Kapitel 18

Molly betrat die Tavern, hängte ihren Mantel an die Garderobe und steuerte direkt auf die Bar zu, wo sie Jim erspäht hatte. Sie erklomm den Hocker neben ihm und rieb sich die Hände. »Es ist eiskalt draußen. In New York habe ich den nahenden Winter deutlich weniger gespürt.«

Jim schmunzelte. »Bei uns ist es auch um einiges rauer. Außerdem findest du hier nirgendwo Straßenschluchten mit wärmespeichernden Hochhäusern. Der Wind weht ungebremst über das Land.« Er bedachte Molly mit seinem typisch prüfenden Blick. »Du siehst etwas abgekämpft aus. Liegt das an der Kälte oder hast du Stress?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Eine Kombination aus beidem wahrscheinlich. Darüber hinaus denke ich ständig zu viel nach. Mittlerweile weißt du, wie ich bin.«

»Oh, dieses Laster teilen wir. Deshalb kann ich dich bestens verstehen. Bei mir sind es gerade Ann, Morris und Elisabeth, Lauries Schwangerschaft, Pamelas und Lillys Pläne, und zu allem Überfluss kommt nun deine Chefin aus New York hinzu. Habe ich etwas vergessen? Natürlich: Dorothy und Jack. Was ist es bei dir?«

Jim hatte in einem Satz gleich mehrere Punkte angesprochen, auf die Molly unbedingt näher eingehen wollte. Am besten, sie brachte ebenfalls alles auf einmal dar. »Lassen wir mich vorerst beiseite. Hast du mit Morris gesprochen? Wie geht es Elisabeth? Was meinst du mit Pams und Lillys Plänen?« Sie beugte sich vor. »Und zum Thema Dorothy und Jack habe ich eine geheime Information, du darfst also nichts weitererzählen.«

Jim blies die Wangen auf. »Du liebe Güte, Molly! So viele Fragen in einem Abwasch. Warte, alles der Reihe nach.«

Sie konnte nicht anders, als breit zu grinsen. »Nur ein kleiner Vorgeschmack auf Nora. Du hast nicht vergessen, was ich dir über sie berichtet habe?«

»Sie steckt voller Leben, und ihr Geist ist überaus rege. In ihren Aussagen spricht sie fünf Themen zugleich an und springt zwischen ihnen hin und her.« Jim lächelte und tippte sich an die Schläfe. »Jedes Wort, das du je über Nora erwähnt hast, ist fest verankert. Es geziemt sich nicht, immerhin treffe ich mich mit Ann und nenne sie meine Freundin, aber ich freue mich schon sehr darauf, Nora endlich kennenzulernen.«

Molly sah ihn erstaunt an. »Was sollte daran verwerflich sein, sich auf jemanden zu freuen?«

Jim wirkte regelrecht verlegen. »Nun, wie du weißt, habe ich eine unwiderlegbare Schwärmerei für deine mir unbekannte Chefin entwickelt. Auch wenn ich dich nicht weiter über sie ausfrage, ist sie doch in meinen Gedanken – intensiver und anders, als sie es sein dürfte.« Er verdrehte die Augen. »Was bin ich für ein alter Narr. Am Anfang meines Studiums hatte ich knapp hintereinander drei Liaisons – das war meine sogenannte wilde Zeit –, dann habe ich bereits meine Frau kennengelernt. Soll ich jetzt, mit über fünfzig Jahren, beginnen, mich wie ein Teenager zu verhalten? Eine Frau im Arm, eine zweite, von der ich träume? Lass uns von etwas anderem reden, an Inhalten mangelt es nicht.«

Molly nickte. »Okay. Was hältst du von einem kleinen quid pro quo-Spiel, um all die Fragen zu stellen und zu beantworten?«

»Ach Molly, welch wunderbare und kreative Idee! Liebend gerne. Du ahnst nicht, wie sehr ich es genieße, dass du nach Maple Creek gezogen bist. Allein deswegen …«, entgegnete Jim und öffnete einladend die Hände. »Du beginnst.«

