Duval hatte mit dem Blogbetreiber René Bouleau Kontakt aufgenommen, der ihn umgehend mit einer nicht enden wollenden Mail, mit Sätzen in Großbuchstaben und voller Ausrufezeichen überfiel. ENDLICH würde man auf seinen Blog aufmerksam! ENDLICH ! Seit Jahren mühe er sich ab, dass man ihm Gehör schenke, aber die Presse schweige ihn tot. Nur weil ich ein Pied-Noir bin! Weil man uns immer noch nicht hören will! Er freue sich auf ein Gespräch, ließ er Duval wissen, wann immer es ihm gefiele. »Wenn Sie sich für die Sache starkmachen, dann wird man uns zuhören! Ich zähle auf Sie!!!«, hatte er in einem Postskriptum – wieder unter großzügiger Verwendung von Ausrufezeichen – angefügt. Duval war schon nach dieser Mail erschöpft und nicht allzu scharf auf ein Gespräch. Zunächst begann er wieder zu lesen. In der Buchhandlung hatte er einen Stapel Bücher zum Algerienkonflikt erstanden, der Bouquinist, bei dem er den Bildband über Malpasset gefunden hatte, versorgte ihn mit alten Sonderausgaben von Paris Match, einem Geo -Heft und einem Sonderband von AFP , der Agence France-Press. Er las, blätterte und sah die zum Teil erschütternden Schwarz-Weiß-Fotos der Zeit an.
Ganz ohne Wissen wollte er diesem Mann und seiner erschöpfenden, möglicherweise auch einseitig gefärbten Kenntnis über diesen Teil der Weltgeschichte nicht gegenübertreten.
Im Prinzip hatte er nur ein paar Eckdaten gewollt, wann hatte die Front de Libération Nationale angefangen zu existieren, wer war wer, und wie hatte sich ihre Bewegung entwickelt. Was war am 8. Mai 1945 in Sétif passiert, das einem alle Pieds-Noirs immer mit dramatischer Miene entgegenschmetterten: »Und Sétif!«
Das »Massaker von Sétif« galt auch in der offiziellen Geschichtsschreibung, so viel hatte Duval verstanden, als der Ausgangspunkt des Befreiungskrieges. Ein Massaker, bei dem im Laufe einer Woche etwa hundert Siedler umgebracht worden waren. Das war zumindest das, was die Pieds-Noirs erzählten: »Die Araber«, für die es wahlweise zig andere verächtliche Namen gab, hätten willkürlich Siedler abgeschlachtet.
Am 8. Mai 1945 feierten auch die Franzosen Algeriens ausgelassen das Ende des II. Weltkriegs und die Befreiung Europas von der Nazi-Herrschaft. Die Algerier nahmen es zum Anlass, ihrerseits auf ihre »Besatzungssituation« hinzuweisen. In Sétif, aber auch in anderen Städten, kam es zu großen und zunächst friedlichen Demonstration der sogenannten indigenen Bevölkerung, bei der erstmals auch die algerische Flagge getragen wurde. Die Demonstranten forderten Gleichheit, Unabhängigkeit und »Algerien den Arabern«. Gendarmen versuchten, den Demonstranten ihre Fahnen zu entreißen, dabei fielen Schüsse, von denen Demonstranten tödlich getroffen wurden. Danach eskalierte die Situation. An vielen Orten kam es zu Unruhen und viele, vor allem isoliert lebende, Siedler wurden von Algeriern getötet. Die Siedler bildeten daraufhin mit Billigung der Behörden Selbstverteidigungsmilizen, die Racheakte verübten, wobei sie, unterstützt von der Armee, die Dörfer bombardierten und beschossen. Bis heute waren die genauen Zahlen der Toten, die es bei diesen Vergeltungsaktionen bis Anfang Juni 1945 gegeben hat, unbekannt. Die Angaben schwankten je nach Quelle. Die französische Armee sprach von dreitausend, die Algerier hingegen bis heute von 45000 Toten. Was immer davon stimmte und selbst wenn die wahren Zahlen irgendwo dazwischenliegen sollten, eines war unleugbar, die Opfer unter den Algeriern waren um ein Vielfaches höher als unter den Algerienfranzosen.
Sétif aber führte ihn nur weiter hinein in die Geschichte des französischen Algeriens. Es reichte keinesfalls, sich nur die Ereignisse des Jahres 1959 anzusehen. Auch die Geschichte der FLN , der Front de Libération Nationale, der Nationalen Befreiungsfront ließ sich nicht in zwei Sätze stecken. Die erste nationalistische Bewegung entstand schon in den Zwanzigerjahren: ENA , Étoile nord-africaine um Messali Hadj. Sie wurde gegründet, aufgelöst und ein paar Jahre später wieder zum Leben erweckt, umgestaltet und umbenannt. Mitte der Fünfzigerjahre spaltete sich eine Gruppe jüngerer und kämpferischer Mitglieder davon ab; der Weg durch die Institutionen führte ihrer Ansicht nach nicht oder nicht schnell genug zum Ziel. Was hatten sie in dreißig Jahren erreicht? Nichts! Sie forderten bewaffnete Aktionen, denn nur der bewaffnete Kampf, glaubten sie, sei der erfolgversprechende Weg zur Unabhängigkeit: So entstand die zukünftige FLN . Duval betrachtete ein Foto von sechs jungen Männern in schlecht sitzenden Anzügen, die grimmig in die Kamera blickten. Er las ihre Namen, aber sie sagten ihm nichts.
Die FLN gründete die ALN , die Armée de Libération Nationale, eine Nationale Befreiungsarmee, mit der sie ihre Ziele militärisch durchsetzen wollte. Die erste schwere militärische Offensive eröffnete die ALN in der Nacht des 1. November 1954, der als Blutiges Allerheiligen in die französische Geschichte einging. In einer konzertierten Aktion explodierten an dreißig Orten in Algerien Bomben. Polizeiposten und militärische Einrichtungen flogen dabei in die Luft. Auch wenn Frankreich Militär schickte und der »Rebellen« dieser Aktion in weniger als zwei Wochen habhaft wurde, die Bewegung der FLN konnten sie nicht mehr stoppen. Das letzte Kapitel der Kolonialgeschichte Frankreichs in Algerien hatte begonnen.
Duval schlug das Buch zu und griff zu ein paar Blättern, einem Ausdruck eines Interviews, das Annie vor ein paar Jahren während der alternativen Buchmesse in Mouans-Sartoux mit der Enkelin eines Harki geführt hatte; sie hatte ein Buch über die Geschichte ihrer Familie veröffentlicht.
Viele der sogenannten Harki, indigene Hilfssoldaten, hatten in den vergangenen Weltkriegen für Frankreich gekämpft. Häufig war ihr Engagement in der Armee aus finanzieller Not erfolgt, und nach dem Krieg sicherten sie mit einer kleinen Pension das Überleben ihrer Familie. Manch einer erhielt auch einen untergeordneten Posten in der Militärhierarchie. Ein Informant im besten Sinne. Für die FLN galten sie daher als Verräter. DIE Verräter schlechthin. Die FLN forderte, dass sie von nun ab auf ihre Pension verzichteten und sich öffentlich gegen die französische Armee stellten. Taten sie das nicht, dann waren sie und ihre Familien vor der Rache der FLN nicht mehr sicher. Die französische Armee wusste dies zwar, konnte oder wollte sie vor der FLN aber nicht beschützen. Sagten sich die Harki aber von der französischen Armee los, waren sie damit fürderhin der Willkür und den Repressalien der Armee ausgesetzt, vor denen die FLN sie wiederum nicht schützte.
Was für ein Dilemma, dachte Duval.
Nur wenige Harki hatten sich bis nach Frankreich retten können. Den meisten wurde nach der erlangten Unabhängigkeit Algeriens und nach dem Abzug der französischen Armee der Garaus gemacht.
