Kapitel 37

Wenngleich Molly keine einzige Minute unbeobachtet gewesen war, hatte sie es vor der Abfahrt vom Standesamt zurück nach Maple Creek geschafft, Laurie eine Nachricht zu schreiben: Achtung! Wir fahren los. Zu mehr war sie in der Situation nicht gekommen.

»Der Beamte hat es trotz aller Sachlichkeit schön gestaltet, was meint ihr?«, fragte Lilly und beugte sich vor. Sie und Pamela saßen auf dem Rücksitz des Wagens. »Trotzdem hätte ich nicht gedacht, dass es so schnell geht. Ein paar Worte, alle unterschreiben, und wir waren vermählt.«

»Ich fand seine kurze Rede über den Sinn des Bundes durchaus ergreifend. Er hat den Eindruck gemacht, als würde er gern länger auf die Eheleute eingehen, gäbe es den straffen Zeitplan nicht. Die nächsten zwei Paare haben schon gewartet.« Molly legte ihre Hand auf Nats Oberschenkel, kniff ihn und schenkte ihm einen bedeutsamen Blick. Sie hoffte, dass er ihn aus dem Augenwinkel wahrnahm und richtig zu deuten wusste. Sicherheitshalber fügte sie hinzu: »Ein wenig mehr Zeit hätte er sich dennoch nehmen können.«

»Die Straßen sind nass, und die Temperatur liegt an der Null-Grad-Grenze. Ich werde langsam fahren«, bemerkte Nat.

Molly lächelte dankbar. Sie waren fast eine halbe Stunde zu früh auf der Rückfahrt und mussten ihre Ankunft, so gut es ging, hinauszögern. Hoffentlich schafften die anderen es, mit den Vorbereitungen fertig zu werden. Glücklicherweise gab es mit Dorothy und Jack vier zusätzliche helfende Hände.

Eine Weile lang schwiegen alle, und Molly durchlief in Gedanken sämtliche Schritte, die für die Überraschung von Pamela und Lilly gerade durchgeführt wurden.

Schließlich durchbrach Pamela die Stille. »Kannst du nicht doch ein bisschen mehr aufs Gas steigen, Nat? Je früher wir im Hotel sind, desto beruhigter bin ich. Wir haben alle für vier Uhr zu uns gebeten. Ich hätte gern zumindest den Mantel ausgezogen, wenn sie kommen.«

Nun war es Nat, der mit einer knappen Bewegung anzeigte, dass er Unterstützung brauchte.

Molly nickte kaum merklich. »Nat fährt wegen mir so langsam. Ich habe Angst, wenn die Straßen glatt sind. Als Großstädterin ist es nicht so leicht, sich an den hiesigen Umgang mit den Wetterverhältnissen zu gewöhnen. Für mich scheinen alle viel zu flott unterwegs zu sein.« Sie drehte sich zu Pamela und Lilly um. »Sagt mal, habt ihr gewusst, dass Elisabeth und Franklin einander von ganz früher gut kennen? Franklin ist ein toller Boss, aber er steckt voller Geheimnisse.«

Pamela sprang unverzüglich darauf an. »Was meinst du mit gut kennen? Der Altersunterschied ist doch nicht so gering.«

»O nein, klang das zweideutig? Ich meinte nicht, dass die beiden ein Verhältnis hatten. Elisabeths Vater war Englischlehrer und offensichtlich Franklins Mentor«, erklärte Molly. »Als ich ihm Elisabeths Texte gezeigt habe, hat er das mit keiner Silbe erwähnt. Erst als sie in der Redaktion zu Besuch war und ich ihn direkt gefragt habe, ist er damit herausgerückt.«

»Genau! Mister Silverwood … Er war bereits in Rente, als ich in die Highschool gegangen bin, aber Geschichten gab es genug über ihn. Er soll extrem streng gewesen sein. Mrs und Mister Silverwood haben Elisabeth erst spät bekommen. Sie hatten nicht mehr mit einem Kind gerechnet. Franklin ist an die sechzig Jahre alt. Ja, das passt perfekt«, überlegte Pamela.

»Ich bin zwar ein Neuzugang in Maple Creek, fände es jedoch riesig interessant, genau diese kleinen Geschichten zusammenzuschreiben – wenn ich die Befähigung dazu hätte«, bemerkte Lilly.

»Du meinst eine Maple-Creek-Chronik?«, fragte Molly sofort. Sie war dankbar für jedes Thema, das Pamela die kriechende Fahrt vergessen ließ.

