Kapitel 12

»Brauchst du noch etwas, Timothy?«, erkundigte sich Pamela, während sie in ihren Mantel schlüpfte.

»Nein, alles bestens. Ich bin bereit für eine ruhige Abendschicht. Die Damen spielen im Aufenthaltsraum Rommé, und die Männer pokern. Drei aus der Herrenrunde haben sich davongestohlen und rauchen auf der Veranda Zigarren. Ich werde dafür sorgen, dass sie nach ihrem kleinen Ausflug unbemerkt zurückkehren.«

»Du kannst mich jederzeit anrufen, ich bin nicht weit entfernt.«

»Ich werde mich hüten, meine Chefin und Halbmentorin von einem Abendessen mit ihrem Bruder und dessen Freundin fortzuholen. Dafür habe ich zu viel Angst vor Nat«, entgegnete Timothy.

»Nat weiß, welch gute Arbeit du im Hotel und bei Lilly in der Agentur leistest. Die Geschichte auf der Baustelle ist längst vergessen. Was meinst du mit Halbmentorin?«

Timothy schmunzelte. »Zur Hälfte bist du es, und zur Hälfte ist es Lilly.«

Pamela öffnete die Eingangstür des Hotels, verharrte und drehte sich zu ihm um. »Du und deine Wortkreationen! Bei Lilly bist du damit wahrlich am besten aufgehoben. Ich wünsche dir einen ruhigen Abend!« Sie trat ins Freie hinaus und zog den Mantel fester um ihren Körper. Der nahende Winter war bereits deutlich zu spüren. Mit einem Seufzer lief sie los und bog um die Ecke des Hotels. Gynnies Häuschen, das Molly ihr zur Miete überlassen hatte, lag zum Glück fast direkt neben dem Maple Lake Inn.

Als sie die Tür des kleinen Hauses erreichte, zog sie sie eilig auf, sprang über die Schwelle und schloss sie schnell wieder. Wohlige Wärme und der würzige Duft von Brathähnchen empfingen sie. Lilly musste schon zu kochen begonnen haben. Sie zog Mantel und Stiefel aus, ging in die Küche und sah sich um. »O wow, du bist fast fertig! Selbst der Tisch ist gedeckt. Seit wann bist du denn hier?«

Lilly schickte Pamela einen Kuss. »Ich war viel zu aufgeregt, um im Büro zu bleiben. Alle nicht zwingend notwendigen Arbeiten habe ich verschoben. Morgen sitze ich dafür wahrscheinlich bis zehn Uhr abends vor dem Computer.«

»Was macht dich so nervös?«

»Das fragst du? Wir berichten deinem Bruder in Kürze von unserer Heirat und der Adoption. Das ist eine Riesensache. Was ist, wenn er uns nicht versteht? Auf verdrehte Art will ich seinen Segen. Das klingt blöd, nicht wahr?«

Obwohl Pamela auch eine untrügliche Erregung verspürte, barg sie kein unangenehmes Gefühl in sich. In ihrem Fall handelte es sich um reine Vorfreude, Molly und Nat von ihren Plänen zu erzählen. Seit sie Nat ihr lang gehütetes Geheimnis offenbart hatte und er mit Verständnis darauf eingegangen war, hatte sich in der geschwisterlichen Beziehung vieles verändert. Nat war nicht mehr der nörgelnde Bruder, der sie der Unbeständigkeit und Oberflächlichkeit bezichtigte, sondern ihr Gesprächspartner in allen Lebenslagen. Er nahm ihre Meinung ernst und war stolz, wie sie das Maple Lake Inn führte. Endlich waren sie zu einer echten Familie verschmolzen.

Pamela machte einen Schritt auf ihre Freundin zu und ergriff ihre Hand. »Lilly, wir haben uns dafür entschieden, unser Leben miteinander zu verbringen und Eltern werden zu wollen. Wer könnte dem skeptisch gegenüberstehen? Zugegeben, es ist rasch geschehen, doch das bedeutet nur, dass wir genau wissen, welcher Weg der richtige für uns ist. Meinst du, andere Paare grübeln jahrelang?«

Lilly lächelte. »Bloß diejenigen, die sich nicht einig sind oder schlicht mehr Zeit benötigen.«

»Eben. Wir beide brauchen weder mehr Zeit, noch sind wir uns uneinig. Also entspann dich … Und sag mir, was zu tun ist.«

Lilly ließ den Blick durch die Küche schweifen. »Eigentlich nichts mehr. Das Hähnchen brutzelt im Ofen, der Salat ist fertig, den Weißwein habe ich kühl gestellt, die Früchte für die Nachspeise sind klein geschnitten und gezuckert. Hoffentlich ist das Huhn nicht viel früher fertig, als Molly und Nat eintreffen, sonst wird es trocken.«

Pamela sah auf die Armbanduhr. »Weißt du was? Ich rufe die beiden an und frage, ob wir das Essen vorverlegen. So hast du auch alles schneller hinter dich gebracht und darfst durchatmen.« Abrupt drehte sie sich um und lief in den Vorraum, wo sie ihre Handtasche abgelegt hatte. Sie zog das Handy aus dem Seitenfach und wählte Mollys Nummer.

Als Molly abhob, legte Pamela sofort los: »Wir haben uns etwas verpeilt und sind quasi ready. Wollt ihr nicht jetzt schon zu uns kommen?«

Molly jauchzte auf. »Liebend gern! Um ehrlich zu sein, sind wir nämlich längst da. Nat hatte die Idee, vor dem Abendessen einen gemütlichen Spaziergang am Seeufer zu machen, aber ich erfriere. Der Wind beißt scheußlich.«

Pamela lachte auf. »Dann dreht um und begebt euch flott ins Warme.« Sie steckte das Telefon in die Tasche und ging zurück in die Küche.