An den giftsprühenden und hasserfüllten Kommentaren, die es beim Erscheinen des Buches in den sozialen Medien gab, konnte man erkennen, wie ungewöhnlich es war, dass eine Enkelin eines »Verräters« es gewagt hatte, den Mund aufzumachen. Der »Verrat« wurde weitervererbt, auch zwei Generationen später zahlte man noch für »das, was der Großvater getan« hatte. Man hatte der Autorin sofort angedroht, ihr die Kehle durchzuschneiden, spätestens wenn sie ihre Füße auf algerischen Boden setzen würde. War das realistisch?, hatte Annie gefragt. Die junge Autorin schloss es nicht aus. Damals kam ihm das völlig absurd vor.
So viel Gewalt. Duval machte eine Pause und trank einen Kaffee. Immerhin fühlte er sich nun halbwegs vorbereitet und kontaktierte René Bouleau, der ihn umgehend und hocherfreut in das »Vereinsheim der Pieds-Noirs und ihrer Freunde« in Antibes einlud: eine kleine Erdgeschosswohnung in einer gesicherten Wohnanlage mit einer Terrasse und Zugang zum Garten. Die Wände waren dekoriert mit leicht angegilbten Werbeplakaten, die für Reisen nach Algier, Oran und Constantine warben. Algier, la Blanche, lautete ein Schriftzug auf dem Reiseplakat für Algier: Algier, die weiße Stadt. René Bouleau zeigte stolz die Gruppenfotos der Zusammenkünfte der Pieds-Noirs und ihrer Freunde. »Jeden Samstagnachmittag treffen wir uns«, berichtete er. »Wir sprechen über die Zeit ›là-bas‹, über unsere Erinnerungen, wir zeigen uns Fotos, damit unser Leben dort nicht vergessen wird. Und glauben Sie mir, wir sind nicht nur Alte! Wir haben viele junge Menschen, natürlich alles Kinder und Enkel von Pieds-Noirs, die sich hier engagieren. Letztes Jahr hat ein sechzehnjähriger Junge den jährlichen Gesangswettbewerb gewonnen! Er hat voller Inbrunst ›J’ai quitté mon pays‹ gesungen, besser als Enrico Macias es selbst gesungen hat, es war wundervoll, wir alle hatten Tränen in den Augen. Wissen Sie, ich war auch sechzehn, als ich mein Land verlassen habe.« Er seufzte dramatisch und winkte dann ab. »Aber deswegen sind Sie ja nicht gekommen, lassen Sie uns über wirklich Wichtiges sprechen. Möchten Sie eine Anisette? «
»Warum nicht«, stimmte Duval amüsiert zu, dass das »wirklich Wichtige« mit einem Anislikör eingeleitet wurde.
René Bouleau brachte eine Flasche Cristal und eisgekühltes Wasser aus der kleinen Küche und stellte ein Schälchen mit Oliven und Lupinensamen auf den Tisch. »Vorsicht«, warnte er, »die sind scharf!« Dann goss er Duval die durchsichtige Flüssigkeit in ein schmales hohes Glas. Und schob ihm den Krug mit Wasser zu.
»Danke«, sagte Duval, hob das Glas, besah die Flüssigkeit und roch instinktiv daran.
»Ah, unsere Anisette ist nicht gefärbt, die ist natürlich!«, sagte René Bouleau, der ihn beobachtet hatte.
Duval goss sich Wasser dazu, die Flüssigkeit wurde weiß und milchig.
»Probieren Sie, santé! «, hob René Bouleau das Glas und prostete ihm zu.
Duval nickte und trank.
»Und?«
»Ein besonderer Geschmack«, befand Duval vorsichtig, »anders als das, was ich sonst trinke. Ich bin ein Fan des 51.«
»Das ist gar nicht vergleichbar«, entschied René Bouleau. »Hier, nehmen Sie, das passt gut zusammen!« Er schob ihm das Schälchen mit Oliven zu.
»Danke«, Duval steckte sich eine große grüne Olive in den Mund, biss darauf und japste nach Luft.
»Oh, entschuldigen Sie, ich sagte doch, die sind scharf, trinken Sie, schnell!«
Duval leerte den Pastis in einem Zug und goss sich erneut Wasser in das Glas.
»Daran erkennen Sie die echten Pieds-Noirs, wir können genauso scharf essen wie die Araber«, sagte er stolz, steckte sich eine Olive in den Mund und zerkaute sie genussvoll. »Vielleicht nehmen Sie eine Lupine«, schlug er vor, aber Duval lehnte ab.
»Sie interessieren sich also für Malpasset«, begann René Bouleau. »Darf ich fragen, wieso? Und wie sind Sie auf meinen Blog gestoßen?«
»Ein Kollege von mir, dem ich sehr nah war, ist vor Kurzem gestorben«, begann Duval. »Ich habe erst nach seinem Tod erfahren, dass er einen Teil seiner Familie bei der Katastrophe verloren hat. Kurz vor seinem Tod hat er begonnen, Nachforschungen anzustellen, aber er kam nicht sehr weit. Ich weiß, dass er diese Dokumentation im Fernsehen gesehen hat, die ihn sehr aufgewühlt hat. Mich beschäftigt es seitdem auch. Und ich habe nach ›Malpasset‹ und nach der Sendung gesucht und bin dann auf diesen Ausschnitt auf Ihrem Blog gestoßen. Es war nicht so schwierig, wenn man weiß, wonach man sucht.«
»Sehr gut, sehr gut!« René Bouleau war kaum zu bremsen, endlich hatte er außerhalb seiner Kreise einen, der sich für die »Wahrheit« interessierte. »Sehen Sie, diese Katastrophe«, begann er ohne Umschweife, »schon meine Eltern haben immer gesagt, es würde sie nicht wundern, wenn das ein Attentat der FLN gewesen wäre.« René Bouleau machte ein dramatisches Gesicht. »Es knallte damals an allen Ecken und Enden. In Algerien und in Frankreich. Spätestens nachdem die Bombe in der Milk Bar in Algier explodiert war, musste es auch der Letzte verstanden haben, dass die FLN vor nichts zurückschrecken würde.«
»Das war 1956 oder?«
»Ja, am 30. September 1956.« Er schwieg einen Moment. »Drei Tote und sechzig Verletzte. Viele Kinder mit abgerissenen Armen und Beinen. Es sind Barbaren! Zwei Frauen haben die Bombe deponiert! Eine Schande! Stellen Sie sich das vor! Die haben doch gesehen, wer in der Milk Bar war! Vor allem Frauen und Kinder! Es war der letzte Tag der Ferien, die Kinder bekamen noch mal ein Eis. Und dann zünden die dort eine Bombe!« Er sah zornig aus. »Bis heute haben die kein Bedauern für das, was sie getan haben! Hingegen eine schöne Karriere in der Politik gemacht. Senatorin ist eine geworden, Zohra Drif, können Sie im Internet nachschauen. Wird heute vom französischen Fernsehen empfangen und als Heldin der Befreiung gefeiert. Es ist zum Kotzen! Terroristin, sage ich! Und de Gaulle hat sie begnadigt, und Chirac hat ihr später sogar die Hand geschüttelt!«
»Solche Gesten sind wichtig im Prozess einer Annäherung oder Aussöhnung«, sagte Duval. »Ich vermute, das war die politische Linie damals. Das ist sie ja auch heute …«
»Aussöhnung! Niemals!«, unterbrach René Bouleau Duval sofort. »NIEMALS ! Nachdem, was die uns alles angetan haben! ›Packt eure Koffer, oder ihr geht ins Grab‹ haben uns die Araber gesagt. La valise ou le cercueil. Wir hatten keine Wahl. Alles haben wir zurückgelassen. Alles. Unsere Häuser, unsere Geschäfte, unser Land, sogar unsere Toten auf dem Friedhof. Und dann die Ankunft in diesem Land! Mutterland! Wer von uns Pieds-Noirs kannte denn dieses Mutterland? Wir sind dort drüben aufgewachsen. Là-bas! «, er zeigte theatralisch auf das Plakat mit dem Foto von Algier. »Seit Generationen haben wir là-bas gelebt. Algerien ist unsere Heimat.«
Duval nickte, er konnte nicht umhin, mitzufühlen. »Es war das Ende des Kolonialismus«, warf er ein. »Überall auf der Welt haben die Kolonien ihre Unabhängigkeit gefordert und zum Teil blutig erkämpft.«
»Aber Algerien war keine Kolonie«, ereiferte sich René Bouleau, »Algerien war Frankreich!«
Weil Frankreich es so entschieden hatte, dachte Duval, der Annies Stimme im Kopf hatte, über die Köpfe der Algerier hinweg, die nicht gefragt worden sind, aber er sagte es nicht. Es war ein kolonialistisches System, das konnte man nennen, wie man wollte. Aber er war nicht da, um mit René Bouleau zu diskutieren, er wollte, dass der ihm etwas erzählte. »Hm«, machte er stattdessen unbestimmt.
