Am nächsten Tag suchte Duval den gerade weggeräumten Bildband über Malpasset und schlug ihn auf.
»Hattest du nicht die Adresse dieses Fotografen herausfinden wollen? Der ist doch im weitesten Sinne ein Kollege von dir, oder?«
»Hab ich herausgefunden«, gab Annie zurück, »und ja, ein in jedem Sinne ›alter‹ Kollege«, sie grinste leicht. »Yvan Delmas, er ist heute 86 und lebt in Fréjus.«
»Danke«, Duval nahm den Zettel entgegen, den sie ihm hinstreckte.
»Aber ich dachte, du hättest aufgehört? Ich dachte, das sei alles Fake.«
»Ich habe die ganze Nacht hin und her überlegt, Annie. Ich glaube, es war doch ein Anschlag.«
Sie stöhnte auf. »Bitte, Léon, ich kann’s nicht mehr hören!«
»Du kannst es nicht mehr hören? 423 Menschen sind damals elend ums Leben gekommen, und niemand hat die Verantwortung übernommen! Es heißt, es war die größte zivile Katastrophe des 20. Jahrhunderts, aber wenn es ein Anschlag war, Annie, dann war das unser 11. September!«
Sie schnaufte. »Aber Stéphane hat doch gesagt …«, begann sie.
»Stéphane«, unterbrach Duval bitter, »Stéphane arbeitet auch für die ›Firma‹, Annie. Stéphane hatte vermutlich Anweisung, mich zu beruhigen. Stéphane hat auch den Polizeidirektor angerufen, damit der mich zurückpfeift und mir ein psychiatrisches Gutachten verpasst.«
»Bist du sicher?«
»Beweisen kann ich es nicht. Aber wer sonst sollte den Direktor auf meine Arbeit über Malpasset aufmerksam gemacht haben? Er war der Einzige, mit dem ich so offen darüber gesprochen habe. Außer dir und LeBlanc vielleicht. LeBlanc war es nicht. Warst du es? Weil du es nicht mehr hören kannst?«
»Na, nun hör aber auf, Léon. Du spinnst wirklich.«
»Also?«
»Also was? Ob ich dich bei deinem Chef angeschwärzt habe? Bist du verrückt? Wenn du mir das zutraust, dann schicke ich dich auch zu einer Psychologin!«, ereiferte sie sich. »NEIN ! NEIN ! Ich habe NATÜRLICH NICHT mit deinem Chef gesprochen«, Annie war laut geworden, »und ich habe auch keinen anonymen Brief geschrieben, falls du das auch noch fragen möchtest.« Annie zitterte vor Aufregung.
»Dann war es Stéphane«, schlussfolgerte Duval. »Und alles, was er erzählt hat, diente einzig und allein dazu, mich abzulenken und einzulullen. Nach dem Motto ›Gehen Sie weiter, es gibt nichts zu sehen‹. Und ob ich zu der Psychologin gehe oder nicht, alles, was ich herausfinden werde, wird allein dadurch ungültig. Sie werden immer sagen, dass ich krank bin, verstehst du?«
Sie starrte ihn sprachlos an. »Du wirst also weitermachen?«, fragte sie schließlich.
»Ich werde zumindest mal mit diesem Fotografen sprechen«, sagte er. »Ich habe ja nun Urlaub, und in meinem Urlaub kann ich machen, was ich will, oder?«
»Und Julies Zimmer?«, fragte Annie empört. »Du wolltest es doch streichen! Und wir wollten zusammen Sachen aussuchen. Kindermöbel und Vorhänge und eine Lampe und all so was.«
»Ach, Annie, das kannst du doch allein viel besser aussuchen. Ich habe, wie du selbst gesagt hast, einen altmodischen Geschmack und bin bei diesem Mädchenzeug sicher sowieso keine große Hilfe. Nimm, was dir gefällt.«
»Aber streichen wirst du es?«
»Na sicher. Heute Nachmittag oder morgen. Das wird schon noch fertig, mach dir keine Sorgen!«
Yvan Delmas war zwar ein älterer Herr, aber er klang am Telefon noch sehr rüstig und war einverstanden, sich mit Duval zu treffen. Duval fuhr also nach Fréjus und fand schnell das kleine Häuschen in der Altstadt, in dem der Fotograf lebte.
