mein Bruder ist komplett aus dem Häuschen – eine Mischung aus Wut und Verzweiflung. Ich musste eine Dreiviertelstunde mit ihm telefonieren.« Sein Blick glitt zu Nat. »Du weißt, wie ungern ich am Handy hänge, genauso wie du.«
»Dorothy ist zutiefst traurig und enttäuscht. Sie glaubt, Jack würde die Beziehung nicht ernst nehmen und hätte nur etwas Abwechslung gesucht. Mit einem Einlenken ihrerseits darf er nicht rechnen«, erklärte Molly.
Tom verdrehte die Augen. »Na toll. Jack wiederum ist wütend, weil Dorothy offenbar außer sich gewesen ist und plötzlich das Gespräch abgebrochen hat. Er nannte es: voll ausgeflippt. Auch er schaltet auf stur und meint, für Dorothy sei das Ganze nur ein Strohfeuer gewesen. Kein Mensch verhalte sich auf diese Weise, wenn ihm der andere wichtig sei. Sie dürfte ihm zu viel über ihre vergangenen Beziehungen erzählt haben. Darauf hat er sich fixiert, wie ein in Rage geratener Stier auf das rote Tuch.«
»Jacks Gefühle für Dorothy sind also echt?«, schoss es aus Molly heraus. Schnell hob sie die Hand. »Entschuldige, ich wollte dich nicht in die Enge treiben. Aus mir spricht nicht Neugierde, sondern Sorge.«
Tom wischte ihre Bemerkung mit einer knappen Bewegung fort. »Ist schon okay. Und ob sie das sind! Jack ist verrückt nach Dorothy.« Er beugte sich vor und stützte die Arme auf dem Tresen ab. »Du musst wissen, Molly, mein lieber Bruder war immer mit demselben Frauentyp zusammen: hübsch, lieblich und ihn anhimmelnd – was er von sich gab, wurde ohne Widerrede hingenommen. Er ist es nicht gewohnt, dass ihm eine Frau Paroli bietet.«
»Warum will er nicht, dass Dorothy nach Toronto kommt?«, erkundigte sich Nat. »Das wäre doch die Lösung schlechthin gewesen. Ich sag’s dir ehrlich, sogar ich finde das komisch. Noch verstörender muss es auf Dorothy gewirkt haben.«
»Jack hat davon gefaselt, dass er dann unter Druck stünde, weil er das Gefühl hätte, Dorothy zu vernachlässigen. Fragt mich nicht, woher er diese befremdende Weisheit hat. Wie ich Dorothy kennengelernt habe, weiß sie sehr wohl genug mit ihrer Zeit anzufangen – und Jack sollte das ebenfalls nicht entgangen sein.«
»Vielleicht hat er keine Ahnung, wie man mit selbstständigen Frauen umgeht«, überlegte Jim. »Willst du deinem Bruder nicht auf die Sprünge helfen, Tom? Ich kenne zwar keine Details und reime mir nur einiges zusammen, aber die Sachlage stellt sich so dar, als könnte das wirklich ins Auge gehen, wenn niemand eingreift.«
Molly nickte eifrig. »Jim hat recht. Dorothy wird wegen Jacks Abfuhr nicht einlenken, selbst wenn ich mir den Mund fusselig rede.«
»Jack springt mit Sicherheit ebenso wenig über seinen Schatten«, entgegnete Tom. »In bestimmten Belangen ist er nun mal ein unbelehrbarer Idiot. Ich werde mir etwas überlegen, um die beiden an einen Tisch zu bringen. Begegnen sie sich erst, schaffen sie es ohnehin nicht, die Finger voneinander zu lassen – bei Dorothy und Jack lodert das Feuer nämlich gewaltig, und dagegen sind sie machtlos.«
Nat grinste. »Dir schwebt eine Versöhnung ohne Worte vor? Du schwelgst in einem männlichen Wunschtraum.«
