5. Abhängig vom Supercomputer – Apple und Google übernehmen unser Leben

Mehmet N. hat am 16. Dezember 2008 in der Fußgängerzone der westfälischen Kleinstadt Dorsten seiner Ehefrau Fatma N. die Kehle durchgeschnitten. Sie lebte von ihm getrennt, war untergetaucht, und trotzdem spürte er sie auf – weil er sie mit einem Handy orten konnte. Es war der erste Mord in Deutschland, bei dem der Täter sein Opfer per Handy aufspürte.

Der Täter nutzte eine Dienstleistung, wie sie mehrere Telefongesellschaften und andere Dienstleister anbieten: »Orte die Handys deiner Freunde!« »Hat dein Partner etwas zu verbergen? « »Jetzt mit verbesserter Ortung auf 10 m genau!« – solche Locksprüche finden sich an allen möglichen Ecken im Netz und in Zeitungsanzeigen und in Spots des Werbefernsehens. Der Kunde bezahlt eine Gebühr, und im Gegenzug ortet die Telefongesellschaft auf Anfrage sein Handy. Genau das tat Mehmet N., um sein Mordopfer zu finden. Es war nicht das Handy von Fatma N., das er orten ließ, sondern eines, das er seinem Sohn zugesteckt hatte, wie der Staatsanwalt bestätigte: »Das manipulierte Handy versteckte er in dem Ranzen seines Kindes.« So fand Mehmet N. seinen Sohn und die Mutter am Nachmittag des 16. Dezember 2008 vor dem »Plus« in der Dorstener Fußgängerzone – und ermordete die Frau vor den Augen des Kindes.

Verkaufsargumente liefern solche Dienstleister massenweise. Sei es die Sicherheit der Kinder, die eines verwirrten Großvaters oder die zusätzliche Sicherheit vor Diebstählen, weil man die Koordinaten eines abhandengekommenen Handys ja der Polizei mitteilen kann. Immer wieder erweist es sich als nützlich.

Die Nachteile sind inzwischen auch bekannt. Bei dem Versuch, Schicksale wie das von Fatma N. zu vermeiden, verlangt der Gesetzgeber heute zum Beispiel, dass der Benutzer eine Bestätigung per SMS schicken muss, bevor sein Handy geortet werden kann. Trotzdem häufen sich in Frauenhäusern jene Fälle, in denen der verlassene Ehemann die Ehefrau an ihrem Zufluchtsort aufspürt – weil er beispielsweise die Ortung heimlich auf dem Handy seiner Frau aktiviert hat. Und so gehört es inzwischen vielerorts zu den ersten Handgriffen, Schutz suchenden Frauen ihr Handy wegzunehmen und den Akku zu entfernen.

Das Handy ist ein perfektes Symbol unserer Zeit. Wo die Menschen gehen und stehen, hinterlassen sie Datenspuren: Sie teilen also einem Computer mit, wo sie gerade sind und was sie machen. In der Regel tun sie dies, ohne es zu wissen oder ohne daran zu denken. Sie tun es, wenn sie telefonieren, wenn sie Auto fahren und eben wenn sie in einer Fußgängerzone in Dorsten unterwegs sind. Denn inzwischen sind mehr als 35 Milliarden Geräte ans Internet angebunden: Computer, Tablettcomputer, Musik-Datenbanken, GPS-Geräte, Autonavigationssysteme, dazu Handys und Digitalkameras, über die Kevin Kelly, ein renommierter Technologie-Beobachter und früherer Chefredakteur der Kult-Zeitschrift Wired, sagt: »Das System hat drei Milliarden Augen.« Wo landen all die gesammelten Daten? In riesigen Computernetzwerken und Supercomputern, denen Programmierer mit genialer Software irre Dinge beigebracht haben – oder wahlweise entlocken.

Der Computerwissenschaftler David Gelernter, er lehrt an der amerikanischen Universität Yale und gilt als einer der brillantesten Köpfe seines Faches, hat vor zwanzig Jahren die Vorstellung entwickelt, das Leben der Menschen würde irgendwann von lauter kleinen Sensoren aufgezeichnet und zu einem regelrechten »Doppelgänger« zusammengefügt. Der Computerwissenschaftler denkt, dass unsere Datenströme »es der Software noch leichter machen, unser Leben im Detail kennen zu lernen und unser Verhalten vorherzusagen«. Und wozu? Google, Apple, Microsoft und Co. sammeln Daten, damit die Menschen mehr kaufen, gezielter finden, was sie suchen, und die Werbung treibende Wirtschaft hofft, die vielen hundert Milliarden, die sie jedes Jahr für Werbekampagnen ausgibt, gezielter einsetzen zu können. Verwaltungen versprechen den Bürgern eine effizient organisierte Zukunft, Versandhändler ein müheloseres Leben, die Schufa eine reibungslosere Wirtschaft. Alle sammeln sie.

Im Netz der Riesenrechner

Eric Schmidt, der langjährige Chef des Internetkonzerns Google, ist im August 2010 zu einem Kurzbesuch nach Berlin geflogen. Er will eine Rede auf der Internationalen Funkausstellung halten. Als der 56-Jährige auf die Bühne tritt, sieht er aus wie immer: Er trägt einen blauen Anzug, eine dazu passende blaue Seidenkrawatte, ein weißes Hemd – und braune Slipper. Seine Stimme lässt keine tiefen Gefühle erahnen, er schaltet sein Lächeln in Intervallen ein, als stünde es so im Redemanuskript.

Er zählt die einzelnen Punkte der IT-Revolution an den Fingern ab – damit er bloß keinen vergisst, und so eine Rede würde normalerweise keine flüchtige Erinnerung hinterlassen. Schmidt sagt Sätze wie: »Wir stehen am Anfang eines humaneren Zeitalters, in dem Computer die Dinge machen, die wir wirklich wollen, was letztlich bedeutet, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.« Augmented Humanity nennt er das, den Ausdruck verwendet er tatsächlich für seine Visionen. Eine neue Ära des Menschseins, freundlich gestützt von Google und Co.

So weit, so wolkig. Aber dann tritt der Google-Entwicklungsingenieur Hugo Barra auf die Bühne. »Wir haben in den vergangenen Jahren viel an der Spracherkennung gearbeitet«, beginnt Barra, reibt sich die Hände und sagt dann, er wolle etwas zeigen, was noch niemandem gelungen sei.

Hugo Barra bittet den deutschen Google-Pressesprecher Kay Overbeck auf die Bühne. »Bitte denken Sie daran, es ist noch in der Experimentierphase.« Dann macht er mit Overbeck ein kleines Rollenspiel. Er selbst spielt einen Touristen, der in Deutschland unterwegs ist, aber kein Deutsch spricht, und der Pressesprecher soll einen Schuhverkäufer in Berlin mimen, der kein Englisch versteht.

Vor ihnen auf einem Stehtisch liegt ein Smartphone mit dem neuesten Betriebssystem von Google. Die Software heißt Android und ist dabei, das zu werden, was Windows von der Firma Microsoft für die Welt der Heimcomputer ist: der Standard für die Basis-Software moderner Telefone. Sie legt fest, was das Handy kann und welche Programme darauf laufen. Google hat mit Android die Konkurrenten von Apple, Research in Motion (Blackberry) und Microsoft bereits hinter sich gelassen, ist auf mehr Smartphones installiert als irgendein anderes Betriebssystem, und insofern wird Android der Menschheit – wenn es nach Google geht – ein wenig unter die Arme greifen.