»Ja. Ich bin von jeher fasziniert davon. Wer stand mit wem in Kontakt? Was steckt hinter einer besonderen Familien-Freundschaft oder Fehde? Welche Verbindungen gibt es zwischen den Menschen? Einfach alles.«

»In einer solchen Chronik steckt sicherlich eine immense Recherchearbeit.« Pamela schmunzelte. »Behalten wir es für unsere Rentenzeit im Gedächtnis. Wir kramen, Molly schreibt.« Sie hob die Hand und wies auf das Ortsschild von Maple Creek. »Endlich, wir sind gleich da. Ich sitze auf einem Nadelkissen.«

Nat bog in die Einfahrt, die zum Maple Lake Inn führte, ein. »Beruhige dich, Pam. Wir befinden uns im Zeitrahmen.«

»Du hast leicht reden, Bruderherz. Ich muss –« Pamela starrte auf die parkenden Autos vor dem Hotel. »O Gott, nein! Sie sind alle schon da.« Kaum dass Nat angehalten hatte, sprang sie aus dem Wagen. »Zuvor war ich nicht aufgeregt. Warum bin ich es jetzt auf einmal?«

Lilly lachte. »Ich war es dafür vor dem Standesamt. Das nennt man ausgleichende Gerechtigkeit.« Sie stieg ebenfalls aus.

Molly blieb sitzen, zückte ihr Handy und schrieb eine weitere Nachricht an Laurie: Angekommen! Hinterher gesellte sie sich zu Pamela und Lilly. Nat, der inzwischen zum Eingang gelaufen war, öffnete die Tür.

Pamela trat als Erste ein und blickte Mary erstaunt an, die hinter der Rezeption stand. »Warum bist du hier am Empfang?«

»Ach, Timothy ist draußen. Er holt irgendetwas«, entgegnete diese und zuckte betont gleichgültig mit den Schultern.

Pamela hob den Kopf und lauschte. »Wer macht da Musik?«

»Nun geh schon in den Frühstücksraum, und frag mir keine Löcher in den Bauch«, antwortete Mary. »Los!«

Pamela sah erst Lilly an, dann Molly und Nat. »Was …?«

Nat hakte Pamela und Lilly unter. »Tun wir das, was Mary sagt.« Er setzte sich in Bewegung und zog die beiden mit sich.

Molly überholte die drei und öffnete die Tür des Frühstücksraums. Mit einem breiten Lächeln vollführte sie eine einladende Handbewegung.

Während Nat verharrte, traten Pamela und Lilly ein.

Molly beobachtete jede Regung der beiden. Ihre Blicke glitten mit einem erstaunten Ausdruck durch den Raum, und endlich erschien ein Strahlen auf ihren Gesichtern. Molly atmete erleichtert auf und betrachtete nun ihrerseits das Zimmer.

Die Freunde hatten ganze Arbeit geleistet. Bestimmt an die fünfzig weiße Luftballons waren überall verteilt, und an jedem möglichen Platz standen Gestecke und Vasen mit ebenfalls weißen Blumen. Auf den Tischen lagen Tischtücher, und die Fenster waren mit gerafftem Tüll und Girlanden verziert. Alle hatten sich im Halbkreis mit einem Glas Sekt in der Hand positioniert. Die Männer trugen dunkle Anzüge, Laurie, Elisabeth und Dorothy elegante Cocktailkleider. Jim hatte das Lied Make you feel my love gewählt.

Timothy trat vor. Er trug ein Silbertablett mit zwei Gläsern darauf. »Bitte.«

Offensichtlich noch immer völlig verblüfft griffen Pamela und Lilly nach den Gläsern.

Jim drosselte die Musik und begab sich in die Mitte des Raums. »Liebe Pamela, liebe Lilly. Es obliegt mir, euch beiden für die gemeinsame Zukunft die besten und innigsten Wünsche eurer Freunde zu übermitteln. Wir schätzen uns überglücklich, diesen Moment mit euch teilen zu dürfen.« Kurz hielt er inne. »In den letzten Monaten ist viel geschehen in eurem Leben. Ich will nicht sagen, ihr hättet keinen Stein auf dem anderen gelassen, aber es kommt dem sehr nahe. Im Grunde hat alles mit dem Maple Lake Inn begonnen: Pamela ist Hoteldirektorin geworden und hat in diesem Zuge Lilly kennen und Hals über Kopf lieben gelernt. Dass wir heute hier stehen und eure Hochzeit feiern, hätte dennoch wohl niemand geahnt – ihr seid schnell wie der Blitz.« Wieder ließ Jim eine effektive Pause folgen. »Gynnie war eine meiner besten Freundinnen, und ich bin mir sicher, dass sie einige Freudentränen vergießen und zugleich aufjauchzen würde.« Er hob sein Glas. »Ich liebe lange Reden, weiß jedoch, wann ich zu einem Ende kommen muss. In diesem Sinne sage ich: Auf euch! Pamela und Lilly!«

Auch die anderen prosteten ihnen zu und riefen im Chor: »Auf euch!«

Lilly fasste sich als Erste. Eilig wischte sie sich über die feuchten Augen. »Ihr seid so lieb! Danke … ehrlich, danke.« Sie sah Pamela an, der gerade eine Träne über die Wange rann. »Ich liebe dich, Pam.«

»Und ich dich.« Eine Weile lang ruhte Pamelas Blick auf Lilly, daraufhin drehte sie sich den anderen zu. »Ich liebe euch alle. Vielen Dank. Ihr ahnt nicht, wie gerührt ich bin.« Sie ging auf Jim zu und umarmte ihn, dann folgten reihum die anderen.