»Und wie hat uns dieses sogenannte Mutterland denn empfangen? Mit Verachtung, Misstrauen, mit Hass. Die haben uns wie den letzten Dreck behandelt. Wir sind ›zurückgekommen‹, haben sie gesagt. Zurückgekommen! Dass ich nicht lache, die allermeisten von uns haben Frankreich nie zuvor gesehen!«
»Ja«, stimmte Duval zu. »Das ist allerdings eine eigenartige Formulierung.«
»Die Franzosen in Frankreich haben bis heute keine Ahnung, wer wir sind, was wir erlebt haben. Dass wir da drüben ein Land aufgebaut haben! Was war denn da vorher? Nichts! Wüste! Steine! Die haben doch nichts aus ihrem Land gemacht! Nichts! Wir haben dieses Land zu dem gemacht, was es ist. Wir haben der Hitze und den Krankheiten getrotzt und all den Schwierigkeiten, wir haben geschuftet! Wir haben ein Paradies geschaffen, mit unserer Hände Arbeit! Und das haben wir ihnen gelassen! Ein Paradies! Und was haben sie daraus gemacht? Was haben sie aus alldem und aus ihrer Unabhängigkeit gemacht?« Er sah Duval wütend und provokant an. Aber der reagierte nicht.
»Na bitte! Sie können auch nicht anders als mir zustimmen!«
»Ich kann mir da kein Urteil erlauben«, begann Duval vorsichtig. »Ich verstehe nur nicht, wie Sie, ich meine, Sie sind doch mit sechzehn Jahren schon nach Frankreich gekommen. Wie Sie auch fünfzig Jahre später noch immer so leidenschaftlich für diese Vergangenheit brennen.«
»Es ist unser Leben, es sind meine Wurzeln, verstehen Sie! Meine Identität, aber außer uns Pieds-Noirs spricht niemand über Algerien, es ist ein Tabu. Die Franzosen wissen nichts, wollen auch nichts wissen. Unsere französisch-algerische Geschichte, die immerhin über hundertdreißig Jahre existiert hat, ist ihnen heute peinlich. Sie sind heute natürlich auf der Seite der Freiheitskämpfer, unterstützen den heldenhaften Kampf um die Unabhängigkeit und kriechen vor diesen Arabern im Staub. Ich schäme mich, einen Präsidenten zu haben, der von nichts eine Ahnung hat, der noch grün hinter den Ohren ist und der in Algerien allen Ernstes sagt, die Kolonisierung sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewesen.« René Bouleau sah so aus, als wollte er ausspucken.
»Unser Präsident hat das Glück, erst lange nach diesem Konflikt geboren zu sein«, verteidigte ihn Duval. »Und seine politische Linie ist ganz klar Aussöhnung mit Algerien. Schon auch, damit die Situation in den Banlieues nicht immer wieder eskaliert.«
»Aussöhnung mit diesen Terroristen! Wo kommen wir denn da hin! Niemals! Wir haben dieses Land aufgebaut! Die können uns dankbar sein für die Infrastruktur, die wir ihnen gelassen haben! Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren diese brutalen Metzeleien.« Abrupt stand er auf, ging an ein Regal, zog einen Ordner heraus und blätterte aufgeregt darin herum. »Hier!«, sagte er und zog ein paar Schwarz-Weiß-Kopien heraus, »hier, schauen Sie«, er warf die Kopien auf den Tisch und schob sie zu Duval, der darauf makaber inszenierte Tote erkennen konnte. »Das ist nur das, was sie mit den Männern gemacht haben. Ich sage Ihnen nicht, was sie den armen Frauen angetan haben. Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit!«, wiederholte er aufgebracht. »Haben Sie die Fotos auf meinem Blog gesehen?«
»Ja«, nickte Duval und schob die Kopien wieder zurück.
»Na gut«, beruhigte sich René Bouleau etwas, »Sie sind Polizist, Sie sehen jeden Tag solche Fotos, vermute ich. Aber niemand sonst will das sehen. Alles ist unsere Schuld, sagen sie heute.« Er atmete heftig. »Ich sage Ihnen, die FLN , das sind Terroristen, die sich mit Terrorattentaten Einfluss und Macht verschafft haben. Heute gelten sie als Heilige, weil sie für die ›Unabhängigkeit‹ gekämpft haben. ›Helden des Befreiungskrieges‹.« Er machte ein verächtliches Gesicht und mit den Händen wieder mehrfach Luftanführungzeichen um seine letzten Worte.
»Lassen Sie uns doch über Malpasset sprechen«, wechselte Duval das Thema. »Sie haben da Dokumente auf Ihrem Blog, eine Liste mit Attentaten, die die FLN plante, wie sind Sie da drangekommen?«
René Bouleau lächelte geheimnisvoll, ging wieder an das Regal und öffnete einen anderen Ordner. »Da, schauen Sie!« Aus einer Klarsichtfolie zog er dieselben Dokumente, die auch Duval bei sich zu Hause hatte. »Die hat mir der Sohn eines Geheimdienstmannes zukommen lassen. Er wollte mir auch noch mehr geben, aber er wollte zu viel Geld, ich glaube, er war in finanziellen Schwierigkeiten und versuchte, diese Dokumente seines Vaters zu verscherbeln. Ich habe mich einmal mit ihm getroffen, aber ich bin kein Journalist und nur ein Hobbyhistoriker. Außerdem war das alles auf Deutsch. Das hätte ich nie und nimmer auswerten können. Ganz abgesehen davon, dass ich so viel Geld auch nicht habe.«
»Haben Sie Namen, Adresse oder Telefonnummer dieses Mannes?«
»Ja, François Richard ist sein Name, aber es wird Ihnen nichts mehr nützen.«
»Weil er die Dokumente verkauft hat?«
»Das weiß ich nicht, aber er ist tot.«
»Wie bitte?«
»Er hatte kürzlich einen Unfall und ist dabei ums Leben gekommen.«
»Nein«, sagte Duval erschüttert.
»Doch. Es stand auch in der Zeitung. Ich habe es zufällig gefunden und aufgehoben, warten Sie, irgendwo hier muss es sein.« Er blätterte in dem Ordner. »Bitte.« Er zog einen Zeitungsartikel aus einer anderen Folientasche heraus.
Am vergangenen Freitag gegen 22.30 Uhr wurde auf der Avenue Francis Tonner in Cannes La Bocca ein Radfahrer beim Überqueren einer Kreuzung von einem Wagen erfasst und erlag noch auf dem Weg ins Krankenhaus seinen Verletzungen. Wie es genau zu diesem Unfall gekommen ist, ist derzeit noch unklar. Vermutlich hat der Fahrer des Wagens dem Radfahrer die Vorfahrt genommen. Bei dem Radfahrer, dem 68-jährigen François R., wurde zudem eine stark erhöhte Blutalkoholkonzentration nachgewiesen. Der Fahrer des Wagens beging Fahrerflucht. Nach ihm sowie nach dem Wagen, vermutlich ein silbergrauer Citroën Picasso, wird derzeit gefahndet. Augenzeugen werden gesucht. Hinweise nimmt jede örtliche Polizeidienststelle entgegen.