Nun beugt sich Barra über das Handy und fragt es auf Englisch:

»Do you have these shoes in size 41?«

Eine Kamera ist auf den Bildschirm des Handys gerichtet und überträgt alles auf eine Leinwand hinter den beiden Männern. Das Handy zeigt ein Mikrophon und die Worte »Speak now« – jetzt sprechen. Wenige Sekunden später sagt eine maschinelle, weibliche Alt-Stimme. »Sie haben die Schuhe in der Größe 41.« Dass es sich um eine Frage handelt und die Stimme am Ende nach oben gehen müsste, versteht der Computer noch nicht. Aber ansonsten gelingt die Übersetzung tatsächlich.

»Welche Farbe?«, sagt Overbeck, der weiter den Schuhverkäufer spielt, aber dieses Mal versteht die Maschine nicht, sie bockt und wiederholt mehrfach »which cable«. Einen Moment lang sieht es so aus, als müsste Barra abbrechen, doch dann sagt das Handy plötzlich »What colour?«

Barra: »Black or brown would be fine.«

Maschine: »Schwarz oder braun wäre schön.«

Overbeck: »Wir haben schwarz und braun.«

Maschine: »We have black and brown.«

Das Handy hat simultan übersetzt! Ein paar Ahhs und Ohhs sind zu hören, denn hier und in diesem Moment ist ein lange gehegter Traum in Erfüllung gegangen. Dass Computer simultan übersetzen, daran arbeiten die besten Computerwissenschaftler seit zwanzig Jahren. Und nun erwähnt Eric Schmidt ganz lässig, die Simultanübersetzung werde Google bald für hundert Sprachen anbieten.

Noch Monate schwärmt Schmidt von diesem Tag.

Mai 2011, eine Gründerzeitvilla am Ufer des Wannsees, die American Academy hat den Google-Manager zum Vortrag eingeladen. In der Eingangshalle und in den Treppenaufgängen hängen gerahmte Fotos von Besuchern, Rednern, Weltveränderern, die hier auch schon aufgetreten sind: Helmut Kohl, Hillary Clinton, Henry Kissinger, Joschka Fischer, Richard von Weizäcker. Und jetzt Schmidt. Auf die Frage nach seinen Visionen und neuesten technischen Plänen sagt der: »Als wir hier in Berlin ein Google-Handy gezeigt haben, das simultan übersetzen kann, war das einer der wichtigsten Momente in meiner Zeit bei Google.«

Natürlich schmeichelt er damit den anwesenden Deutschen, aber er meint es offenbar trotzdem ernst.

»Wie viele Kriege hätten verhindert werden können, wenn die Gegner einfach direkt miteinander hätten sprechen können. Wenn sie die Sprache des anderen verstanden hätten.«

Ja, Schmidt meint das ernst. Er glaubt daran, dass die Welt mithilfe der Technologie ein besserer Ort wird.

Doch ein Handy alleine – auch eines von Google – ist zu schwach. Genauso wenig können iPads und Navigationsgeräte all die Ortungs-, Ratgeber- und Steuerungsfunktionen alleine vollbringen. Deshalb vollbringt jemand anderes im Hintergrund die wahre Arbeit. Ein Supercomputer. Rechner mit Fühlern in aller Welt, die mehr vermögen, mehr wissen und mehr beobachten, als wir Menschen ahnen. Alleine Google besitzt an die hundert solcher Rechenzentren. Andere Internet- und Computergiganten wie Amazon, Microsoft und IBM eifern dem Suchmaschinenkonzern nach – aber aus Sicherheitsgründen machen sie nicht viel Aufhebens darum – und selbst in den USA halten sie die Standorte ihrer Datencenter geheim.

Die allwissenden Superhirne, die unser Leben besser machen sollen – sie stehen irgendwo da draußen.

Es ist eine ziemlich öde Autofahrt. Je weiter man auf dem Hochplateau entlang des Columbia River vorandringt, desto karger wird die Vegetation. Ganz oben gedeiht nur noch windgeplagtes Gestrüpp und welkes Gras. Verrostete Schienen treffen auf eine Straße; ausrangierte Industriewaggons in karger Landschaft; ein Trucker-Motel ohne einen einzigen Truck davor. Ein Schild warnt vor Staubverwehungen auf der Straße. So könnte das Ende der Welt aussehen. Und doch ist das hier so eine Art Zentrum.

Das eine, was hier auffällt, sind Leitungen, die von Horizont zu Horizont reichen. Kabel-Autobahnen überziehen diese unwirtliche Landschaft, Strommast steht hinter Strommast, teilweise laufen drei, vier oder fünf Leitungen nebeneinander.

Aber wer braucht so viel Strom? Man muss ein wenig herumfahren und suchen, man muss Hinweisen aus der Bevölkerung nachgehen, um ganz am Rand des Industrieparks ein grünlich-graues, riesengroßes Gebäude zu entdecken. Sein Grundriss ist so groß wie ein bis zwei Fußballfelder. Graugrüner Beton, keine Aufschrift daran und ein hoher Zaun, der das Gebäude weiträumig abriegelt. Das merkwürdige Gebäude gehört einer Firma namens VA Data, die wiederum eine Tochter des Internetriesen Amazon ist, speziell darauf ausgerichtet, gewaltige Rechenzentren für den Internetkonzern zu errichten.

Amazon, Google und Microsoft bauen derzeit ein solches Rechenzentrum nach dem anderen. Hallen voller leistungsstarker Rechner, dicht an dicht, Reihe an Reihe, verbunden durch Datenkabelstränge und Stromleitungen, zusammengeschaltet zu einem Superhirn. Im Fachjargon nennen die Unternehmen das »Cloud-Computing«, weil es ungefährlicher, niedlicher klingt. Aber faktisch verschwinden die Daten eben nicht in einer »Wolke«, sondern sie fließen zu den größten und leistungsfähigsten Computern, die die Menschen bisher gebaut haben.

Weil sie immer laufen, immer online sind und ohne Unterlass Millionen Rechenoperationen, Abfragen oder Analysen parallel erledigen, verbrauchen die Datencenter gigantische Mengen an Energie, werden nach und nach zu einem der größten Stromverbraucher auf der Erde, und der Energiehunger geht in die Petajoule. Schon heute schlucken Computer etwa fünf Prozent allen Stroms, der weltweit hergestellt wird.

Sobald wir einen Finger auf ein iPhone legen, weiß irgendeiner dieser Supercomputer, wo wir sind und was wir gerade treiben. Können wir ihnen trauen?

In jedem Fall fangen wir an, mit ihnen zu sprechen. Jede vierte Suche im Internet, die in den USA über Google-Handys läuft, wird nicht mehr eingetippt, sondern gesprochen. Der Computer versteht das.

Auch die Gesichtserkennung per Handy funktioniert nur mit Hilfe der Großrechner im Hintergrund. Die eingebaute Kamera nimmt ein wildfremdes Gesicht auf, schickt es an einen Supercomputer, der analysiert es und vergleicht es mit anderen Bildern im Internet, die genau die gleichen Merkmale aufweisen, und schaut, was für Informationen zu diesen Gesichtern gespeichert sind. Diese Informationen gehen dann wieder an den Ausgangspunkt zurück: das Handy. Es ist, als kramten die Supercomputer in einem globalen Gedächtnis, um dann zu sagen: Klar, das ist doch der Peter Schmidt aus Saarbrücken.