Auf einmal kam Bewegung in die kleine Gesellschaft. Jäh begann jeder draufloszusprechen, und fröhliches Lachen mischte sich in die Geräuschkulisse.

Als Jim zu seinem Laptop laufen wollte, um die Musik lauter zu stellen, hielt Pamela ihn zurück. »Bevor wir die Party starten, möchte ich noch etwas sagen.«

Schlagartig verstummten alle.

Sie räusperte sich. »Ich fasse es nicht, was ihr für uns vorbereitet habt. Das alles bedeutet mir unglaublich viel. Heute ist ein besonderer Tag, den Lilly und ich nie vergessen werden. Ich denke, zwei weitere Menschen werden das auch nicht. Nat, es ist so weit.« Pamela nickte ihrem Bruder zu und stellte sich zu den anderen.

Nat trat einen Schritt vor und wandte sich an Molly. »Was vermutlich nicht alle wissen, ist, dass Molly und ich einander seit unzähligen Jahren kennen. Wir waren Teenager, und ich habe mit ihr und ihrem verletzten Fuß fast einen kompletten Sommer verbracht. Sie hat mich bei ihrer Wiederkehr nach Maple Creek nicht erkannt. Ich war ein Fremder für sie.«

Molly lächelte. »Du hast mich daran erinnert, auch an die Tränen, die ich damals vergossen habe, als ich nach Washington D. C. zurückmusste.« Inständig hoffte sie, dass niemand bemerkte, wie aufgeregt sie plötzlich war. Sogar ihre Hände begannen zu zittern. Was hatte Nat bloß vor?

Er erwiderte nichts, griff in die Sakkotasche und zog eine kleine Schatulle hervor. Mit einer knappen Bewegung hob er den Deckel an und kniete sich vor ihr nieder. »Molly Jensen. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass du meinetwegen kein einziges Mal mehr weinen musst. Mein Ziel ist es, dich lachen zu sehen. Also frage ich dich: Willst du dein restliches Leben mit mir verbringen? Mich heiraten und zum richtigen Zeitpunkt eine Familie mit mir gründen?«

Ein Schwindel ergriff Molly, und kurz meinte sie, sich nicht auf den Beinen halten zu können. Automatisch hielt sie den Atem an, und eine riesige Welle des Glücks erfasste sie. Es schien, als würde sie diese bis zu den Sternen und wieder zurück tragen. Sie schluchzte auf. »Ja, o ja! Und wie ich das will. Ja!«

Nat zog den Ring aus der Halterung und steckte ihn auf Mollys Finger. »Sitzt er zu eng?«, fragte er. »Wir können ihn ändern lassen.«

»O nein, er passt perfekt. Dieser Ring umschließt meinen Finger fest, und ich spüre ihn – wie ich jede einzelne deiner Umarmungen spüre.« Molly zog Nat hoch und küsste ihn. Sie sah nicht, wer als Erster applaudierte, aber alle stimmten ein.

Als sie sich von Nat löste, stand Jim bereits neben ihnen und umarmte sie. »Ach Mädchen, wenn Gynnie euch beide sehen könnte.« Als er sie freigab, reichte er Nat die Hand und klopfte ihm auf die Schulter. »Gut gemacht, Junge.«

Als Nächste kam Laurie an die Reihe. Sie küsste Molly auf die Wangen. »Ich freu mich so für dich, für euch.« In ihr Ohr flüsterte sie: »Das hat er ganz alleine geschafft. Hätte er mit Tom über den Ring gesprochen, wüsste ich es. Er glaubt, ich wäre wegen der Schwangerschaft emotionaler als sonst, und verheimlicht mir zur Sicherheit nichts.«

Molly war noch zu perplex, um schlagfertig reagieren zu können, außerdem räumte Laurie schon für Dorothy den Platz.

»Molly, ach, Molly! Das ist sensationell. Ich bin so froh, das miterleben zu dürfen.« Dorothy halste sie. »Wenn es so weit ist, suchen wir die Brautjungfernkleider gemeinsam aus – das musst du mir versprechen. Ich lasse mich bestimmt nicht in ein puffärmeliges Rüschenmonster zwängen.«

Jim klatschte. »Gratuliert in Ruhe weiter, aber jetzt beginnt die Feier! Es gibt wahrlich allen Grund dazu.« Er eilte zu dem Laptop, wählte ein Lied aus und schob den Lautstärkeregler nach oben.

Aus den beiden Musikboxen erklang Dancing Queen von ABBA.