»Das ist natürlich tragisch.« Duval gab den Zeitungsausschnitt wieder zurück. »Sie haben ihn aber einmal getroffen, oder? Konnten Sie denn länger mit ihm sprechen?«
»Jaja, natürlich, das war hochinteressant! Hochinteressant, sage ich Ihnen! Er hatte ja auch hochexplosives Material, wenn ich das so sagen darf«, er lachte meckernd. »Das hat er auch den deutschen Journalisten zur Verfügung gestellt, die diese Sendung gemacht haben, die haben Sie gesehen, oder?«
»Nein, leider. Ich habe nur den Ausschnitt auf Ihrem Blog gefunden. Haben Sie die Sendung aufgezeichnet?«
»Bedauerlicherweise nicht, und jetzt ist sie auch nicht mehr zu sehen. Die haben das Netz gereinigt.«
»Wer ›die‹?«
»Na, die, die ausreichend Macht und Möglichkeiten haben, so etwas zu tun.«
»Der Geheimdienst, meinen Sie?«
»Das haben Sie gesagt.«
»Warum sollten sie das tun?«
»Na, schauen Sie, es gibt eine offizielle Geschichtsschreibung zu Malpasset, und die soll nicht infrage gestellt werden.«
»Hm«, machte Duval.
»Ich habe den Sender angeschrieben, das können Sie mir glauben«, er wühlte schon wieder in einem Ordner und hielt Duval eine Kopie eines Briefes entgegen. »Ich bat um den Film in welcher Form auch immer, aber ich bekam nur ein kurzes Schreiben zurück, dass sie den Film zunächst zurückzögen, um die Aussagen, die darin gemacht worden seien, zu überprüfen. Sie würden sich zu gegebener Zeit wieder melden. Darauf warte ich bis heute!«
»Hm«, machte Duval wieder und betrachtete die Kopien der Dokumente, die er selbst auch besaß. »Haben Sie die Originale davon gesehen?«
»Ja. Die sind ohne Zweifel echt!«
»Ohne Zweifel«, wiederholte Duval mit einer leichten Skepsis in der Stimme, »wissen Sie, man kann viel machen heutzutage.«
»Hören Sie, der Mann war echt, seine Geschichte ist echt, und die Papiere sind auch echt!« René Bouleau sah Duval in die Augen. »Ich kenne die Menschen, das können Sie mir glauben. Das ist alles wahr, so wahr, wie ich hier sitze!«
»Stell dir das vor, Annie«, Duval war noch immer aufgewühlt. »Dieser Typ, der sich mit uns in Verbindung gesetzt hat, der uns treffen wollte, wegen der Dokumente, das muss dieser François Richard gewesen sein, und der hatte ausgerechnet am Abend vor unserer Verabredung einen tödlichen Fahrradunfall!«
»Oh«, machte Annie betroffen.
»Findest du das nicht merkwürdig?«
»Merkwürdig, wieso?«
»Na, dass ihm einen Tag vor unserem Treffen etwas zustößt. Hattest du nicht gesagt, er war nervös? Und er benahm sich, als würde er abgehört?«
»Ja, das habe ich gesagt, aber doch mehr im Scherz.«
»Aber wenn es tatsächlich so war?«
»Oh, Léon, bitte! Wer sollte ihn denn abhören und warum? Vielleicht hatte er auch einfach ein bisschen zu viel Fantasie oder er litt an einem gewissen Verfolgungswahn, hast du mir nicht gesagt, dass es der Sohn eines Geheimdienstmannes ist?«
»Ja«, nickte Duval. »Das ist richtig.«
»Siehst du, wer weiß, was für eigenartigen Situationen er als Kind ausgesetzt war. Das prägt einen sicher, wenn man Eltern hatte, die ›undercover‹ gearbeitet haben. Dieser Unfall, das ist ein unglücklicher Zufall, wenn du meine Meinung hören willst. Vielleicht hatte er kein Licht, ich habe neulich auf der engen Straße am Meer beinahe zwei Jugendliche gestreift, die ohne Licht in der Dämmerung gefahren sind. Ich habe sie erst sehr spät gesehen, und ich sage dir, ich hab mich wahnsinnig erschrocken. Diese Kids fahren so sorglos durch die Gegend, ohne Signalweste und ohne Licht, und die Straße ist so eng.«
»Er war wohl betrunken.«
»Na, siehst du. Wer weiß, welches Manöver er da kurzfristig gemacht hat. Themenwechsel«, sagte sie energisch, »möchtest du vielleicht deine Tochter baden?«
»Bitte? Ich? Jetzt?«
»Ja du, jetzt. Es wird dir guttun, dich mit einem zarten und sehr aufgeweckten Lebewesen zu beschäftigen und nicht immer nur in düstere Verschwörungsgeschichten abzudriften. Und später essen wir was Feines.«
»Vielleicht hast du recht.«
Tatsächlich holten Julie und ihr unbändiges Vergnügen, im Wasser zu planschen, ihn aus seinen düsteren Gedanken, und Annie, die zwischendurch einen Blick ins Badezimmer warf, lächelte gerührt, als sie Duval und Julie konzentriert mit dem wasserspuckenden Wal, seiner Freundin der Schildkröte, der unvermeidlichen Giraffe Sophie und einer Menge anderer Gummitiere im Badewasser spielen sah.
»Da bist du ja, hier nimm.« Annie hielt ihm ein Glas Rosé entgegen. »Schläft sie?«
»Ja, ich bin bei dem Geklimper der Spieluhr auch fast eingeschlafen.« Er gähnte. »Danke.« Er hob sein Glas, trank ihr zu und leerte es in einem Zug. »Was kochst du uns Feines?«
»Spargelrisotto mit grünem Spargel nach einem Rezept von Maurizio.«
»Toll!«, freute sich Duval. »Kann ich was tun? Soll ich ein bisschen rühren?«
»So weit sind wir noch nicht. Ich dachte, wir kochen heute mal zusammen, was meinst du?« Ohne seine Antwort abzuwarten, wies sie ihn an: »Du könntest erst mal eine Zwiebel schneiden.«
»Eine Zwiebel, jawohl, Madame.«
Er öffnete den kleinen Vorratsschrank und wühlte in den Zwiebeln. »Groß? Klein?«
»Eine mittlere Zwiebel.«
»Wie groß ist eine mittlere Zwiebel?«, fragte Duval und sah prüfend die drei unterschiedlichen Zwiebeln an. Unvermittelt warf er eine davon in die Luft und begann mit ihnen zu jonglieren.
Annie staunte. »Das kannst du?«
»Nicht mehr«, bekannte Duval seufzend und hob die beiden Zwiebeln auf, die beinahe sofort heruntergefallen waren. »Welche nehme ich jetzt?«
»Diese.« Annie zeigte darauf.
Duval entfernte die äußeren trockenen Zwiebelschalen und setzte ein Messer an. »Und wie schneide ich sie?«
»In Würfel.«
»Große Würfel? Kleine Würfel?«
»Würfel eben, Mann, ist das kompliziert, mit dir zu kochen«, sie nahm ihm das Messer aus der Hand und hackte schnell die Zwiebel klein. »Willst du vielleicht lieber den Parmesan reiben?«
»Parmesan, Parmesan …« Duval öffnete die Kühlschranktür und blickte suchend hinein. »Parmesan«, murmelte er erneut. »Find nix.«
»In der Kühlschranktür im mittleren Fach«, half Annie aus.