Es gibt inzwischen Software fürs Handy, mit deren Hilfe ein Supercomputer problemlos alle Sternbilder erkennt, und andere Programme, mit denen er jedes Flugzeug am Himmel identifizieren kann, welche Flugnummer es hat, wohin es will und wann es landet. Mit wieder einem anderen Programm liefert er Informationen über die meisten historischen Bauwerke, sobald man die Handy-Kamera darauf richtet. Sogar im Supermarkt macht sich so ein Supercomputer als Ernährungsberater nützlich. Um zu erfahren, ob eine Ware ungesunde oder gefährliche Inhaltsstoffe im Übermaß hat, hält der Kunde einfach seine Handy-Kamera über den Strichcode auf der Packung. Das Ergebnis kommt wenige Sekunden später.

In Millisekunden abgetastet. Die neueste Onlinewerbetechnik

Die Datencenter und Supercomputer werden nicht aus Menschenfreude in die Landschaft gesetzt. Sie sollen uns das »unterstützte Menschsein« zur Wirklichkeit machen, von dem Eric Schmidt sprach, aber darüber wollen die Erfinder all dessen sehr, sehr reich werden. Und zwar mit Werbung.

Nicht die alte Art von Werbung. Keine lärmenden Fernsehreklamen oder nervenden Plakate an der Autobahn, mit Inhalten, für die sich höchstens ein Bruchteil der Zuschauer interessiert. Nein, Google, Amazon, Facebook & Co. schalten individuelle Werbung, maßgeschneidert für jeden Menschen und seinen Handybildschirm. Lockrufe zum Geldausgeben, die perfekt zu den Bedürfnissen, Wünschen, Gewohnheiten und Träumen des Umworbenen passen, im richtigen Moment, am richtigen Ort. Dafür wollen Google & Co. ihn besser kennenlernen. Sehr viel besser.

Einige Brancheninsider sind aber noch unzufrieden. »Die durchschnittliche Person kann sich im Augenblick gar nicht vorstellen, wie disparat diese verschiedenen Onlinedatenbanken noch sind«, klagt Allison Hartsoe, eine Mathematik- und Werbeexpertin, die bei der großen »Webanalyse«-Firma Semphonic für das Auswerten eben solcher Daten zuständig ist. »Hier haben Sie Daten aus einem Callcenter. Da haben Sie welche von Webbesuchen. Und dort haben Sie ein paar Umfrageergebnisse. Das alles liegt in Silos nebeneinander, es ist ein großes Durcheinander.«

Ihrer Meinung nach leben wir in einer ziemlich paradoxen Welt. Ja, es würden jede Menge Daten gesammelt heutzutage, und die Leute regten sich – nicht selten zu Recht – darüber auf. Doch eigentlich seien es auch zu wenige Daten. Allison Hartsoe träumt den Traum aller Onlinewerbeexperten: »Was ich wirklich von einem Unternehmen möchte, ist doch: Information und eine freundliche Beziehung«, sagt Hartsoe. Das müsse eines Tages auch die Werbung schaffen. Computer, Webseiten und Handys müssten mit Informationen gefüttert werden, die so gut sind, dass die Menschen sie als freundliche, informative Helfer wahrnehmen. »Und dafür, fürchte ich, muss man erst noch viele, viele Daten miteinander kombinieren, und das wird noch viele, viele Jahre dauern«, sagt Hartsoe.

Wirklich? Vielleicht arbeitet Hartsoe auch nur mit den falschen Unternehmen zusammen.

Hausbesuch in New York: Die Eingangstür liegt unscheinbar in einer Seitenstraße nördlich des Union Square in New York. Die Straßen und Cafés sind voller Studenten, aber dort, in der 28 West 23. Street, hat sich eine Firma niedergelassen, die eine der genialsten Techniken in der Werbeindustrie entwickelt hat: AppNexus heißt sie; auch sie betreibt einen Supercomputer und führt mit seiner Hilfe Auktionen um Werbeplätze im Internet innerhalb von wenigen Millisekunden durch. Es ist kaum vorstellbar, aber wahr: Zwischen dem Moment, in dem ein Mensch eine Internetadresse eintippt, und dem Moment, in dem diese Seite auf dem Computer oder einem Handy zu sehen ist, führt AppNexus eine Auktion durch und versteigert den Werbeplatz auf dieser Internetseite meistbietend.

Brian O’Kelly, Gründer und Vorstandschef von AppNexus, sagt: »Vor gerade mal drei Jahren haben wir die erste Auktion in Echtzeit abgehalten. eBay war unser erster Kunde. Und heute liefern wir täglich 5,5 Milliarden Banner aus.« Jedes davon wird über eine Auktion vermittelt. Jede dieser Auktionen dauert tatsächlich nur ein paar Millisekunden.

Inzwischen beherrschen auch andere Firmen diese Technik. »Trotzdem macht es erst einen kleinen Teil des Onlinewerbemarktes aus«, sagt O’Kelly, der den Auktionsumsatz für das Jahr 2010 auf zwei Milliarden Dollar weltweit schätzt, aber davon ausgeht, dass sich diese Summe im Jahr 2011 verdoppelt. »Dieses Jahr gehen wir nach Europa, und auf Deutschland liegt unsere besondere Aufmerksamkeit«, sagt der Firmengründer.

Damit die Auktion nicht länger als ein Wimpernschlag dauert, muss der Mensch ausgeschaltet werden. Er gibt nur die Parameter ein, den Rest erledigen Maschinen. So legt beispielsweise ein Onlinenachrichtendienst nur noch fest, dass er keine Werbung für Diät-Programme und keine Anzeigen für Pornoseiten zeigen will, und meldet AppNexus dann, wie viel Werbeplätze noch frei sind.

Auf der anderen Seite der Auktion stehen in der Regel Werbeagenturen und sogenannte Media-Agenturen, die für Firmen wie Coca Cola und Mercedes die Werbung auf die verschiedenen Mediengattungen verteilen. »Zu unseren Kunden gehören WPP, Havas und Group M«, einige der Welt größten Werbeagenturen, sagt O’Kelly. Diese Agenturen legen nun ihrerseits fest, welchen Teil des Werbebudgets eines Kunden sie in eine Auktion geben, und in welchem Umfeld diese Anzeigen erscheinen sollen.

Den Rest erledigen die Supercomputer von AppNexus.

Wenn dann auch noch eine Technologiefirma namens Criteo ins Spiel kommt, wird es fast überirdisch. Denn dann wird Werbung nicht nur innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde versteigert und auf den entsprechenden Werbeplatz ausgeliefert, sondern auch noch individuell angepasst. Criteo wurde vor wenigen Jahren in Frankreich gegründet, macht inzwischen dreistellige Millionenumsätze und ist in Europa und den USA aktiv.

Der Gründer Jean-Baptiste Rudelle ist stolz darauf, dass »wir in Europa einmal so viel weiter vorn sind als die Technologiefirmen in den USA«. Sein Dienst funktioniert folgendermaßen: Criteo arbeitet beispielsweise mit dem Onlineschuhhändler Zalando zusammen und platziert jedem Zalando-Besucher ein Cookie auf den Computer.

