»Es entspricht wirklich alles der Wahrheit, was Molly in ihrer Artikelreihe beschreibt. Ich bin begeistert von eurem kleinen Städtchen. Dieser wunderbare See, die Weite der Wiesen und Wälder, ich genieße sogar den rauen Wind. Das alles zusammen gibt dem Körper tausendmal mehr Energie als zwei Wochen im besten Wellnesshotel. Und für die Haut ist die Luft wie ein wahrer Jungbrunnen. So rosige Wangen hatte ich zuletzt als Kind. Ich sage euch, morgens beim Aufstehen habe ich keine Kreuzschmerzen wie sonst. Das liegt an der Bewegung. Jim hat mir die Gegend rund um Maple Creek gezeigt. Sugar und Cicero sind ein Dream-Team. Und eure Sycamore Tavern – Laurie und Tom – ist phantastisch. Ich liebe den Tom’s Maple.« Nora hob ihr Glas und trank einen kräftigen Schluck, dann streckte sie den Arm aus und berührte Jims Hand. »Dieser Mann hier, die Gegend und ihr alle habt mich verzaubert.«
Jim lächelte. Seit er Nora gemeinsam mit Molly am Flughafen empfangen hatte, fühlte er sich wie ein neuer Mensch und meinte, einen Traum zu erleben. Inständig hoffte er, nicht daraus erwachen zu müssen. Alles, was er über Nora gehört hatte, kam nicht an die Realität heran. Sie ist geistreicher, interessierter, belesener, attraktiver … Ich könnte die Aufzählung ewig fortsetzen, dachte Jim und unterdrückte ein glückseliges Seufzen. Nora war in der Tat ein sprühender Geist. Wie Molly gesagt hatte, redete sie wie ein Wasserfall und schaffte es, mehrere Themen in einem Durchgang auszudrücken und miteinander zu verknüpfen. Aber er musste sich nicht bemühen, ihr zu folgen. Von selbst drangen Noras Worte in ihn ein und blieben haften, sodass die Gespräche mit ihr dahinflossen und eine ungeahnte Inspiration boten.
»Laurie und Tom haben jahrelang in großen Städten gearbeitet und wissen genau, wie gehobene Gastronomie zu funktionieren hat«, erklärte Molly.
Laurie nickte. »Ich habe sogar eine Weile lang in New York gelebt, dann hat es uns in meine alte Heimat verschlagen.«
»Anfangs war es eine Umstellung für mich, heute möchte ich an keinem anderen Ort leben als in Maple Creek. Genau dieses Umfeld ist richtig für unser Kind«, warf Tom ein, der hinter der Bar stand und eine neue Runde Tom’s Maple mixte. Die Maplemilk für Laurie hatte er bereits vorbereitet.
»Das verstehe ich gut«, antwortete Nora. »Ich war erstaunt, als Molly mir damals mitgeteilt hat, dass sie aus New York wegzieht. Wie kann man diese extraordinäre Stadt bloß verlassen? Nun beginne ich, ihre Beweggründe nachzuvollziehen – allesamt.« Sie musterte Nat ungeniert und schmunzelte. »Das muss man dir lassen, mein Lieber: Du bist ein äußerst stattlicher und charmanter Mann. Außerdem hast du ganz offensichtlich einen hervorragenden Geschmack, das beweisen Molly und der Ring. Ihr beide gebt ein wunderschönes Paar ab, und ich freue mich sehr über euer Glück. Überhaupt scheinen hier alle glücklich zu sein.« Sie blickte in die Runde. »Verlobung und Heirat, Schwangerschaft, Adoption, Genesung. Und euer Zusammenhalt ist beispielhaft.«
»Ach, Nora, wenn du wüsstest! Immer wieder haben wir gegen mitunter gewaltige Widrigkeiten zu kämpfen. Aber mit dem Zusammenhalt hast du recht. In meinen Gedanken bezeichne ich uns als Familie, einfach Freunde zu sein, ist nicht genug«, antwortete Pamela.
»Ich hoffe, ihr wisst das gebührend zu schätzen. Wollt ihr erfahren, wie viele Freunde ich habe? Keine.« Nora beugte sich vor, und Sugar, die auf ihrem Schoß schlief, knurrte wegen der Bewegung unmutig. »Ich hätte nicht die Zeit, einen Bekanntenkreis aufzubauen. Im Grunde ist meine Familie die Redaktion der NY Woman. Dort sind wir von Herzlichkeit und gegenseitiger Unterstützung weit entfernt. Abende wie dieser kommen in meinem Leben in New York nicht vor. Traurig, nicht wahr?«
»Dann musst du dir Zeit freischaufeln und uns öfter besuchen. Du passt wie selbstverständlich in unsere Mitte«, sagte Lilly.