»Ah, da ist er ja. Wo ist die Reibe?«
»Oh Mann, Léon, wirklich, machst du das absichtlich? Es ist doch deine Küche!«
»Aber du hast alles umgeräumt«, rechtfertigte sich Duval. »Früher wusste ich, wo meine Sachen waren.«
»Und wo war die Reibe früher?«
»Hier.« Duval öffnete einen Schrank. »Oh, da ist sie ja.« Duval rieb umständlich und langsam Parmesan in ein Schüsselchen, trank nebenbei immer wieder einen Schluck Rosé und steckte sich ebenso immer wieder eine Portion des geriebenen Käses in den Mund. »Wie geht’s Maurizio?«, nuschelte er. »Und deiner Mutter? Hast du mit ihnen gesprochen?«
»Gut. Sie lassen dich schön grüßen und fragten, wann wir mal wieder vorbeikämen. Oh nein, Léon, du isst den ganzen Parmesan weg, das geht nicht!«
»Ich habe Hunger«, entschuldigte sich Duval.
Annie hatte in der Zwischenzeit die Zwiebelwürfelchen mit etwas Butter glasig gedünstet, den Reis hinzugegeben und löschte ihn nun mit etwas Wein ab. »Jetzt kannst du meinetwegen rühren, Léon, und immer etwas von der Hühnerbrühe dazugeben.«
Duval rührte brav den Reis im gusseisernen Topf und schüttete abwechselnd etwas Hühnerbrühe in den köchelnden Reis und etwas Rosé in sich. Plötzlich hörte Annie ihn prusten, husten und spucken. »Igitt!«, schimpfte er laut und hustete.
»Was ist los?«
»Ich habe aus Versehen diese blöde Hühnerbrühe getrunken.«
»Was?«
Er zeigte angewidert auf das Glas mit der Brühe, das neben dem Herd stand. Gedankenverloren hatte er das falsche Glas gegriffen. »Ekelhaft!« Um den Geschmack zu vertreiben, schüttete er ein Glas Rosé hinterher.
Annie lachte. »Das ist nur Hühnerbrühe! Echte sogar! Die ist saulecker.« Sie sah ihn prüfend an. »Kann es sein, dass du ein bisschen zu viel getrunken hast?«
»Ach was«, wehrte Duval ab und rührte stoisch im Reis herum.
»Du musst die Brühe anschütten!«, ermahnte ihn Annie.
»Ich hab schon genug Brühe angeschüttet«, gab Duval zurück.
»An den Reis! Der Reis braucht Brühe!«
»Der Reis braucht Brühe.« Wiederholte Duval dumm und rührte.
»Léon! Hast du vorhin schon was getrunken, oder was?« Sie goss etwas von der Brühe an den Reis. »So, jetzt kannst du weiterrühren.«
Duval rührte, trank weiterhin Rosé. »Der Breis raucht Hühner«, kicherte er.
»Oh Mann, Léon, so habe ich dich noch nicht erlebt. Hast du was geraucht? Setz dich mal, ich rühre weiter.«
Duval setzte sich an den Tisch und starrte vor sich hin und gähnte herzhaft. »Ich leg mich einen Moment hin, Schätzchen, ja?«
»Mach das«, seufzte Annie und schaltete das Feuer unter dem Topf aus. »Das Risotto können wir auch morgen noch essen.«
Am nächsten Vormittag fand Louis Cosenzas Beerdigung statt. Sie begann mit einer katholischen Trauermesse in der Kirche Notre-Dame de l’Espérance im Suquet; später würde der Sarg auf dem Friedhof Le Grand Jas beigesetzt werden.
Duval entschloss sich, zumindest der Zeremonie in der Kirche beizuwohnen. Zu seiner Überraschung liefen unzählige Menschen zeitgleich mit ihm die steilen Stufen hinauf, zur Kirche auf dem Altstadthügel. Die Reihe schwarz gekleideter Menschen, die ameisengleich alle demselben Ziel zustrebten, riss nicht ab. Dicht gedrängt standen sie dann vor der Kirche, und sogar die Aussichtsterrasse auf der Place de la Castre, die sonst nur von Touristen bevölkert war, die einen schnellen Panoramablick über die Stadt und das Meer suchten, war heute in der Hand der Cannois, der wahrhaften Einwohner von Cannes.
Duval hielt sich am Rand des Geschehens und sah neben offiziellem Sicherheitspersonal auch weniger offizielle Kollegen, die die Szene diskret beobachteten.
Ein silbergrauer Kleinbus fuhr vor, und das Gemurmel und Geraune auf dem Platz verstummte schlagartig; in dieser Stille öffneten vier Herren des Beerdigungsinstituts in getragener Würde den Kofferraum. Der ein oder andere erstickte Schluchzer war auf dem Platz zu hören, als unzählige Blumengestecke und Sträuße aus dem Wagen gehoben und in einem nicht enden wollenden Strom in die Kirche getragen wurden; rechts und links vor dem Kircheneingang wurden Kondolenzbücher aufgestellt.
Mehrere Limousinen näherten sich in langsamem Tempo über die kleine private Zufahrtsstraße, und die Männer des Sicherheitspersonals schirmten die Aussteigenden ab. Nicki Cosenza, die junge Witwe, stöckelte als Erste die letzten Meter über das unebene Kopfsteinpflaster. Sie wirkte jung und zerbrechlich, trug ein klassisch-elegantes, wenn auch aufreizend kurzes schwarzes Chanel-Kostüm und versteckte ihre Augen hinter einer großen Sonnenbrille desselben Modedesigners und ihre hochgesteckten blonden Haare unter einem kurzen Schleier. Getuschel setzte auf dem Platz ein. »Das war doch die Ehebrecherin?« »Die, die was mit dem Sohn des Fischers gehabt hatte!« »Das alles ist nur ihre Schuld, wegen ihr musste Louis Cosenza ins Gefängnis!« Das abfällige Geraune verstummte erst, als Cosenzas Söhne mit ihren Familien erschienen. Giorgio war ohne seine Freundin gekommen, was vermutlich der katholischen Zeremonie geschuldet war. Sie blieben vor dem geöffneten Wagen des Beerdigungsinstituts stehen. Der Sarg wurde von den Herren des Beerdigungsinstituts hinausgehoben, und die drei Söhne sowie drei weitere Männer, einer unter ihnen Alfonso Zingarello, übernahmen ihn und stemmten ihn, auf ein kurzes Kommando des ältesten Sohnes, in einem Schwung auf ihre Schultern. Schon wieder wurde auf dem Platz geschluchzt. Der Priester segnete den Sarg mit Weihwasser und schwenkte bedächtig das Weihrauchfass. Süßliche Duftwolken des verbrennenden Harzes erhoben sich über den Platz und blieben in der Luft hängen. Hinter dem Priester und zwei Ministranten zog die Beerdigungsgesellschaft in die Kirche ein, wo sogleich der Kirchenchor zu Orgelklängen ein Marienlied schmetterte: Au ciel, au ciel, au ciel, j’irai la voir un jour …
Duval lehnte sich ganz hinten an eine Säule. Die Kirche war übervoll, die italienische Bevölkerung nicht nur aus Cannes hatte sich vollzählig versammelt, so schien es, sonnenbebrillte Damen und Herren aus wohlhabenden Kreisen drängten sich neben einfachen Cannois in den Bänken. Jeder von ihnen hatte ein Blumengesteck mitgebracht, in der Seefahrerkirche wogte heute ein Blumenmeer, der starke Duft von Lilien vermischte sich mit den Parfums der Anwesenden, und über allem schwebten Wolken aus Weihrauch. Die Türen blieben geöffnet, damit die Menschen auf dem Platz vor der Kirche am feierlichen Requiem teilnehmen konnten, aber vielleicht auch, damit bei dieser Enge und den erdrückenden schwülen Gerüchen niemand in Ohnmacht fiel.