Cookies sind kleine Programme, die sich auf Dauer in Computern einnisten, es sei denn, der Besitzer entsorgt sie. Unterlässt er es, kann der Absender eines Cookies aufzeichnen, was der Nutzer eines bestimmten Computers bei ihm auf der Internetseite macht, denn er erkennt den Nutzer anhand einer einmaligen Nummer, die im Cookie gespeichert ist, immer wieder. Alle großen Internetseiten senden solche Cookies: Amazon, eBay, Zalando und wie sie heißen. Über die Zeit können die Betreiber von Internetseiten viele Hunderttausend oder auch Millionen Nutzer einordnen und ihren Geschmack oder ihr Verhalten kartografieren. Wenn derjenige dann auch einmal kauft, kommt zu dem Profil ein Name, eine Lieferadresse und eine Bankverbindung.

Ein Surfer trägt aber noch ein zweites Identifikationsmerkmal im Internet mit sich herum: eine temporäre IP-Adresse. Das ist quasi die Anschrift des Computers im Internet. Diese IP-Adresse bekommt der Surfer von seinem Internetzugangsanbieter, also von Firmen wie t-online und United Internet, und er behält sie für maximal 24 Stunden. Deshalb heißt sie »temporär«. Danach bekommt jeder eine neue IP-Adresse. Der Sinn des Ganzen war, dass die Architekten des Internets davon ausgingen, dass man die technische Infrastruktur dadurch einfacher halten könne, wenn man IP-Adressen nur an diejenigen verteilt, die gerade online sind. Weil Händler aber ihre Kunden immer eindeutig identifizieren wollen, haben sie unter anderem die Cookies entwickelt, die fest auf einem Computer haften.

Zurück zu Criteo. Die Firma kennt ihre Cookies und dazu die aktuellen IP-Adressen von Konsumenten, die gerade bei Zalando stöbern. Wenn nun ein Kunde ein paar Schuhe anschaut, dann aber zu einer anderen Internetseite surft, taucht er dort mit seiner temporären IP-Adresse auf und wird vermarktet. Die andere Internetseite meldet darum an ein Echtzeit-Auktionshaus wie AppNexus: »Kriege gerade Surfer mit der IP-Adresse X rein, wer bietet für die Werbeplätze auf meiner Seite, die IP-Adresse X zu sehen bekommt?« Die Maschinen von Criteo sehen das Angebot, schauen nach, ob sie die IP-Adresse kennen und ordnen ihr die eigene Cookie-Nummer zu. So wissen sie, welcher Kunde da gerade angeboten wird. »Das ist doch der, der bei Zalando war und sich Cowboystiefel und Badelatschen angesehen hat.« Als nächstes versucht die Firma, ihn wieder zu Zalando zu locken. Also bietet Criteo für die Werbeplätze auf der Internetseite, wo sich der potenzielle Schuhkäufer gerade befindet. Bekommt die Firma den Zuschlag, baut sie – auch innerhalb von Millisekunden – ein Banner mit Fotos von genau den Schuhen, die sich der Surfer bei Zalando angeschaut hatte, und schickt es dorthin, wo der Surfer gerade ist. Tatsächlich reagieren überdurchschnittlich viele Kunden auf solche Werbung, sonst würde Criteo nicht so schnell wachsen. Die Werbekunden sind zufrieden.

Darf ich Ihnen folgen? Wie digitale Doppelgänger entstehen

Wie nah die Supercomputer den Surfern auf den Fersen sind, zeigt auch ein Blick in die großen Sammelstellen. Sie versuchen Millionen Menschen nicht nur als Schuhkäufer, sondern als ganze Konsumenten zu erfassen.

Die Datensammelstellen gehören Telefongesellschaften, Internetkonzernen wie Google, Onlinehändlern wie Amazon, Geräteherstellern wie Apple, hinzu kommen Adresshändler, Werbeagenturen und ihre Dienstleister, Kredit-Bewerter wie die Schufa und Firmen, die sozio-demographische Datenbanken aufbauen. Dort landen die Daten, die Konsumenten mit ihren Handys und Computern erzeugen, mit Kundenkarten hinterlassen, bei Fluggesellschaften, Banken, Kreditkartenunternehmen und in populären Sozialen Netzwerken speichern (siehe Kapitel 4). Und die Datensammler werfen ihre Netze immer weiter aus, die Maschen werden enger, so eng, dass kaum einer mehr durchrutscht. Seit Jahren ist beispielsweise zu beobachten, wie vier führende IT-Unternehmen – Google, Apple, Facebook und Microsoft – versuchen, sogenannte Öko-Systeme aufzubauen, in denen Kunden und Nutzer möglichst lange verweilen und dann wahlweise möglichst viel Geld ausgeben oder möglichst viel Werbung wahrnehmen.

In den USA sind die Datensammler wegen der laxeren Datenschutzbestimmungen weiter als in Deutschland, aber auch hierzulande sind Firmen wie Doubleclick, Tomorrow AG, die Post, Infoscore, Amazon und der Otto-Versand ziemlich dick im Geschäft.

Joe Apprendi von der New Yorker Firma Collective erklärt das Motiv der Datensammler. Er ist selber einer. Apprendi malt einen Trichter auf, es ist der alte Werbetrichter. Oben kippt, um in diesem Bild zu bleiben, der Werber seine Reklame hinein. Auf dem Weg nach unten verflüchtigt sich viel von der Werbung, sie geht verloren, und nur ein Bruchteil erreicht am unteren, engen Ende des Trichters interessierte, potenzielle Kunden. »Wir drehen jetzt den Werbetrichter um«, sagt Apprendi. »Die Firmen, die zu uns kommen, sagen: Wir kennen unseren eigenen Kunden, aber wir wissen nicht, wie wir Menschen erreichen, die ähnlich ticken.« Dann schaut Apprendi in seine große Datenbank mit digitalen Doppelgängern, um dort amerikanische Konsumenten mit entsprechenden Profilen zu finden. Natürlich geschieht das auch nicht mehr per Hand, sondern per Computer. »Im Zentrum steht unsere Publikums-Wolke«, sagt Apprendi.

Die »Wolke« ist derzeit ein beliebtes Wort, um etwas im Ungefähren zu lassen. Tatsächlich handelt es sich um eine Sammlung von 190 Millionen Kundenprofilen. Die lagern nicht alle auf den Computern von Collective, aber die Technologiefirma darf auf all diese Profile zugreifen, sie anreichern, analysieren und vermarkten. Woher die Profile kommen? Sie werden von fünfunddreißig großen Internetunternehmen, viele von ihnen sind Onlinehändler, gesammelt, sagt Apprendi. Dann fügt er weitere Daten aus öffentlich zugänglichen Quellen hinzu, etwa über das Einkommen in bestimmten Stadtvierteln. Seine Technologie namens AMP helfe den Werbungtreibenden dann, aus den 190 Millionen digitalen Doppelgängern jene herauszusuchen, deren lebendiges Gegenstück man mit einiger Wahrscheinlichkeit in einen Kunden verwandeln kann. Die Software durchsuche einfach die Daten nach Dutzenden von Kriterien: »Geschlecht, Alter, ob sie gerade nach einem Computer suchen oder eine Geschäftsreise planen, nach Hobbies und Charaktereigenschaften.«

So fließen die Datenströme, die an verschiedenen Stellen mit verschiedenen Techniken aufgefangen werden, zusammen. Und zwar nicht nur bei Collective. Von 190 Millionen Amerikanern gibt es inzwischen mehrere, digitale Doppelgänger, die sicher noch kein Ebenbild abgeben, sondern in vielerlei Hinsicht verzerren, Dinge auslassen, noch nicht erfassen oder falsch interpretieren. Aber nach diesen digitalen Doppelgängern werden 190 Millionen Amerikaner an verschiedensten Stellen bewertet und eingeordnet.