»In Ordnung. Wie geht es Morris und Elisabeth?«

»Ich habe Morris heute in meinem Büro getroffen – auf einen Männerplausch sozusagen, mit Kaffee und Zigarre. Elisabeth wird entlassen, es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Wichtig ist in dieser Phase, ihr die Rückkehr in den Alltag zu erleichtern. Dabei können wir helfen. Morris will mit allen darüber sprechen und die notwendigen Informationen liefern. Nun bin ich an der Reihe«, sagte Jim und fragte sogleich: »Welches Geheimnis gibt es rund um Dorothy und Jack?«

Molly warf einen schnellen Blick in Richtung Tom, der auf der anderen Seite der Bar stand und mit Doctor Strauss beschäftigt war. »Tom organisiert als Überraschung für Laurie einen Anbau bei ihrem Haus. Jack übernimmt die Planung. Tom versucht es so zu drehen, dass er zur selben Zeit hier sein wird wie Dorothy – den Rest müssen die beiden selbst regeln.«

»Eine hervorragende Idee von Tom. Du bist dran …«, erwiderte Jim.

»Was weißt du über Pamelas und Lillys Vorhaben?«

»Ich denke, alles. Pam hat mich in meiner Funktion als Anwalt besucht und über die Adoptionswünsche informiert. Eventuell benötigen die beiden meinen anwaltlichen Beistand.« Jim streckte die Wirbelsäule durch. »Wenn das der Fall sein sollte, darf ich nicht mehr darüber sprechen – Pam und Lilly können selbstverständlich preisgeben, was sie wollen. Machen wir bei dir weiter. Obwohl du fröhlich scheinst, belastet dich etwas. Ich sehe das.«

Bevor Molly antworten konnte, trat Tom zu ihnen. »Sorry, aber unser guter Doc war gerade sehr mitteilungsbedürftig. Nun kenne ich einige Details über die Geburt, die ich lieber nicht gewusst hätte. Was darf es für dich sein, Molly, einen Tom’s Maple?«

»Heute nicht, ich brauche einen Energieschub.«

Tom tat, als müsste er einen Augenblick überlegen. »Also eine Lauries Maplemilk. Ehe ich es vergesse, bist du nur auf einen Sprung hier oder kommt Nat nach? Laurie muss nämlich mit dir sprechen. Sie will in der Maple Creek News Time eine Annonce wegen eines Kochs schalten.«

»Nat kommt in etwa einer Stunde. Wir essen bei euch«, erklärte Molly.

»Perfekt, dann haben wir keine Eile.« Tom tat zwei Schritte zur Seite, hielt inne und kam wieder zurück. »Es würde mich freuen, wenn ihr Samstagabend vorbeischauen würdet. Laurie und ich waren beim Ultraschall, wir haben Fotos! Die möchten wir euch zeigen und feiern – dezent und sittlich feiern, natürlich. Wie es sich gehört mit einer Schwangeren in der Runde.« Ein Strahlen nahm sein Gesicht ein. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie es ist, sein Baby auf einem Monitor zu sehen. Ich schwöre, ich musste die Tränen zurückhalten, so gerührt war ich.«

Wie glücklich er ist, fuhr es Molly durch den Kopf, und wider Willen verkrampfte sich ihr Herz. Unmerklich atmete sie tief durch und ermahnte sich, ihre ewigen Gefühlsstürme endlich abflachen zu lassen. Was rund um sie herum geschah, hatte nichts mit ihr zu tun, und es war falsch, alles in irgendeiner Form auf sich zu projizieren.

Laurie und Tom bekamen ein Baby, Pamela und Lilly heirateten, weshalb sollte Nat deshalb plötzlich darüber reden und selbst in diese Richtung planen wollen? Es handelte sich um den Lebensrhythmus der anderen, nicht um ihren. Sie musste daran arbeiten, diese Übersensibilität abzulegen, sonst würde sie letztlich etwas heraufbeschwören, das sich negativ auf ihre und Nats Zweisamkeit auswirkte.