Der Priester sprach von der Vergebung der Sünden, von Hoffnung, von der Auferstehung und segnete den Verstorbenen erneut sowie alle Anwesenden, der Kirchenchor sang ein »Ave Maria«, die Enkel, auch die kleinsten, stellten alle zusammen Teelichte in Form eines Herzens auf den Sarg, auf dem ein großes Gesteck aus blutroten Rosen und weißen Lilien lag. Dann trat ein jeder aus der Familie nach vorne und sprach ein paar Worte, etwas, was er oder sie mit Louis Cosenza verband. Sein Familiensinn wurde erwähnt, seine Großzügigkeit, sein Mut, sein Humor, Nicki Cosenza rief nur theatralisch »Louis, mon amour« und brach dann schluchzend zusammen, was zu einem Geraune in den Kirchenbänken führte. »Ich glaub ihr kein Wort«, flüsterte eine alte Dame neben Duval ihrem Mann ins Ohr. »Was?«, fragte der nach. »Ich glaub ihr kein Wort«, zischte sie nun halblaut, sodass es nicht nur ihr Mann hörte. Sie erntete dafür zustimmendes Gemurmel, aber auch böse Blicke. Dann traten die Enkelkinder in einer Reihe vor das Mikrofon und erinnerten sich daran, dass sie mit dem Opa Fußball gespielt hatten, dass er sie mit Bonbons verwöhnt hatte »und dass er so gut roch«, flüsterte das kleinste Mädchen in das Mikrofon, das man ihr hinhielt. Spätestens jetzt weinten alle Anwesenden in der Kirche, und sogar Duval räusperte sich, schluckte und hob den Blick. Lange und aufmerksam betrachtete er die Schiffsmodelle, die in der den Seefahrern geweihten Kirche von der Decke hingen.
Das Ende einer Ära, dachte Duval, als er im kleinen italienischen Lokal in einer Seitenstraße des Suquet gekonnt seine Spaghetti all’arrabbiata auf dem Tellerrand drehte und sich eine Gabel davon genüsslich in den Mund steckte. Scharf, aber nicht zu scharf. Perfekt. Die leichten Kopfschmerzen, die er vom Vorabend noch hatte, bekämpfte er mit einem Schluck eines kräftigen italienischen Rotweins. »Ciao, Cosenza!«, prostete er ihm im Stillen zu. Er dachte an alle Begegnungen, die er mit Louis Cosenza gehabt hatte. Schon bei ihrem ersten Zusammentreffen im Palm Beach Casino hatte Cosenza dunkle Andeutungen gemacht, dass er Jean Duval, Duvals Vater, gut gekannt habe. Es war kein Bluff gewesen. Der Schock, als Duval erfahren hatte, dass seine Eltern früher sogar mit Cosenza befreundet gewesen waren. Und dass Cosenza seinem Vater vermutlich dabei geholfen hatte, den Liebhaber seiner Mutter zu beseitigen. Er hatte mit niemandem darüber gesprochen. Nicht einmal mit Annie. Er drehte eine weitere Gabel Spaghetti auf dem Tellerrand und verschlang sie und trank noch einen Schluck des italienischen Rotweins. Mit dem Tod von Louis Cosenza gab es einen großen Ganoven weniger in der Stadt. Und trotzdem stellte sich bei ihm darüber keine Erleichterung ein. Wie würde es weitergehen? Würden die Söhne Cosenzas das Geschäft des Vaters fortführen und sich mit Driss Abidi auseinandersetzen? Oder würden sie einen anderen Weg wählen? Alles war ungewiss.
»Hat’s geschmeckt?«, fragte der junge Kellner.
»Sehr. Es war genau das, was ich gebraucht habe«, sagte Duval.
»Freut mich«, antwortete der junge Mann. »Sie waren bei der Trauerfeier?«
Duval nickte.
»Dachte ich mir. Er wird uns fehlen, nicht wahr?«
»Inwiefern wird er Ihnen fehlen?« Duval sah den Mann neugierig an.
»Er war ein bisschen der Vater des Suquet. Wenn man ein Problem hatte, konnte man zu ihm gehen. Er half einem immer.«
»Tatsächlich? So ähnlich wie der ›Pate‹?«
»Nein, so natürlich nicht«, wehrte der Mann erschrocken ab. »Wissen Sie, ich habe italienische Großeltern«, beeilte er sich zu erklären, »und die Italiener haben früher alle hier im Suquet gelebt. Man kennt sich und hilft sich eben, so meine ich das.«
»Verstehe«, sagte Duval.
»Trinken Sie den Wein noch?« Er zeigte auf die kleine Karaffe.
»Durchaus.« Duval goss den Rest Wein in sein Glas und trank ihn in einem Zug aus. Dann reichte er dem Mann Glas und Karaffe an.
»Danke. Möchten Sie noch ein Dessert? Ich habe frisches Tiramisu, ein echtes italienisches Tiramisu mit gutem Espresso, nicht diese geschmacklose Mascarponecreme mit etwas Kakaopuder, wie sie die Franzosen machen. Oh pardon, ich meine …«, versuchte er seine Ausführungen zu relativieren.
»Schon gut«, Duval lächelte leicht. »Ich habe auch italienische Vorfahren.«
»Ah!« Über das Gesicht des jungen Mannes ging ein Strahlen. »Ein Tiramisu also?«
»Gerne.«
Duval besah die üppige Portion Tiramisu, die nur zwei Sekunden später vor ihm stand. Das war vermutlich der Italiener-Bonus.
»Genießen Sie es!«
»Das werde ich.«
Nach dem letzten Löffelchen der cremigen Nachspeise lehnte er sich erschöpft zurück.
»Und?«
»Fantastisch! Jetzt brauche ich einen Kaffee bitte.«
»Kaffee oder Espresso?«
»Espresso.«
»Auf italienische Art?«
»Sehr gerne.«
Duval hörte das Geräusch des Kaffeesiebträgers, der ausgeklopft wurde, kurz darauf den Lärm der Kaffeemaschine, und schon stand ein dickwandiges Tässchen vor ihm, darin wenig, dafür cremig-sämiger schwarzer Kaffee.
»Oh, là, là« , machte Duval begeistert und rührte den Inhalt eines Tütchens Zucker hinein. Dann kostete er. »Perfetto!« Er machte dem jungen Mann ein Zeichen mit dem hochgestreckten Daumen.
Mit der Rechnung kam auch ein Limoncello. »Geht aufs Haus!«, sagte der Kellner.
»Danke!« Duval nippte daran. »Sehr geschmackvoll und sehr stark«, befand er. »Machen Sie ihn selbst?«
»Meine Großmutter. Sie hat einen Zitronenbaum im Garten.«
»Dachte ich mir.« Maurizio, der Lebensgefährte von Annies Mutter, bot hausgemachten Limoncello an, der diesem hier nahekam.
Duval ließ ein großzügiges Trinkgeld auf dem Tisch liegen, der Italiener-Bonus, und erhob sich. Mit schwerem Schritt lief er das gewundene Sträßchen hinab und bog nach rechts in die Rue du Pré ab. An der kleinen Place du Suquet zögerte er. Nach rechts und bergab ginge es im weitesten Sinne zum Kommissariat, geradeaus, den Hügel hinauf zu ihm nach Hause. Schließlich überquerte er die Schnellstraße und stapfte die Rue des Suisses hinauf. Er kam an seinem Fiat vorbei. Er stand dort schon eine Weile. Hin und wieder war es angebracht, das Auto zu bewegen und den Standort zu verändern. Duval setzte sich hinters Steuer und fuhr um ein paar Ecken. An der nächsten Kreuzung bog er kurz entschlossen nach rechts auf die Avenue Francis Tonner und Richtung Cannes La Bocca ab.
Vor einem anonymen Wohnblock aus den Achtzigerjahren hielt er an. Er suchte den Namen von François Richard auf dem Klingelschild und musste, wie so häufig, nicht allzu lange darauf warten, dass jemand das Haus verließ, um selbst ohne Zugangscode hineinzugelangen. Im fünften Stock fand er zu seiner Überraschung die Tür versiegelt. Seit wann versiegelten sie Wohnungen, wenn es um einen simplen Tod durch Verkehrsunfall ging? Er zögerte. Mit einem Klack ging das Flurlicht aus, und er stand im Dunklen. Er wartete und lauschte. Aus den benachbarten Wohnungen drang kein Laut nach außen. Er drückte den Lichtschalter, und das Flurlicht flammte mit dem gleichen Klack auf.