In den USA sind etliche Firmen nun dabei, die letzte Hürde zu überspringen: All die Daten aus dem Internet, aus denen sich solch vollzählige Menschenabbilder ergeben, wieder den richtigen Menschen zuzuordnen. Oder zumindest den Geräten, die sie in ihren Taschen tragen. »Geräte-Fingerabdrücke« heißt das Zauberwort in der IT-Branche, und David Norris, der Chef einer Firma namens BlueCava aus dem kalifornischen Irvine, hat sie gegenüber dem Wall Street Journal kürzlich als die »nächste Generation der Onlinewerbung« bezeichnet. Kein Wunder, er verkauft ja solche Fingerabdrücke. 200 Millionen Geräte will er schon im Internet identifiziert haben: einzelne Handys oder Mobil- und Tablettcomputer, die sich ein wenig unterscheiden, nach ihren Spracheinstellungen und den benutzten Buchstaben, nach ihrer Zeitzoneneinstellung, nach dem Mix der Software auf diesem Rechner und so weiter.

Das Versprechen von BlueCava: Wenn eins dieser Geräte künftig eine präparierte Webseite besucht, erkennen die Fingerabdruck-Systeme es wieder – und können es mit vielen Datenbanken auf Supercomputern verbinden, wo längst eine Menge über die Gewohnheiten, Wünsche und Träume ihrer Besitzer verzeichnet ist. Noch Zweifel, dass hier der nächste »Große Bruder« geboren ist? BlueCavas Werbetexter antworten darauf mit einer rhetorischen Frage. »Wäre es nicht schön, wenn Sie wüssten, dass der Kunde, der gerade Flugtickets bei Ihnen kauft, wirklich Fred aus Fresno ist statt Boris aus Bulgarien? BlueCava kann das für Sie auseinanderhalten.«

Einmal Apple, immer Apple? Der Klammergriff

Soll man also dankbar sein, dass die digitalen Ebenbilder einen Riesensprung gemacht haben, seit es das iPhone und vergleichbare Handys von Google, Microsoft und Co. gibt? Der Wissenschaftler Chris Schmandt leitet seit Jahren die Abteilung für Mobilität und Sprache am Media Laboratory des Massachusetts Institute of Technology in Cambridge bei Boston. Von dort sind in den vergangenen Jahren viele wichtige Impulse für die technologische Entwicklung ausgegangen, und seit Langem ist es eines der intellektuellen Zentren der globalen Computerwissenschaften. Schmandt sagt: Durch die Mobiltelefone von heute weiß man »in nicht mehr als zwei Wochen ziemlich viel über dein Leben: wo du lebst, wo dein Arbeitsplatz ist, wie und wann du zur Arbeit fährst, wo du einkaufst, wen du anrufst, ob du Kinder hast und ob du sie in den Kindergarten oder in die Schule bringst. Das kann man alles aus den Daten filtern, die in gerade einmal zwei Wochen entstehen«.

Genau auf diese Daten sind Konzerne wie Apple, Google und Microsoft scharf und erheben sie in großem Umfang. Sie kombinieren die Ortungsdaten, die durch Handys entstehen, auf denen ihre eigenen Betriebssysteme laufen, mit den Daten, die die gleichen Konzerne durch kostenlose Internetangebote einsammeln: durch E-Mail-Programme, Chat-Kanäle, Nachrichten-Seiten, Such-Maschinen, Fotospeicher, Musik-Datenbanken, Spiele und anderes mehr. Wer sich einmal darauf eingelassen hat, wird feststellen, dass er nicht so schnell wieder aus diesen Öko-Systemen herauskommt. Zum einen halten ihn Verträge mit einem Mobilfunkunternehmen ab, die über mehrere Jahre laufen. Zum anderen machen es Apple und Co. enorm schwer, persönliche Daten von einem Anbieter zum nächsten mitzunehmen.

Als Erster hat der Computerhersteller Apple diese Technik perfektioniert. Sein iPhone war ein Meilenstein der Technikgeschichte – und der Datensammelei. Es ist einer der besten Sensoren, die es gibt, und das Unternehmen hat davon inzwischen mehr als 200 Millionen verkauft. Alle diese Menschen haben ein ziemlich genaues Bild ihres Verhaltens beim kalifornischen Computerkonzern Apple hinterlegt – und verfeinern und ergänzen es täglich.

Zunächst einmal kennt die Firma den Namen des iPhone-Besitzers, weil der sich anmelden muss, sobald er das Telefon erwirbt. Im gleichen Moment verlangt die Firma eine Kreditkartennummer, also eine Bankverbindung. Sonst kann der Kunde das Telefon nicht nutzen.

Mit dem Vertrag erlangt Apple weitreichende Rechte. So heißt es im Dokument »iPhone 4. Wichtige Produktinformationen« : »Sie erklären Ihr Einverständnis damit, dass Apple, seine Tochtergesellschaften und Auftragnehmer Diagnosedaten sowie technische Informationen, Nutzungsdaten und zugehörige Informationen, einschließlich insbesondere Informationen über Ihr iPhone, Ihren Computer, Ihre Systemsoftware und Softwareprogramme sowie Ihre Peripheriegeräte sammeln, verwalten, verarbeiten und verwenden dürfen, sofern diese für die iPhone Software relevant sind. Apple ist berechtigt, diese Informationen zu verwenden, um Produkte zu verbessern oder Ihnen Dienste und Technologien zur Verfügung zu stellen, vorausgesetzt, diese Informationen werden anonym gesammelt und in einer Form verwendet, die keinerlei Rückschlüsse auf Ihre Person zulässt.«

Danach fängt die Datensammelei erst richtig an. Apple betreibt seit zehn Jahren einen der größten Onlineshops für Musik und andere Medien (iTunes), registriert also Geschmäcker und Medienkonsumverhalten von mehreren hundert Millionen Menschen.

Das größte Verkaufsargument für das iPhone sind all die nützlichen und unnützen Programme, die anzeigen, wann am nahe gelegenen Bahnhof der Zug abfährt, wo ein nettes Restaurant zu finden ist und wie es von A nach B auf einer Karte geht. Zehn Milliarden solcher »App« genannten Programme haben die Besitzer von iPhones bis Januar 2010 auf ihre Telefone geladen. Und all diese Programme sammeln Daten. Zu den Diensten, die ortsbezogene Daten brauchen, erklärt Apple: »Indem Sie ortsbasierte Dienste auf Ihrem iPhone verwenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass Apple, seine Partner und Lizenznehmer Ihre Ortungsdaten und -abfragen übertragen, sammeln, verwalten, verarbeiten und verwenden, um Ihnen diese Produkte und Dienste anbieten und sie optimieren zu können. Sie können Ihr Einverständnis jederzeit widerrufen ...« Dann aber kann man diese Ortungsdienste auch nicht mehr benutzen.

Das größte Risiko für Apple, einen Kunden zu verlieren, entsteht, wenn der Kunde mit seinem iPhone auch alle Daten verlieren würde, die darauf gespeichert sind. Hier setzt eine weitere Sammel-Aktion des Konzerns an. Seit letztem Sommer macht Apple eine Sicherheitskopie von allen Daten auf dem Telefon – auch innerhalb der Programme –, um alles wiederherstellen zu können, wenn ein Telefon kaputtgeht oder gestohlen wird. Man kann diese Funktion ausstellen, aber es ist davon auszugehen, dass dies nur eine verschwindend geringe Minderheit tut.