Lilly hatte inzwischen zwei Gläser Wein eingeschenkt und sich an den Tisch gesetzt.

Pamela nahm ebenfalls Platz, hob ihr Glas und prostete Lilly zu. »Wir haben noch nicht darüber gesprochen, wann du es deinen Eltern sagen willst.«

»So rasch wie möglich. Am liebsten würde ich mit dir nach Florida fliegen und ihnen die Neuigkeit persönlich mitteilen. Bei Mum und Dad ergeht es mir wie bei dir mit Nat – ich verspüre pure Vorfreude. Sie haben sich immer ein Leben für mich gewünscht, das trotz der Umstände zumindest annähernd dem Standard entspricht: eine feste Partnerin, Heirat, Kinder. Das geht nun in Erfüllung.«

»Deine Eltern müssen toll sein. Ich würde sie gern kennenlernen.« Pamela senkte den Blick. »Gegenwärtig kann ich das Hotel selbst für wenige Tage nicht verlassen. Auch wenn die Bauarbeiten abgeschlossen sind und der normale Zimmerpreis verlangt wird, laufen wir mit Vollbelegung weiter, und es fehlt Personal. Ich hoffe, das wird sich im Laufe des nächsten Jahres ändern. Notfalls musst du allein –« Das Geräusch der sich öffnenden Eingangstür unterbrach Pamela. Schnell sagte sie: »Sprechen wir später darüber. Bestimmt finden wir eine Lösung.« Kaum dass sie ausgesprochen hatte, erschienen Molly und Nat bereits in der Küche.

Lilly schnellte hoch und hätte beinahe den Stuhl umgeworfen. »Wie schön, dass ihr da seid! Molly, setz dich auf deinen Platz, wir halten ihn extra frei.«

»Bis heute weiß ich nicht, warum mich genau diese Stelle von Anfang an angezogen hat. Als ich hier gewohnt habe, gab es für mich in der Küche ausschließlich diesen einen Stuhl. Ich habe das richtig ritualisiert – verrückt, nicht wahr?«, entgegnete Molly.

Lilly schenkte zwei Gläser ein und reichte sie Molly und Nat. »O nein, das ist gar nicht verrückt. Ich verstehe das. Tief in deinem Inneren hast du dich sofort zu Hause gefühlt, und dieser Stuhl war eine Art Symbol. Es dauert nur eine Weile, bis man das erkennt. Glücklicherweise bist du dahintergekommen und hast die Tatsache angenommen, wohin du wirklich gehörst. Ach, was rede ich da? Wenn ich nervös bin, plappere ich einfach vor mich hin.« Ihr Blick schwenkte zu Pamela. »Bitte, erlöse mich …«

Nat fixierte seine Schwester. »Was ist los?«

Pamela faltete die Hände. »Es ist wohl tatsächlich besser, wir sprechen vor dem Essen darüber, sonst hört Lilly nicht auf zu quasseln und bringt keinen Bissen hinunter. Ich mache es kurz: Lilly und ich haben beschlossen, zu heiraten. Das ist aber noch nicht alles. Wir wollen ein Adoptionsverfahren in die Wege leiten und eine kleine Familie gründen. Ihr seid die Ersten, die es erfahren.«

Nat öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder.

Dafür reagierte Molly prompt. Sie sprang auf, umrundete den Tisch und umarmte zuerst Pamela und dann Lilly. »Du liebe Güte! Das sind ja wunderbare Neuigkeiten. Ich glaube es nicht!« Als sie erneut Platz nahm, sah sie Nat an. »Sagst du nichts dazu?«

Nat nickte, benötigte allerdings eine Weile, bis er endlich antwortete. »Entschuldigt, ich bin … ergriffen. Ich bekomme eine Schwägerin und werde Onkel. Damit wächst unsere ganze Familie. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen.«

»Dein Dasein als Onkel wird leider warten müssen. Bis jetzt haben wir nur Informationen eingeholt und erfahren, dass der Prozess zwei Jahre und länger dauert. Nächste Woche haben wir einen Termin bei einer Adoptionsagentur, danach wissen wir mehr«, entgegnete Pamela.

»Gibt es nicht mehrere Adoptionsmöglichkeiten?«, erkundigte sich Molly. »Zumindest in den USA ist es so.«

Lilly bejahte die Frage. »Hier in Kanada ebenfalls, und zwar grundsätzlich vier: eine öffentliche oder private Adoption, die internationale, wo man Kinder aus anderen Ländern zu sich holen darf, und schließlich die sogenannte verwandtschaftliche, aber die kommt in unserem Fall nicht zum Tragen.«

»Was strebt ihr an?«, wollte Molly wissen.

»Wir werden uns beraten lassen. Obwohl ein solches Unterfangen nicht von heute auf morgen geschehen kann, möchten wir nicht jene Variante wählen, die am längsten dauert. Es wäre schön, wenn sich der Zeitraum eingrenzen ließe«, erklärte Pamela.

»Mädchen oder Junge? Und wie alt soll das Kind sein? Habt ihr auch an künstliche Befruchtung gedacht? Wie werdet ihr das mit der Arbeit machen?« Lachend schüttelte Nat den Kopf. »Sorry, ich bin echt aufgewühlt. All das könnt ihr wahrscheinlich großteils noch gar nicht beantworten.«

»So ist es«, entgegnete Lilly. »Geschlecht und Alter sind uns egal. Ein Baby zu adoptieren, benötigt wohl die meiste Geduld, und ich glaube, dass wir –« Plötzlich fuhr sie hoch und rief: »Ach nein! Das Brathähnchen … Wir haben es ganz vergessen.«