Kurzerhand schnitt er das Siegel durch und öffnete die Wohnungstür geräuschlos mithilfe des guten alten Kreditkartentricks.
Das schlicht eingerichtete Appartement war erstaunlich aufgeräumt. Duval zog sich Einweghandschuhe an, warf einen Blick in die kleine Küche und öffnete den Abfalleimer. Er war leer. Auch im Kühlschrank fanden sich nur wenige Dinge, eine ziemlich weit geleerte Flasche billigster Rosé und zwei weitere Flaschen liegend im oberen Fach, dazu noch zwei Dosen Bier, Margarine, eine Tube Mayonnaise, sechs Eier, eine Viererpackung eines billigen Karamelldesserts, eine Packung Schinken und ein nicht angebrochener Liter haltbare Milch. Das kleine Eisfach war leicht vereist, ansonsten aber gähnend leer. War er allein, sah es bei ihm im Kühlschrank auch nicht anders aus, trotzdem störte ihn etwas, als er die Lebensmittel betrachtete.
Im Küchenschrank fand er ein paar Sorten Nudeln, etwas Kochbeutelreis, Salz und Pfeffer, ein Glas Tomatensoße, eine Dose Cassoulet, Würfelzucker und Kaffee jeweils in einer Blechdose, daneben eine nicht angebrochene Packung Butterkekse. In einem weiteren Schrank Gläser, Tassen, Teller, zwei Töpfe, eine Pfanne. Er betrachtete die Ordnung der wenigen Dinge und schloss nachdenklich die Schranktüren. In einer Schublade das übliche Besteck, ein billiger Korkenzieher, ein paar Gummiringe. Sein Blick fiel auf das Spülmittel und den Spülschwamm. Er betastete den Schwamm. Er hatte noch eine leichte Restfeuchte.
Unter dem Waschbecken ein blassgelber Putzeimer, ein grauer Putzlappen, er betastete ihn ebenso, auch der Lappen war noch leicht feucht, ein Handfeger und eine Kehrschaufel aus hellblauem Plastik, Chlorreiniger und Allzweckputzmittel.
Das Wohn-Schlafzimmer war mit einem Einbauschrank versehen, in dem sich der Kleiderschrank und das Klappbett befanden. Um es herauszuklappen, musste man den kleinen Tisch mit den zwei Stühlen zur Seite schieben, was Duval tat. Ein Faltbett, dessen zusammengeknautschtes Bettzeug mit Spanngurten festgehalten wurde, kam zum Vorschein. Er tastete es ab und suchte auch unter der Matratze, fand nichts Bemerkenswertes, lediglich einen altmodischen mittelblauen Herrenschlafanzug, der zusätzlich unter dem Kissen festgesteckt war. Er blätterte durch alte Zeitungen und Zeitschriften in einem Karton neben dem Bett und öffnete danach sämtliche Schranktüren und durchsuchte systematisch alle Fächer. Er wühlte sich im Schrank durch Unterwäsche, Socken, zusammengefaltete T-Shirts und Hemden, etwas Bettwäsche.
Im Duschbad ein alter Nassrasierer, ein Kamm, in einem Plastikbecher steckten eine abgenutzte Zahnbürste und Zahnpasta, daneben stand ein billiges Deodorant, am Waschbecken eine einfache Seife, unter dem Waschbecken in einem Regal ein paar verwaschene gräuliche Handtücher und Waschlappen, eine Reserve an Toilettenpapier.
In einem Schränkchen im Eingangsbereich fand er die übliche Box für Internet und Telefon und ein paar wenige Stecker in einer langen Steckdosenleiste. Er betrachtete das Telefon und drückte auf die Taste für die letzten eingegangenen Anrufe. »Keine Anrufe« erschien auf dem Display. Auch ausgehende Anrufe gab es nicht. »Keine neuen Anrufe« informierte ihn der Anrufbeantworter und piepste dreimal. Es gab auch nirgends in der kleinen Wohnung einen Computer, was erstaunlich war angesichts der grün leuchtenden Taste an der kleinen Box, die eine perfekte Internetleitung bezeugte.
Nichts, dachte er, als er die Tür wieder vorsichtig schloss und das Siegel zurechtklebte. Gar nichts, keine Anrufe, keine Dokumente, kein PC . In dieser Wohnung hatte schon jemand aufgeräumt: Geschirr gespült, den Müll entfernt und alles Verderbliche aus dem Kühlschrank mitgenommen. Wie umsichtig, vermutlich wollte man eine Kakerlakenzucht vermeiden, in den langen Wochen oder Monaten, in denen dieses Appartement versiegelt und bis Gras über die Sache gewachsen sein würde. Die Sache. Der Unfalltod eines alkoholisierten Radfahrers, der, wie passend, drei Flaschen Billig-Rosé im Kühlschrank hatte. Das alles war zu sauber und zu arrangiert.
»Commissaire«, Emilia begrüßte Duval aufgelöst. »Der Direktor hat schon dreimal nach Ihnen gefragt.«
»Ach so«, machte Duval. »Was wollte er denn?«
»Na, Sie glauben doch nicht, dass er mir das mitgeteilt hat.«
»Na, dann wollen wir mal«, grinste Duval Emilia an und nahm zwei Stufen auf einmal bis in den fünften Stock.
»Ah«, machte die Sekretärin des Direktors, »da ist er ja, der lang verschollene Commissaire. Ich melde Sie gleich an.« Sie nahm den Hörer ab, drückte eine Taste und sagte: »Commissaire Duval ist jetzt da.«
»Sie können«, nickte sie Duval zu.
»Duval!« Der Direktor hatte eine düstere Miene. »Wo waren Sie heute? Selbst in Ihrer Abteilung wusste man nicht, wo man Sie finden konnte. Sie hatten Ihr Telefon ausgeschaltet. Sehr ungewöhnlich.«
Duval sah prüfend auf sein Smartphone und machte eine zerknirschte Miene. »Verzeihung, heute Morgen habe ich an der Trauerfeier für Cosenza teilgenommen, ich habe wohl vergessen, das Telefon wieder einzuschalten.«
»So. Sie waren bei der Trauerfeier von Cosenza.« Wiederholte der Direktor süffisant. »Standen Sie sich so nah?«
Duval zuckte mit den Achseln.
»Ich könnte verstehen, dass Sie zur Trauerfeier von Richter Dussolier gehen würden, aber Cosenza.«
»Es war beeindruckend«, sagte Duval. »Ganz Cannes war da. Wenn ich recht informiert bin, wird die Trauerfeier von Richter Dussolier im engsten Familienkreis gefeiert, da werde ich mich nicht aufdrängen.«
»Ja, das wird vermutlich eine etwas diskretere Veranstaltung«, stimmte der Direktor zu. »Hören Sie, Duval, da sind wir beim Thema. Der Fall Dussolier ist abgeschlossen, da sind wir uns einig?« Er blickte Duval fragend an.
Duval machte ein vorsichtig zustimmendes Gesicht.
»Sie sind zum gleichen Ergebnis gekommen wie die Brigade aus Paris, Duval, Richter Dussolier wurde tragischerweise ein Kollateralschaden in einer Auseinandersetzung zwischen alten und neuen Herren im Milieu. Es ist dabei viel Blut geflossen, aber wir haben noch Glück gehabt, dass alles so glimpflich abgelaufen ist, nicht wahr?«
Der Direktor sah Duval an, der erneut sein zustimmendes Gesicht machte.