Für die überwiegende Mehrheit speichert Apple in einer Sicherheitskopie folgende Daten: Adressbucheinträge, Notizen, die Liste der letzten Anrufer, SMS-Nachrichten, Fotos, gespeicherte Trainingseinheiten und Einstellungen für Nike + iPod, Daten für Programme aus dem App Store, Videos, Einstellungen für Programme, die eine Ortung ermöglichen – und Sprachmemos. Hinzu kommen Einstellungen, die der Nutzer nach und nach in einzelnen Programmen vornimmt: Lesezeichen im Internetbrowser, Cookies, Karten-Lesezeichen, die Zugangsdaten für Onlinekalender, E-Mail-Konten mit Kennwörtern. Im Sommer 2001 ist Apple dann konsequenterweise noch einen Schritt weiter gegangen und bietet die iCloud an. Dort sollen die Nutzer nicht nur Musik oder die Daten von einem iPhone, sondern gleich alle auf ihren Apple-Computern, iPads, iPods und iPhones anfallenden Daten in die konzerneigenen Rechenzentren überführen. Nur zur Sicherheit, natürlich. Und aus Bequemlichkeit. Denn so haben die Nutzer im Prinzip jederzeit Zugriff auf ihre Daten und müssen sie nicht mehr mühsam zwischen verschiedenen Geräten hin- und herschieben.

Was Apple mit den ganzen Daten genau macht? Darüber gibt der Konzern keine Auskunft.

Mit wem er diese Daten, wenn auch in anonymisierter Form teilt? Darüber gibt es keine genauen Informationen.

Wie Apple sicherstellt, dass diese Daten nicht wegkommen? Geschäftsgeheimnis.

Wo überall die von Apple gesammelten Informationen in Erkenntnisse verwandelt werden? Bleibt offen.

Apple ist für seine Kunden ein Schwarzes Loch, wenn es um Daten geht. Und das, obwohl die Kundenprofile von Apple einem digitalen Ebenbild doch näher kommen als viele andere.

Ein Optimist macht sich Sorgen

Chris Schmandt ist der Sohn eines ausgewanderten Bayern, ein massiger Mann und über 1,90 Meter groß. Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitet er am Massachusetts Institute of Technology in Boston (MIT), wo er die Abteilung Mobility and Speech leitet. Der 56-Jährige ist ein begeisterter Forscher, Erfinder und Technikversteher. Aber er macht sich zunehmend Sorgen.

»Wie all diese Geräte und Techniken, all dieses Zeug, unseren Alltag durchdringt, fasziniert mich seit langer, langer Zeit«, sagt Schmandt. Und dann erzählt er, wie er in den 1980er-Jahren, als Computer allenfalls an Universitäten und in Großunternehmen eingesetzt wurden, weil nur sie die riesigen Maschinen bezahlen konnten, herumexperimentierte. Schmandt grinst. »Erinnern Sie sich noch, wie teuer es war, von einem Hotel aus anzurufen? Also brachte ich meinem Computer bei, dass er mich zurückrief, wenn ich mich kurz meldete, und dass er mich gleichzeitig mit demjenigen verband, mit dem ich telefonieren wollte. Das muss so 1986 gewesen sein.« Zwei Jahre später, 1988, habe er dann einen Computer in den Kofferraum seines Autos eingebaut »und darauf das erste Navigationssystem programmiert«, erzählt Schmandt weiter. »Das war ein cooles Projekt.«

Schmandt trägt an diesem Tag ein blaues Jeanshemd und eine ausgewaschene Jeans, aber eigentlich sieht er immer so aus, sagt er. An seinen nackten Füßen schlenkern Flipflops. Sein Zimmer liegt im Altbau des MIT. Das Mobiliar ist ein scheinbar wahllos in dieses Zimmer geratenes Sammelsurium aus Stühlen, Tischen und Regalen. Darauf stehen Computer sowie diverse Anbauteile herum, dazwischen überall Bücher, eigentlich gibt es nur noch einen freien Korridor zu Schmandts Stuhl. Aus einem Regal über seinen zahlreichen Computerbildschirmen holt Schmandt nun einen GPS-Message-Sender, den er beim Wandern immer bei sich trägt. So hat er auch einmal in einer Gerölllandschaft sein Portemonnaie wieder gefunden, erzählt er begeistert. Er sei einfach exakt seine GPS-Spur zurückgegangen und habe den Geldbeutel so mitten im Nichts geortet. »Hat keine halbe Stunde gedauert.« Keine Frage, Schmandt liebt die Technik und ist ein Optimist.

Aber Schmandt ist auch Familienvater, Ehemann, Freund. Und als solcher warnt er vor der Technik, die er mitentwickelt hat und dann jenseits des MIT zu Massenprodukten hat reifen sehen, vor Apple, Facebook »und dem ganzen Mist«. Für ihn wird es an dem Punkt »kritisch und interessant«, wo es um die Frage geht, »wer bekommt diese ganzen Informationen – und wer kontrolliert sie«.

Spätestens mit den Smartphones hätten die Menschen ihr Leben unwiderruflich mit den Supercomputern verwoben, so Schmandt. Und die entscheidende Frage sei, wie sie in den kommenden Jahren den Überblick über die Technik behalten, und zwar nicht nur IT-Genies, sondern der durchschnittliche Bürger. Schmandt sagt dazu: »Im Moment kann man noch die Kontrolle über seine Daten behalten, aber man muss dazu ziemlich smart sein. Und auf Dinge verzichten können. Ich tue das, aber meine Kollegen und Freunde erzählen mir von all den Diensten, die sie nutzen, und wie nützlich und toll die seien. Es ist eine Kosten-Nutzen-Frage. Und ich sehe inzwischen oft die Kosten.« Man verliert einfach ein großes Stück seiner Autonomie, weil man nicht mehr überblicken kann, wer wo etwas speichert.

Aber nicht nur das: »Wenn das System ausfällt oder einen Fehler hat, geraten Menschen in Schwierigkeiten! Wir sind schrecklich, schrecklich verwundbar, weil wir alle diese Dienste nutzen. Wir hängen davon ab.« Schmandt muss gar nicht mehr sagen. Datenskandale füllen wöchentlich die Zeitungen, Onlinedienste und Fernsehsendungen: Microsoft verliert Daten von Mobilfunkkunden. Google-Handys werden von Viren heimgesucht. Amazon vernichtet aus Versehen die Daten von Firmen, die viel Platz in der »Cloud« angemietet haben.

Was machen Supercomputer aus dem Menschen?

Die Menschen haben einige ihrer größten Industrien um Supercomputer, das Internet und ihr Zubehör errichtet. Sie holen Silizium aus der Erde, verwandeln Rohöl in Kunststoff, stellen Milliarden Chips, Bildschirme und andere Hightechprodukte her, errichten weltweite Entwicklungs- und Lieferketten, erfinden globale Werbekampagnen und schaffen weltweite Handelsorganisationen, um alle mit dieser Technik zu versorgen und zu verbinden. Die Supercomputer fordern unfassbar viel Kreativität und Arbeitskraft.

An dieser Stelle meint der Publizist und Techniksoziologe Kevin Kelly, es sei einmal an der Zeit, die Perspektive zu wechseln, und genau das tut er in seinem jüngsten Buch. Darin fragt er nicht, was die Menschen nun alles mit den Computern anfangen, sondern was ein so enormes System wie die Informationstechnik, alle Hard- und Software des Planeten zusammengenommen, vom Menschen verlangt: What Technology Wants, fragt er. Was machen diese Supercomputer mit uns? Zu welchem Verhalten bewegen sie uns?