Nora lachte auf und blickte Molly an. »Was meinst du dazu?«
»Fragst du mich als deine Chefin?«, erkundigte sich Molly und fügte hinzu: »Ich kann nicht so frei von der Seele reden wie die anderen. Vergiss nicht, du bist mein Boss, und ich habe gehörigen Respekt vor dir.«
»Ach, du liebe Güte! Sei locker, Mädchen. Das habe ich dir bereits am Flughafen klargemacht. Aktuell bin ich niemand anderes als ein Gast aus New York. Du würdest mich beleidigen, wenn du dich noch länger zurückhaltend verhältst.«
»Ich werde versuchen, den Schalter umzulegen. Und zu deiner Frage: Ich fände es toll, wenn du regelmäßig nach Maple Creek kommst. Um das zu bewerkstelligen, müsstest du deine Arbeitsweise aber gehörig variieren und auch mal etwas abgeben. War das locker genug?«, entgegnete Molly.
Nora bejahte. »Es ist ein guter Anfang. Weiter so – das meine ich wortwörtlich. Lass mich deine Vorschläge hören. Hinter der Aussage steckt nämlich mehr, als du gerade ausgedrückt hast. Vergiss nicht, ich kenne dich gut.«
»Okay. Du hältst die Zügel der NY Woman fest in der Hand, und dafür arbeitest du unermüdlich. An Ella und Aria gibst du kaum etwas ab. Die beiden sind fähige Mitarbeiterinnen und deine offizielle Vertretung. Sie könnten dich in vielen Bereichen entlasten. Als ich frisch in Maple Creek war, hat mir Nat etwas sehr Wahres und Wichtiges nähergebracht.« Molly sah ihn an. »Erinnerst du dich an das Hamsterrad?«
»Natürlich. Egal ob wir in Maple Creek oder New York leben, befinden wir uns in einem Hamsterrad. Doch sind wir nicht darin gefangen, sondern können es jederzeit anhalten und uns eine Pause gönnen«, erläuterte Nat seine Philosophie.
»Ein sehr guter Vergleich«, stimmte Nora zu. »Ich weiß, dass Ella und Aria gut sind und gerne mehr Verantwortung tragen würden. Sie werden von mir aber kurzgehalten. Vielleicht sollte ich das tatsächlich einmal genauer betrachten. Es ist allerdings nicht einfach, eingefahrene Wege zu verlassen. Jetzt und hier fällt mir der Gedanke leicht, sitze ich erst an meinem Schreibtisch, bin ich sofort wieder im Schema drinnen. Dabei sollte ich mich endlich auf die schönen Dinge des Lebens konzentrieren. Meine Uhr tickt laut.«
Jim, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte, nickte versonnen. Er wusste, was Nora meinte. »Ich habe vor Längerem beschlossen, nur noch Fälle in der Umgebung anzunehmen. Irgendwann hatte ich keine Lust mehr, so viel zu reisen und ständig an einem anderen Ort zu sein. Anfänglich war es befremdend, und etwas hat gefehlt, aber das lag an der eingefahrenen Routine, die ich erst durchbrechen musste. Mittlerweile bin ich mehr als zufrieden mit meiner Entscheidung – sie war richtig.«
»Ich glaube, das Schwierigste bei solch einem Vorhaben ist genau diese Phase der Umgewöhnung. Es ist schwierig, loszulassen.« Nora streichelte über Sugars Köpfchen, die sich streckte und unruhig wurde. »Ich werde jetzt einen Spaziergang mit meiner kleinen Dame machen und mich dann hinlegen. Morgen möchte ich früh aufstehen und den See entlanggehen, noch vor dem Frühstück.«
»Ich bin zu Fuß hier. Soll ich dich begleiten?«, fragte Jim.
Nora lächelte. »Darauf hatte ich gehofft. Ich wollte dich nicht automatisch dazu verdammen, durch die nächtliche Kälte zu laufen, anstatt hier gemütlich zu sitzen und einen weiteren von diesen hervorragenden Tom’s Maple zu trinken.« Sie wandte sich Molly zu. »Bleibt es bei morgen um zehn Uhr im Hotel auf einen Mapleccino?«
»Gewiss. Soll ich den aktuellen Artikel mitnehmen? Er ist fast fertig.«
Nora stand auf. »Ich werde ihn aufmerksam lesen – nach meinem Urlaub. Morgen plaudern wir über Gott und die Welt. Ich wünsche euch allen einen wunderschönen Abend.«
Auch Jim erhob sich und geleitete Nora zur Tür. Er holte ihren Mantel aus der Garderobe und half ihr hinein.