»Das ist mir bewusst, leider. Träume sind nicht verboten.« Tom lachte auf. Dann huschte ein Strahlen über sein Gesicht. »Bevor ich euch bewirte – was ich längst hätte tun sollen –, muss ich euch unbedingt etwas erzählen. Wir haben den Termin für die nächste Ultraschalluntersuchung. Ich werde dabei sein und bin riesig aufgeregt. Das erste Mal konnte ich ja nicht mit, weil sich der Getränkehändler verspätet hatte.«
»Sieht man zu diesem Zeitpunkt schon, ob es ein Mädchen oder ein Junge wird?« Jim schob die Unterlippe vor. »Ich habe keine Ahnung, ab wann man das Geschlecht erkennen kann.«
»Dito. Ich werde die Gynäkologin fragen. Manche Eltern wollen es nicht erfahren, wir unbedingt, um uns darauf einzustellen.« Tom trat einen Schritt zur Seite und stellte Gläser bereit. »So, nun sind die Tom’s Maple an der Reihe. Für dich auch einen, Jim?«
»Ja, gern.«
Während sich Tom an die Zubereitung der Getränke machte, erkundigte sich Nat: »Wenn wir gerade dabei sind, was ist mit deinen Beziehungsproblemen, Jim?«
»Du hast meinen anfänglichen Irrtum also nicht vergessen«, antwortete Jim. »Wie fasse ich die Situation am besten zusammen? Meine Versuche, Ann Gutes zu tun, scheitern kläglich. Sie ist nicht zufrieden, doch sie scheint nicht imstande zu sein, offen darüber zu sprechen. Das ist aber genau das, was ich brauche. Ich bin wohl ein wahrhaft untypischer Mann.« Er wandte sich an Molly. »Du hast meine Frau leider nicht gekannt. Lucy war ein sprühender Geist und stets voller Ideen. Nie hätte sie mit ihrer Meinung – egal zu welchem Thema – hinter dem Berg gehalten. Wir haben oft stundenlang heiße Diskussionen geführt. Das fehlt mir. Ein dermaßen verschlossener Mensch wie Ann bereitet mir Unbehagen, besonders wenn ich ein gewisses Maß an Frustration vermute. Ich habe ständig das Gefühl, etwas falsch zu machen.«
»Hast du sie schon wirklich direkt angesprochen und gebeten, dir ihre Wünsche und Vorstellungen zu offenbaren?«, wollte Molly wissen.
»Erst kürzlich, völlig unverblümt. Sie zieht sich allerdings auf der Stelle zurück und beteuert, dass alles bestens sei.«
»Dann wird sie irgendwann platzen«, entgegnete Nat lakonisch.
»Völlig richtig. Das ist auch meine größte Befürchtung. Ich kann nicht oft genug betonen, wie sehr ich Ann mag. Auf dieser Basis jedoch können sie und ich nicht miteinander glücklich werden«, antwortete Jim.
Molly räusperte sich. Noch immer hatte sie Jim nicht erzählt, dass Nora ihren Urlaub in Maple Creek verbringen würde. Wie die Umstände lagen, sollte sie die Information endlich weitergeben. Jim musste sich darauf einstellen, sofern sie nach wie vor durch seine Gedanken spukte. Sonst geriet er in ein Dilemma. »Es ist zwar etwas unpassend, aber Nora hat ihren Aufenthalt hier bestätigt. Sie reist am ersten Dezember an.«
Jims Kopf ruckte hoch, und er lächelte versonnen. »Ein Hoffnungsschimmer am Horizont! Obwohl ich sie nicht kenne und dich lange nicht nach ihr gefragt habe, sinniere ich häufig über Nora. Ich freue mich, dass sie sich für Maple Creek entschieden hat.«
Molly bedachte Jim mit einem prüfenden Blick. War in seinen Augen eben ein verheißungsvoller Funke aufgeblitzt? Hoffentlich brachte Nora Jims vermeintlich heile Welt nicht durcheinander. Oder sollte sie ihm gerade dies wünschen?