»Ich glaube nicht, dass die Gesellschaft schon versteht, was es heißt, wenn alles zugänglich, erfahrbar und von allen und zu jeder Zeit gespeichert werden kann«, sagte Google-Verwaltungsratschef Eric Schmidt noch im Sommer 2010 dem Wall Street Journal. Und deshalb soll dieses Kapitel zum Abschluss drei Aspekten nachgehen. Sie drehen sich um einen Verlust an Autonomie, weil Menschen die Übersicht verlieren, um eine wachsende Abhängigkeit von dieser Technik im Alltag und zuletzt um eine psychische Veränderung, die bei Menschen zu beobachten ist. Das »System« macht das Leben leichter, reicher, angenehmer – wenn es funktioniert. Aber: Indem es funktioniert, manipuliert es. Tausende von Programmierern und ihre Algorithmen verändern das Leben der Menschen, und diese haben es nicht mehr unter Kontrolle, nach welchen Regeln die Supercomputer mit ihnen kommunizieren, ihnen Werbung schicken, ihnen Informationen zuteilen. Deshalb stehen die ersten Menschen an der Schwelle, von Computern und Software beherrscht zu werden. Ganz subtil. Ohne böses Genie im Hintergrund. Und doch einschneidend.

 

Autonomieverlust: Er ist offensichtlich. Er beginnt damit, dass praktisch niemand weiß, wer etwas und wie viel dieser Jemand über ihn gespeichert hat. Denn die Datenerfassung läuft unterhalb der Wahrnehmungsschwelle des Einzelnen. Wer kennt AppNexus? Wer weiß, was Apple, Collective, Tomorrow oder Doubleclick alles wissen? Davon abgesehen, lesen ohnehin wenige Menschen die klein gedruckten, oft mehr als dreißig Seiten langen Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die sie akzeptieren müssen, bevor sie einen Onlinedienst nutzen. Noch geringer wird der Prozentsatz der (immerhin) Halbwissenden, wenn man bedenkt, das Apple und Co. ihre ellenlangen Dokumente, die an iPhone- und andere Kunden gerichtet sind, alle sechs Monate in wesentlichen Punkten ändern.

Ein zweiter Aspekt ist, dass Supercomputer in der Werbung den Zufall zurückdrängen. In den Grenzen eines bekannten Kundenprofils wird die Werbung zweifellos relevanter; dem System noch unbekannte Neigungen eines Konsumenten werden damit allerdings zunehmend ausgeklammert.

 

Abhängigkeit: New York gilt als ein guter Ort, um zu beobachten, wie sehr sich Menschen heute schon auf die Supercomputer verlassen, wie abhängig sie von ihnen sind. Die Wege zwischen Arbeit und Wohnung sind in New York lang, zugleich gibt es viele gut bezahlte Angestellte, die ein teures Telefon, also letztlich einen Zugang zum den Supercomputern besitzen. Das Leben im Laufen zu organisieren ist normal, und in diesem Umfeld habe das Mobiltelefon für viele Menschen »die Rolle eines Concierge übernommen«, eines Dieners in allen Lebenslagen, sagt Trendscout Florian Peter, Gründer der New Yorker Firma Cscout. »Harry, hol den Wagen«, »Frau Müller, reservieren Sie bitte einen Tisch«, früher musste man Chef sein, damit nach diesen Sätzen etwas geschah. Heute tippen die New Yorker: Taxi! Klick. Tisch bei Abe & Arthur’s, 19 Uhr! Klick.

Menschen, die ihr Handy als ausgelagerten Teil des Gehirns benutzen, sind nicht in der Mehrheit, nicht in der Lower East Side und nicht im Rest der Stadt. Aber ihre Zahl nimmt zu, und Legionen von Start-ups bedienen ihre Bedürfnisse. Sie übersetzen Alltagsfragen in Handyprogramme und machen die Geräte zu einem unverzichtbaren Werkzeug, mit denen sich das Leben in all seinen Nischen organisieren lässt, solange die Systeme funktionieren. Aber wehe, wenn nicht. Wenn einige der großen Datensammler versagen, verlieren Menschen heute mehr als ein paar Daten. Es ist, als würde ihnen die Handtasche mit Adressbuch und Tagebuch gestohlen.

 

Cyborgs: Über Menschen, die ihr Leben besonders eng mit dieser Technik verwoben haben, ist eine wissenschaftliche Debatte entstanden: Werden sie zu einer Art Cyborg? Sind sie nur noch »komplett« in ihrer Verbindung mit der Technik? Die Soziologin und Psychologin Sherry Turkle, die am Massachusetts Institute of Technology lehrt, hat in fünfzehn Jahren und Dutzenden von Feldforschungen das Verhältnis der Menschen zu Computern, Handys und Robotern erforscht. Ihre Erfahrung ist, je weniger Menschen wissen, wie die Technik funktioniert, umso tiefere Gefühle entwickeln sie für sie: Verbundenheit. Vertrauen. Ihre Interpretation läuft darauf hinaus, dass Intensiv-Nutzer von Handy und Co. tatsächlich zu einer Art Cyborg werden.

Diese Menschen seien mit der Technik in einer Weise eins geworden, die noch vor wenigen Jahren auch für Turkle unvorstellbar gewesen sei, argumentiert sie. Damon Darlin schrieb in der New York Times, iPhone und Co. seien »Erweiterungen unseres Ichs geworden, aber nicht in dem Sinn, in dem eine teure Uhr etwas darüber sagt, wer wir sein wollen, sondern tatsächlich als ein Teil unseres Bewusstseins«. Autonomieverlust, Abhängigkeit, eine sich vertiefende emotionale Beziehung zwischen Mensch und Handy, also letztlich mit den Supercomputern: Es gibt einen plausiblen Grund für diese Entwicklung, sagt der spanische Soziologe und Theoretiker der Informationsgesellschaft, Manuel Castells. »Pervasive mobile Netzwerke gehören inzwischen zu den sozialen Strukturen unserer Welt.« Wir leben in einer »Mobile Network Society«, und man kann sie nicht einfach abschalten, sehr wohl aber verändern. So argumentiert auch Turkle. In einem Interview sagte sie kürzlich: »Eigentlich bin ich vorsichtig optimistisch, dass ein Wandel einsetzt. Der Grund ist, dass die Menschen, mit denen ich rede, einfach nicht glücklich sind.« Und sie führt im Interview mit der Wochenzeitung DIE ZEIT weiter aus: »Es geht nicht darum, einen kalten Entzug zu machen und die Geräte wegzuwerfen. Die Gefahr geht von einem unausgewogenen Verhältnis aus – wer das einsieht, kann daran arbeiten, ihnen weniger schutzlos ausgeliefert zu sein.«

Letztlich geht es also darum, wie wir die Supercomputer und ihre Programmierer zähmen – und uns selbst zu disziplinieren.

Um die heutige Abhängigkeit zu verringern und den Menschen damit mehr Autonomie zurückzugeben, würde es schon viel helfen, mehr Transparenz schaffen. Dazu muss jeder die Frage klären können: Wo sind meine Daten und was geschieht mit ihnen? Man muss die Wolken der »Cloud« beiseite schieben können und direkten Zugang zu den Supercomputern bekommen.

