»Ich kann mich nicht sattsehen«, erklärte Lilly und legte die Ultraschallfotos achtsam zurück in die Box.
»Wie oft hast du sie dir mittlerweile angeschaut? Dreimal?«, fragte Pamela.
Jim streckte die Finger seiner rechten Hand hoch. »Fünfmal, ich habe mitgezählt.« Er wandte sich an Ann. »Möchtest du etwas anderes trinken? An dem Tom’s Maple hast du nur genippt. Einen Kaffee vielleicht?«
»Nein danke.« Sie lächelte und senkte die Lider.
Tom klopfte Nat auf die Schulter. »Wir beide nehmen aber noch einen, oder? Elisabeth, darf ich dir eine weitere Lauries Maplemilk zubereiten? Ich freu mich, dass dir der Shake so gut schmeckt.«
»O ja, sehr gern.« Elisabeth nickte eifrig.
»Sollten wir nicht langsam nach Hause? Es ist spät, und du brauchst Ruhe«, sagte Morris und bedachte seine Frau mit einem sorgenvollen Blick.
»Gönn mir eine zusätzliche halbe Stunde. Ich bin so glücklich, wieder hier zu sein.« Elisabeth sah der Reihe nach jeden an. »Ihr alle habt in der Vergangenheit einiges mit mir durchgestanden und seid heute so nett zu mir. Ich danke euch dafür.« Schnell wischte sie sich über die Augen.
»Ach, Elisabeth, wir gehören doch alle zusammen und müssen uns gegenseitig unterstützen. Wozu in alten Wunden herumstochern?«, antwortete Pamela.
Elisabeth stand die Rührung ins Gesicht geschrieben. »Ich hoffe inständig, dass ich diese Krankheit besiegen kann. Wie ihr damit umgeht, so offen und normal, hilft mir enorm. Das ist alles nicht selbstverständlich, und ich weiß es zu schätzen.«
»Wir drücken dir die Daumen, Elisabeth«, erwiderte Laurie und streichelte über ihren Bauch. Lachend blickte sie an sich hinab und erklärte: »Ich tue das ständig, völlig automatisch, und es fällt mir teilweise gar nicht auf. Dabei ist noch fast nichts zu bemerken. Mein Bauch sieht gerade einmal so aus, als hätte ich zu viel gegessen.«
»Es dauert nicht mehr lange, dann wirst du kugelrund sein«, entgegnete Pamela. Sie räusperte sich. »Weil wir heute alle beisammen sind und es irgendwie zum Thema dieses Abends passt, würden Lilly und ich euch gerne etwas mitteilen.«
»Eine Neuigkeit? Raus damit«, forderte Tom Pamela auf zu sprechen, während er die Getränke verteilte.
»Okay, wie bei einem Pflaster reiße ich es mit einem Ruck ab: Lilly und ich werden heiraten und bewerben uns für eine Adoption. Gestern hatten wir unseren ersten Termin bei einer Agentur. Seitdem beratschlagen wir, welche Form der Adoption wir anstreben sollen.«
»Eigentlich haben wir uns bereits entschieden«, warf Lilly ein. »Wir werden eine internationale Adoption anstreben. Es liegt nicht nur daran, in diesem Bereich gute Chancen zu haben, auch sind wir ganz beseelt von dem Gedanken, einem armen Kind von irgendwo auf der Welt ein Zuhause geben zu können.«
Laurie reagierte als Erste. »Ich habe schon darauf gewartet, dass ihr uns endlich offiziell von der Sache erzählt. Es ist einfach wunderbar, was ihr vorhabt.« Sie zog erst Pamela und dann Lilly in die Arme.
Tom folgte ihrem Beispiel, auch Morris und Elisabeth schlossen sich mit herzlichen Gratulationen an. Sogar Ann entkam ein verhaltenes »Alles Gute für eure Zukunft«, und sie blickte daraufhin Jim fragend an.
»Ich bin durch meine anwaltliche Funktion im Bilde und habe längst ausgiebig gejubelt. Nun sind die anderen an der Reihe«, erklärte er und lehnte sich zurück.
Lilly grinste. »Woher weißt du es, Laurie?« Sie deutete auf Molly. »Ich tippe auf dich, nichts für ungut – ich liebe das ja.«
Molly schnalzte mit der Zunge. »Da irrst du dich gewaltig. Dieses Mal haben die Männer getratscht.«
»Es ist zwar kaum zu glauben, aber wahr. Nat hat es Tom geschildert und der mir.« Laurie drückte die Handinnenflächen auf die Wangen und sagte lachend: »Ich glühe richtig vor Begeisterung. Das müssen die Hormone sein. Bei allem, was mit den Themen Kind und Partnerschaft zusammenhängt, könnte ich auf der Stelle zu heulen beginnen – riesengroße Kullerfreudentränen.«
Tom küsste sie. »Ich liebe diese neue zarte Seite an dir. Außerdem wirst du immer schöner. Ist dir überhaupt bewusst, wie du strahlst?«
Jim stimmte zu. »Das ist wahr. Dich umgibt eine besondere Aura, Laurie.«
Sie verdrehte die Augen. »Hört auf! Das macht mich verlegen.«
Molly, die den Abend bis jetzt mehr mit Beobachten als Reden zugebracht hatte, gab Tom und Jim in Gedanken recht. Laurie hatte sich tatsächlich verändert. Ihre Haut schimmerte rosig, die Lippen waren voll und in den Augen meinte sie, ein Glimmen zu erkennen. Von Anfang an hatte sie Lauries offene und manchmal resolute Art gemocht, nun war eine gewisse Sanftheit hinzugekommen, die sie wahrhaft schier unwiderstehlich machte. Entschieden verdrängte sie das leise Ziehen in ihrem Herzen und ermahnte sich aufs Neue, ihre persönliche Situation nicht mit denen der anderen zu vergleichen. Ihr Leben und ihre Umstände hatten nichts mit Laurie und Tom oder Pamela und Lilly zu tun. Nat und ich folgen unserem eigenen Rhythmus. Ich darf mich nicht in die Welt der anderen stürzen, und wenn es sein muss, bete ich mir das noch hundertmal vor.