Als sie die Tavern verlassen hatten, fragte Jim: »Stört es dich, wenn wir bei mir zu Hause vorbeigehen und Cicero holen? Er befindet sich zwar mit Sicherheit bereits im Tiefschlaf, freut sich aber immer über Bewegung.«
»Sehr gern.« Nora blickte ihn von der Seite eine Weile lang an. »Wie schwer ist es dir wirklich gefallen, deine Karriere durch einen bewussten Rückschritt aufzugeben? Ich weiß von Molly, dass du ein erfolgreicher Anwalt gewesen bist, der große Fälle bearbeitet hat.«
»Das stimmt. Offen gesagt, habe ich den Prozess schon vor Langem gestartet und bin etappenweise vorgegangen. Es begann damit, dass ich nicht mehr jeden Fall blindlings angenommen habe. Gewisse Kriterien mussten erfüllt werden. Dabei hat der Profit genauso eine Rolle gespielt wie mein persönliches Interesse an der Sache. Als Nächstes habe ich den Radius verkleinert. Ich wollte nicht mehr ans andere Ende von Kanada fliegen und dort meine Zeit in Gerichtssälen und Hotelzimmern absitzen. Als Gynnie gestorben ist, war es endgültig vorbei mit Aufträgen außerhalb Maple Creeks.«
»Das war Mollys Tante, nicht wahr? Warum hat sie den Ausschlag gegeben? Wenn die Frage zu persönlich ist, musst du sie nicht beantworten«, entgegnete Nora.
»Ich erzähle es dir, aber du darfst dich nicht über mich lustig machen. Gynnie und ich waren sehr gute Freunde. Sie hat auf Cicero aufgepasst, wenn ich verreist war. Cicero in eine Tierpension oder zu irgendwelchen Leuten zu geben, nachdem Gynnie gestorben war, kam für mich nicht infrage. Im Grunde war es seinetwegen … oder besser ausgedrückt: Der endgültige Auslöser war meine Fürsorge.«
»Trotz der kurzen Zeit unseres Zusammenseins erstaunst du mich immer wieder aufs Neue, Jim Ryder. Und nichts liegt mir ferner, als mich über dich lustig zu machen. Ich finde es grandios, dass du die Entscheidung wegen Cicero getroffen hast. Sugar ist mein Ein und Alles, ich würde nicht mit der Wimper zucken und die NY Woman unverzüglich verlassen, dürfte ich sie dort nicht bei mir haben. Klingt das seltsam? Ich meine, für eine Workoholicerin wie mich«, erwiderte Nora.
»Überhaupt nicht. Ich finde diesen Zug bezaubernd an dir … wie alles im Übrigen.«
Nora ließ einige Sekunden verstreichen, bevor sie antwortete. »In der Arbeit bin ich es gewohnt, die Dinge auf den Punkt zu bringen, und würde das nun im privaten Bereich ebenfalls gerne anwenden.«
»Was meinst du damit?«, fragte Jim sofort.
»Im Beruf ist es als Boss einfach, seine Vorstellungen klar zu formulieren, schwierig hingegen in diesem Moment …«
»So wortkarg habe ich dich noch nicht erlebt. Sag mir bitte freiheraus, was dich beschäftigt, Nora.«
»Ich habe gerade das Gefühl, als würde mir ein Häufchen Sand durch die Finger rinnen. Das will ich aber nicht zulassen.« Sie hüstelte. »Jim, du hast mich vom ersten Augenblick an fasziniert. Wir sind keine Teenager mehr, und mein Urlaub wird schneller vorbei sein, als mir lieb ist. Sollten wir die Zeit nicht für uns nutzen und trotz dieses Umstands das forcieren, was in uns keimt?«
Jim reagierte auf der Stelle. »Spazieren gehen können wir morgen und übermorgen und überübermorgen. Ich habe einige hervorragende Flaschen Rotwein bei mir zu Hause. Und Cicero teilt seinen Schlafplatz sicherlich liebend gerne mit Sugar.«
»Du bringst die Dinge auf den Punkt, ohne sie unverblümt auszusprechen.« Nora lächelte. »Nun bin ich verlegen.«
Jim hielt an und drehte sich ihr zu. Mit einer durchaus gewandten Bewegung zog er Nora in seine Arme und küsste sie.