In den USA und in Europa haben sich Politiker und Regulierungsbehörden lange nicht um dieses Thema gekümmert. Doch seit dem Jahreswechsel 2010/2011 ändert sich das. Die amerikanische Kommunikationsbehörde FCC plant eine Art Grundrecht auf Privatsphäre, und das US-Handelsministerium arbeitet an einem neuen Gesetz zum Umgang mit Daten. Beide laufen darauf hinaus, dem Einzelnen mehr Autonomie zurückzugeben und seine Auskunftsrechte gegenüber Datensammlern zu stärken.

Größere Einschränkungen könnte es für die Datensammler in Europa geben. Die EU will das Recht des Einzelnen stärken, seine Daten einzusehen, zu verändern oder zu löschen. Explizit fordert sie ein »Recht auf Vergessen«.

Am MIT experimentiert Hal Abelson damit, ob jeder Internetnutzer seinen Daten eine Lizenz mitgeben könnte, die festlegt, wie seine Daten genutzt werden. Damit er das nicht jedes Mal tun muss, wäre auch eine Zentralstelle für Lizenzen im Umgang mit persönlichen Daten denkbar. Vielleicht in einer Datenschutz-Stiftung angesiedelt. MIT-Forscher Abelson arbeitet auch schon an einer Art Software-Polizei, die selbstständig prüft, ob alle Datensammler die Lizenzen beachten.

Wenn nichts geschieht, dann sind uns die Maschinen bald voraus.

Wie erste Maschinen die Zukunft voraussagen

Fünf junge Männer steigen in einem Backsteinbau an der 21. Straße in Manhattan in einen Fahrstuhl. »Hey, das sieht aber hässlich aus«, sagt einer und hält den anderen sein Handy vor die Nase. Er spricht von Grautönen und Linien, der sichtbaren Oberfläche ihrer neuen Software. Die Männer fachsimpeln, lachen, blödeln zehn Stockwerke lang, dann steigen sie aus und gehen durch eine Metalltür, auf der nur ein Aufkleber mit dem Wort »Hunch« pappt. »Hunch« ist das englische Wort für »Vorahnung«, und das ist in diesem Fall so zutreffend wie maßlos untertrieben. Nicht mehr lange, dann werden sie dort die Zukunft vorhersagen. Eigentlich können sie es schon, sie machen bloß noch ein paar Tests.

Hunch besteht lediglich aus fünfzehn Computergenies. Ein Drittel der Belegschaft stand also gerade im Fahrstuhl und sieht so aus, wie man sich in den USA ordinary guys vorstellt: mittelgroße, weiße Männer im Alter von Ende zwanzig. Diese netten Jungs haben nach eigenen Angaben 30 Milliarden persönliche Informationen über den Geschmack von Menschen und die Verbindung zwischen diesen Informationen analysiert. Und das benutzen sie nun, um schlummernde Wünsche zu erahnen und diese mit einer gezielten Empfehlung zu verstärken. Im Internet. Und vor allem auf dem Handy. »Empfehlung«, das klingt so harmlos. Dahinter verbirgt sich ein großer technologischer Entwicklungsschritt. Bisher musste man dem Internetkonzern Google immer noch sagen, was man sucht. Nun sind erste Firmen dem Nutzer voraus – und wenn es nur einige Sekunden sind.

Hunch-Gründer Chris Dixon beschreibt sein Konzept so: »Statt etwas zu suchen, wird man nun gefunden. Also: Du läufst eine Straße entlang, und Hunch weiß, dass ein Geschäft in der Nähe zu deinem Geschmack passt.« Versprochen haben das schon viele: das Handy als Fenster zur Welt für seine Besitzer – und umgekehrt als Fenster der Welt in den Kopf des Besitzers hinein. Aber Hunch ist dem Ziel wirklich nah.

Fast alle Mitarbeiter von Hunch haben am MIT studiert, und mit ihrem dort erworbenen Wissen über Künstliche Intelligenz und Algorithmen stellen sie heute Beziehungen in riesigen Datenbergen her. Berechnen Wahrscheinlichkeiten. Suchen nach Auffälligkeiten. Zu diesen generellen Erkenntnissen »brauchen wir von jedem Menschen nur zwanzig Datenpunkte, dann können wir mit weit über 90 Prozent vorhersagen, welchen Geschmack er hat und welche Dinge er mögen wird. Wir sind schon ziemlich gut«, sagt Chris Dixon, nachdem er sich im Büro eine ruhige Ecke gesucht und niedergelassen hat. »Und das sagt auch einiges über den Menschen an sich aus.« Genauer, wie wenig man über einen Einzelnen wissen muss, wie viel der eigene Freundeskreis aussagt – und wie sehr sich die Menschen im Grunde doch gleichen. Alle Werbefachleute wissen das. Aber jetzt erhält dieses Wissen eine neue Stoßkraft. Datenpunkte! Es ist ein kühnes Wort für jene Schlüsselinformationen, die Dixon unser ganzes Leben zu erklären scheinen. Der Mann lehnt sich zurück, schiebt seine Hornbrille die Nase hoch und kratzt an seinen grün-lila-gelb geringelten Wollsocken. Dann unterbricht der Firmenhund das Gespräch. Dixon beugt sich hinab und krault den winzigen Terrier, bis der wieder verschwindet.

Wer nicht glaubt, was Dixon sagt, sollte Hunch ausprobieren. Die Fragen sind scheinbar banal: Können Sie selbst ein Dolby-Surround-System anschließen? Ist es falsch, Delfine in Shows auftreten zu lassen? Sind Sie eine Mac-Person oder ein PC-Typ? Cola oder Pepsi? Sind Sie in der Schule viel gehänselt worden? Zwanzig Fragen sind es – und die Ergebnisse dann atemberaubend zielgenau: bis hin zu einzelnen Büchern, Schuhmodellen und politischen Einstellungen. Ob das nun zu 92, 95 oder 97 Prozent zutrifft, bedürfte einer Überprüfung von außen. Was der Buchhändler Amazon für Bücher geschafft hat, liefert Hunch für Hunderte von Produkten.

Woher Chris Dixon all die Daten bekommt, die er braucht? Von einigen großen Datensammelstellen, die für jede Technik dankbar sind, die ihnen hilft, mehr Umsatz zu erzeugen. Es würde auch nicht verwundern, wenn die Hunch-Technik bald auf sogenannten sozialen Geo-Location-Apps auftaucht: Die bekanntesten heißen Foursquare, Gowalla, Facebook-Places, Google-Latitude und Brightkite. Das Prinzip ist überall ähnlich. Mitglieder können sich über ihr Handy Plätze in der Nähe anzeigen lassen und dort »einchecken«. Ihre Freunde sehen dann einen Punkt auf dem Stadtplan. Ob in Bars, Restaurants, im Einkaufscenter, am Arbeitsplatz oder im heimischen Wohnzimmer. Bei Foursquare gibt es für jeden Check-In virtuelle Punkte, und wer am häufigsten an einem Ort eincheckt, wird dessen »Bürgermeister«. Würde Hunch all diese Daten analysieren, könnte Foursquare seinen Nutzern, wenn diese einen Stadtbummel machen, viele zu ihren Vorlieben passende Orte und Geschäfte vorschlagen, an denen sie gleich vorbeilaufen. Erste Verträge mit Handelsunternehmen hat Dixon geschlossen, mit wem, sagt er nicht, das würden seine Kunden nicht erlauben. Aber so viel könne er verraten, ein großer Buchhändler und ein populäres Reiseunternehmen seien darunter.

Alles, was den Kaufimpuls verstärkt, ist hochwillkommen.