»Bon, der Richter wird nun endlich beerdigt, die Familie kann ihre Trauerarbeit beginnen. Es ist wichtig, dass wir dieser Familie Respekt zollen und sie wieder Ruhe finden kann, da stimmen Sie mir zu?«
»Durchaus, Monsieur le Directeur. «
»Gut. Dann verstehe ich nicht, oder fangen wir anders an, mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie weiterhin in obskuren Gefilden wühlen, weil Sie denken, der Tod des Richters habe andere Ursachen? Sie haben sogar die Prozessakte Malpasset angefordert. Warum verschwenden Sie Ihre Zeit mit diesem Unsinn? Was hat das zu bedeuten?«
LeBlanc, dachte Duval. Dieser naive LeBlanc, was hat er weitergetratscht? »Nun«, begann er, »ich habe in der Zwischenzeit einen Ausschnitt einer Sendung gesehen, die den Richter damals offenbar so aufgewühlt hat, dass er die Akte Malpasset angefordert hat. In der Sendung wurde ganz klar gesagt, dass der Staudammbruch und die Katastrophe von Malpasset kein Unglück, sondern ein Attentat der FLN gewesen sein sollen.«
»Bitte?«
»Ja. Es ist unglaublich, nicht wahr? Ich versuchte der Akte habhaft zu werden, daher weiß ich, dass der Richter sie als Letzter angefordert hat. Er ist der Letzte, der im Register dafür eingetragen ist, aber die Akte selbst ist nirgends zu finden.«
»Sie wird schon wieder auftauchen«, sagte der Direktor, »vielleicht ist sie auch schon wieder auf dem Weg zurück? Oder sie wurde nicht korrekt eingeordnet? Das kommt immer mal vor.« Er machte ein bedauerndes Gesicht. »Nun«, fuhr er fort, »ich habe diese Sendung, von der Sie sprechen, zwar nicht gesehen, aber dass dieses tragische Unglück ein Attentat der FLN gewesen sein soll, das halte ich persönlich für ausgeschlossen.« Er schüttelte verstärkend den Kopf. »Die FLN hat Attentate verübt, da stimme ich zu, grauenhafte, ich denke nur an die Milk Bar. Aber es war immer nur eine Bombe. In einer Bar. Eine Bombe in einem Treibstofflager. Es hatte mitunter verheerende Auswirkungen, keine Frage, aber es waren im Prinzip kleine Attentate. Die FLN hat nie wirklich große Attentate verübt. Dazu waren die nicht in der Lage. Überlegen Sie doch mal, Duval, so einen Staudamm, haben Sie die Reste des Staudamms in Malpasset gesehen?«, unterbrach er sich.
Duval nickte.
»Sehen Sie. Diese unglaubliche Mauer aus verstärktem Beton sprengt man nicht mit zwei Silvesterraketen in die Luft, dafür braucht man zentnerweise Sprengstoff und außerdem eine verdammt gute Organisation. Dazu wären die nie in der Lage gewesen. Wie hätten die denn so viel Dynamit unbemerkt dorthin schaffen wollen? Haben Sie sich ein bisschen informiert über die Zeit?«
»Durchaus«, sagte Duval. »Es ist komplex und kompliziert.«
»Allerdings, ich sage Ihnen, der Einzige, der etwas im Kopf hatte von all den Hitzköpfen, das war Ben Bella, der saß zu dem Zeitpunkt im Gefängnis, und später haben sie ihn politisch eliminiert. Das ist die FLN . Alle zerstritten, die haben sich gegenseitig bespitzelt, sich Steine in den Weg gelegt und sich untereinander ausgeschaltet. Ein Katastrophenhaufen. Die wären nie in der Lage gewesen zu so einem Attentat, nie, glauben Sie mir das.« Er sah Duval ernst an.
»Und was diese Sendung angeht, ich bin sicher, da hat irgendein Journalist etwas zusammenfantasiert, um sich wichtig zu machen. Wenn da was dran wäre, dann hätten wir das doch schon längst gehört und davon nicht erst in einer beliebigen Sendung eines intellektuellen Fernsehsenders erfahren.«
»Meine Lebensgefährtin, Sie wissen, sie ist Journalistin«, begann Duval.
Der Direktor nickte. »Hat sie an der Sendung mitgearbeitet?«
»Nein, das nicht, aber sie wurde von einem Mann kontaktiert, der ihr genau dazu Geheimdienst-Unterlagen zugänglich machen wollte«, begann Duval, »wir hatten ein Treffen ausgemacht, aber dieser Mann ist dann nicht erschienen.« Schon als Duval es aussprach, fand er, dass es unglaubwürdig klang.
»Und?« Der Direktor sah ihn belustigt an.
»Jetzt habe ich erfahren, dass er einen tödlichen Fahrradunfall hatte«, sagte Duval.
»Aha.«
»Ich habe sein Appartement durchsucht«, begann er. »In Cannes La Bocca.« Warum hatte er angefangen, das zu erzählen? Er kam sich plötzlich vor wie ein Idiot.
Der Direktor hob die Augenbrauen. »Und? Haben Sie etwas gefunden?«
»Nein, aber …«
»Aber?«
»Ich hatte das Gefühl, dass dort schon jemand aufgeräumt hatte.« Er kam sich lächerlich vor. Wie sehr wünschte er sich den Richter Dussolier zurück, der ihm in solchen Situationen aufmerksam zugehört hatte.
»Ich halte Ihnen jetzt keinen Vortrag über korrekte Polizeiarbeit, Duval, ich schätze Sie, das wissen Sie hoffentlich. Aber was Sie da machen, ist unzulässig. Sie sind ein bisschen überarbeitet, kann das sein? Es war alles ein bisschen viel in der letzten Zeit. Der gewaltsame Tod des Richters, dann Cosenza. Sie waren sogar auf Cosenzas Beerdigung. Dem waren Sie näher, als Sie sich eingestehen wollen, Duval. All das nimmt einen mehr mit, als man so glaubt.«
Duval schwieg.
»Nehmen Sie ein paar Tage frei.«
»Aber keinesfalls …«, begann Duval, aber der Direktor ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Ich glaube wirklich, dass Ihnen ein paar freie Tage guttun werden. Sie sehen etwas abgekämpft aus. Wenig Schlaf, zu viel Alkohol, kann das sein? Wir haben alle hin und wieder Urlaub nötig, Duval. Dass Sie Ihr Telefon nicht korrekt eingeschaltet haben, ist ein deutliches Zeichen.«
Duval setzte zu einer Erklärung an, aber der Direktor sprach weiter.
»Wie Sie vermutlich wissen, haben wir jetzt auch einen psychologischen Dienst im Haus. Ich kann Ihnen Madame Debord empfehlen, Duval. Eine kompetente Frau, die bereits eine gewisse Lebenserfahrung hat. Sprechen Sie mit ihr.«
»Danke«, Duval erhob sich brüsk. »Das wird alles nicht nötig sein.«
»Das ist kein Vorschlag, Duval. Das ist eine Anordnung!«
»Ich werde doch nicht mit einer Polizeipsychologin sprechen, als hätte ich einen an der Klatsche«, regte Duval sich auf. »Die soll über mich ein psychiatrisches Gutachten erstellen, wo sind wir denn? Ich weiß noch ganz genau, wer ich bin und wo oben und unten ist.«
»Na, dann kannst du ja beruhigt hingehen«, sagte Annie trocken.
»Fall du mir nicht auch in den Rücken!«
»Ich falle dir nicht in den Rücken, aber ich sehe auch kein Problem darin, zum Gespräch zu dieser Psychologin zu gehen. Es wird dir vielleicht sogar guttun. Und ich finde auch, dass du ein bisschen viel Rosé konsumierst in letzter Zeit.«
»Nun hör aber auf! Guttun. Zu viel Rosé. Habt ihr euch alle verschworen, oder was? So ein Quatsch. Kommt überhaupt nicht infrage. Was mir guttun würde«, begann er und stockte dann.
»Ja? Was würde dir guttun?«
»Ach, was weiß ich«, winkte er ab.
»Aha.« Sie sah ihn befremdet an. »Geh laufen, Léon«, schlug sie dann vor. »Geh ans Meer und lauf dir alles von der Seele. Oder geh schwimmen, oder beides. Nachher essen wir was Schönes. Sollen wir irgendwohin essen gehen?«
»Austern«, sagte Duval. »Ich habe Lust auf Austern.«