Als hätte Nat ihre Grübeleien aufgenommen, ergriff er ihre Hand und fragte: »Du bist heute so still?«
Molly lächelte. »Es hat keinen bestimmten Grund, alles ist in Ordnung. Ich bin nur etwas müde – die Woche war anstrengend.«
Wie auf Befehl gähnte Laurie. »Wem sagst du das! Ich selbst komme aus der Trägheit nicht mehr heraus.«
»Morgen kannst du ausschlafen, der Sonntag ist euer freier Tag«, bemerkte Jim.
»Genau genommen hoffe ich, dass mein Telefon nicht stillsteht. Heute ist die Annonce für den Koch in der Maple Creek News Time erschienen. Je mehr Personen sich bewerben, desto besser. Molly hat die Anzeige übrigens ganz toll platzieren lassen.«
Elisabeth räusperte sich und blickte Molly eine Weile lang an, bevor sie zu sprechen begann. »Ich möchte dir nicht noch mehr Arbeit aufhalsen, aber ich habe eine Bitte an dich. Es ist auch gar nicht wichtig, und falls du keine Zeit oder Lust dazu hast, sag es mir.«
»Worum geht es denn? Wenn ich kann, helfe ich dir gerne«, antwortete Molly.
Elisabeth wirkte verlegen. »In der Klinik habe ich an einem Kreativschreibkurs teilgenommen, und man hat mir mitgeteilt, dass ich gut darin sei. Ich möchte das weiterverfolgen, will davor jedoch eine ehrliche Meinung einholen. Würdest du lesen, was ich verfasst habe?«
»Natürlich. Willst du es mir per Mail schicken? Dann gebe ich dir meine Adresse.«
»Um ehrlich zu sein, habe ich es ausgedruckt und mitgenommen.« Elisabeth griff in ihre Tasche, die über der Lehne des Barhockers hing, zog eine dünne Mappe heraus und überreichte sie Molly.
»Ich sehe es mir an und melde mich bei dir. Moment! Ich habe deine Handynummer nicht.«
»Ich schicke sie dir«, sagte Morris und bedachte Molly mit einem dankbaren Blick.
Molly wollte gerade etwas erwidern, als sich die Tür der Tavern öffnete und ein elegant gekleidetes Paar – er im Anzug, sie in einem dunkelgrauen Kostüm – das Lokal betrat.
Die Frau kam direkt auf sie zu.
»Du meine Güte, das ist Charlotte«, flüsterte Pamela.
Während der Mann in einigem Abstand stehen geblieben war, hielt Charlotte erst knapp vor ihnen an. »Hallo zusammen. Laurie, hast du für späte Gäste unter Umständen noch die Küche geöffnet? Wir haben lange gearbeitet und sterben vor Hunger. Ihr habt es womöglich schon gehört. Ich habe meinen Lehrgang abgeschlossen und mich selbstständig gemacht.«
»Die Küche ist geschlossen, die Tavern genau genommen auch«, entgegnete Laurie kühl.
Charlotte lachte gekünstelt auf. »Habe ich doch glatt vergessen, welch verschlafenes Nest Maple Creek ist. Es wird Zeit, alles ein wenig zu beleben. Ich wünsche euch einen schönen Abend.« Sie drehte sich ihrem Begleiter zu und sagte laut: »Wir müssen weiterfahren. Hier gibt es nichts mehr.« Dann erst setzte sie sich in Bewegung und stolzierte auf den Ausgang zu. Der Mann hob die Hand zum Gruß und folgte ihr.
»Ich könnte ihr die Augen auskratzen«, zischte Laurie, sobald die beiden das Lokal verlassen hatten. »So viele Glückshormone kann mein Körper gar nicht produzieren, dass ich bei Charlottes Ansicht ruhig bleibe.«
»Womit – bitte – hat sie sich selbstständig gemacht? Weiß das jemand von euch?«, fragte Tom.
Lilly hüstelte. »Mit einer Werbeagentur. Und offensichtlich versucht sie, meine Kunden abzuwerben. Laurie, teilen wir uns ihre Augen? Eines du, eines ich.«
Jim tippte sich an die Stirn. »Jetzt begreife ich! Sie hat vor mehreren Wochen bei mir angerufen und wollte einen Termin wegen einer wichtigen Angelegenheit. Ich habe sie darum gebeten, einen anderen Anwalt zu konsultieren. Es ist sicherlich um die Firmengründung gegangen.«
Ann sah Jim mit einem erstaunten Blick an. »Du hast einen Kunden abgelehnt? Noch dazu, ohne zu wissen, worum es geht?«
»Ich befinde mich in der glücklichen Position, nicht jeden Klienten annehmen zu müssen – Charlotte steht weit oben auf meiner No-Go-Liste«, erklärte Jim.
Molly kannte ihren väterlichen Freund gut genug, um zu bemerken, dass Jim die Frage nicht behagte. Sie verstand ihn. Es hatte etwas nahezu Beißendes und Abschätziges in Anns Worten gelegen. Oder irrte sie sich? Immerhin hatte Jims Freundin den ganzen Abend über kaum gesprochen. Vielleicht war dies ihre normale Stimmlage.