Kapitel 20

Jim saß in seinem Büro und blickte aus dem Fenster. Cicero lag unter dem Schreibtisch zu seinen Füßen und schlief. Mit zunehmendem Alter benötigte er immer mehr Ruhe, doch noch machte Jim sich keine Sorgen um ihn. Erst kürzlich hatte er mit Cicero den Tierarzt für die jährliche Kontrolluntersuchung aufgesucht. Es beruhigte ihn zu wissen, dass sein Hund kerngesund war, und er wollte nicht darüber nachdenken, was die ferne Zukunft brachte.

Von selbst glitten seine Gedanken von Cicero zu ihm selbst. Wie würde er die nächsten Jahre wohl verbringen? Das letzte Gespräch mit Molly in der Tavern hatte ihn angeregt, ernsthaft über seine momentane Situation zu sinnieren und damit ebenso sein restliches Leben zu betrachten. Auch wenn es ihm widerstrebte, würde er bald eine Entscheidung zu treffen haben.

Seit Lucys Unfalltod hatte er keine neue Liebe an seiner Seite zugelassen. Die erste Frau, bei der er aufgehorcht hatte, war wirklich Nora gewesen. Mit ihr war der grundsätzliche Wunsch in ihm hochgekommen, nicht alles im Singledasein bestreiten zu wollen, sondern erneut teilen zu dürfen. Nach wie vor befand sich Nora in seinem Fokus, und wenn er sich der Illusion hingab, sie an seiner Seite zu haben, verspürte er ein leises sehnsüchtiges Ziehen. Wie irrational diese romantischen Gefühle waren, wusste er natürlich – er kannte Nora nicht einmal persönlich. Nichtsdestoweniger ließen sie sich nicht verdrängen. Seiner sachlichen Überlegung zufolge barg er offensichtlich ein gewisses Wunschbild, das sich in Nora manifestiert hatte. Dabei war er mit Ann zusammen.

Dass diese Verbindung nicht reibungslos und harmonisch verlief, wurde ihm mit jedem Tag klarer, den er mit Ann gemeinsam verbrachte. Aber er gab nicht auf. Es lag nicht daran, dass er sich davor fürchtete, wieder allein zu sein. Vielmehr war es das Empfinden, nicht genug in diese Beziehung zu investieren. Manchmal fragte er sich, ob er es verlernt hatte, sich normal zu verhalten. Auch wenn Ann ihre wahren Bedürfnisse nicht offenbarte – was ihn neben der Eifersucht am meisten störte –, ahnte er, was ihr fehlte. Sie wünschte sich einfach, mehr in sein Leben eingebunden zu werden. Die andere Möglichkeit anzunehmen, dass ihr Verhalten auf reinen Charaktereigenschaften basierte, würde die Beziehung mit einem Schlag zerstören – und das wollte er nicht, noch nicht. Vielmehr war es wichtig, Ann ein besseres Grundgefühl zu vermitteln und ihr Halt zu geben. Was konnte er Sinnvolleres dafür tun, als sie am Samstag in die Tavern mitzunehmen?

Untrennbar war er mit seinen Freunden verbunden, und da er mit Ann einen Schritt in die richtige Richtung zu gehen gedachte, gehörten sie dazu. Ihre Eifersucht lag möglicherweise ohnehin nur darin begründet, dass sie sein Umfeld nicht kannte und somit im Dunkeln tappte. Gern erzählte er ihr von den kleinen und größeren Ereignissen in Maple Creek. Doch konnte Ann überhaupt etwas damit anfangen? Die Personen waren ihr fremd.

Jim stieß einen Brummton aus. Wenn alles an seinem falschen Verhalten lag, warum hatte er dann das merkwürdige Empfinden, dass er Entschuldigungen für Ann suchte? Es war ein legitimer Wunsch, den Freundeskreis des Partners kennenzulernen. Aber was war der Auslöser? Ging es Ann darum, die Menschen in seinem Umfeld als liebe Bekannte zu gewinnen, oder darum, ihn einzunehmen? Beinahe hatte er ein schlechtes Gewissen wegen dieses Gedankens, wobei er nicht von der Hand zu weisen war. Selbst hatte sie keine Freunde. Es sollte zumindest ein oder zwei beste Freundinnen geben, Reiterinnen wie sie, mit denen sich Ann auf einen Kaffee traf, ausritt oder am Telefon plauderte. Egal wie alt man war, brauchte man Menschen um sich, die man gernhatte. Er gab einen ächzenden Laut von sich und warf einen Blick auf den nach wie vor schlafenden Cicero.

Ann würde seine Freunde zu einem schönen Anlass kennenlernen – er selbst war schon gespannt auf die Ultraschallfotos – und sich hoffentlich in der kleinen Gruppe gut aufgehoben wähnen. Danach würde die Situation sicherlich besser werden. Darüber nachzudenken, was andernfalls geschah, verbot sich Jim. Er wollte nicht über ein Ende sinnieren, wenn die Möglichkeit auf ein positives Miteinander zum Greifen nahe lag. Die Vorstellung allein versetzte ihm bereits einen Stich – erstaunlicherweise zudem ein weiteres Gefühl: Erleichterung.

Irritiert über diese zusätzliche Empfindung schüttelte Jim den Kopf und stand abrupt auf. »Komm, Cicero, machen wir einen Spaziergang. Dein Herrchen versteht sich selbst nicht mehr, und sein Gehirn verlangt dringend nach frischer Luft, um wieder klar zu werden.«

Worin hatte er sich bloß verstrickt? Die Veränderungen hatten sein Leben bereichert, genauso belasteten sie ihn. Warum sonst verspürte er Erleichterung bei einem an sich traurigen Ereignis? In der Tat wühlte ihn diese jähe Erkenntnis außerordentlich auf. Ging es letzten Endes gar nicht um eine illusorische Vorstellung mit Nora, sondern vielmehr um den unerfüllbaren Wunsch, Ann wäre schlichtweg ein anderer Typ? Sie war ohne Zweifel eine wunderbare Frau, aber deshalb musste sie noch lange nicht mit ihm harmonieren.

Als Cicero endlich aufstand und sich streckte, konnte es Jim nicht schnell genug gehen, das Haus zu verlassen. Die Bewegung in der Kälte würde seine wirren Gedanken vertreiben.