»Ich habe Ihren Bildband, wenn man das so nennen kann, das Buch mit den Abbildungen vom Staudammbruch bei einem Bouquinisten gefunden.« Duval legte das Buch auf den Küchentisch. »Was für eine Katastrophe.«
»Ja, das ist wahr.« Yvan Delmas blätterte ein wenig in dem Buch und betrachtete seine eigenen Bilder aufmerksam, hin und wieder beugte er sich vor, um Details erkennen zu können. »Es war fürchterlich, es war alles zerstört wie im Krieg.«
»Wie im Krieg? Waren Sie im Krieg?«
»Ich habe meine Armeezeit in Algerien abgeleistet. Damals nannte man das noch nicht Krieg. Man sagte ›Ereignisse‹, und wir waren da, um ›die Ordnung wiederherzustellen‹. Aber das wissen Sie vermutlich nicht mehr, Sie sind ja noch jung.« Er sah Duval an, der halb zustimmend nickte, aber »doch, doch« murmelte. Natürlich »wusste« er das, aber wie es wirklich gewesen war, davon hatte er keine Ahnung. Da konnte er lesen, so viel er wollte.
»Aber es war Krieg«, sprach der Mann weiter. Er atmete tief ein und aus. »Damals habe ich auch entsetzliche Szenen gesehen. Zerstörte Dörfer, tote Menschen und Tiere. Schreiende Frauen und weinende Kinder.« Er schüttelte den Kopf. »Ganz furchtbar war das. Und kaum war ich wieder zu Hause, kam dann das hier.«
»Sie waren damals Journalist für Nice-Matin, richtig?«
»Na ja, ich war Praktikant, aber mit dieser Katastrophe hatte ich meinen Einstieg. Danach haben sie mich behalten. Ich verdanke dieser Katastrophe meine Karriere, wenn ich ehrlich sein will.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich war der Erste, der vor Ort war, wissen Sie. Ich wohnte mit meiner Frau und meiner kleinen Tochter in St-Aygulf damals. Ich war Anfang zwanzig. An dem Abend waren wir aber bei meinen Schwiegereltern in Fréjus zum Essen, und wir haben ferngesehen. Wir hatten noch keinen eigenen Fernseher, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen«, er lächelte leicht, »aber so war es. Fernsehen war noch etwas Besonderes, und wir haben während des Essens ferngesehen. Um 21.10 Uhr fiel der Strom aus, einfach so. Der Fernseher war tot, das Licht ging aus, es war plötzlich finster. Ich weiß noch, dass wir bei den Nachbarn geklopft haben, aber die Nachbarn hatten auch keinen Strom. Die Schwiegereltern wohnten etwas oberhalb, und man sah von dort, dass das ganze Dorf unter uns im Dunklen lag, nur der Leuchtturm, der blinkte von ferne. Plötzlich brüllte jemand auf der Straße: ›Die Staumauer ist gebrochen! Die Staumauer ist gebrochen!‹«
Er blickte gedankenverloren auf die gemusterte Wachstuchtischdecke und fuhr mit dem Finger eine Linie nach. Dann hob er wieder den Kopf.
»Mein Schwiegervater und ich, wir sahen uns an, und dann fuhren wir los, aber schon hundert Meter weiter unten war der Dorfplatz überschwemmt, wir kamen nicht weiter, wir sahen einen Baum vorbeischwimmen. Wir hörten Leute schreien«, er schwieg einen Moment und fuhr wieder die Linien auf der Tischdecke nach, »verzweifelte Schreie, verstehen Sie?« Er sah Duval an.
Der nickte stumm.
»Vor uns rauschte das Wasser, und wir konnten nichts tun, wir sahen auch nichts, alles war stockfinster. Und diese Schreie. Es war schrecklich.« Er schwieg wieder. »Wir fuhren dann zurück zu meinen Schwiegereltern, ich wollte Nice-Matin anrufen und die Feuerwehr, aber das Telefon funktionierte nicht mehr. Ich bin dann über die kleine Straße nach Valescure bis nach St-Raphaël gefahren, dort wohnte ein Kollege, den weckte ich. In St-Raphaël gab es Strom, und wir telefonierten von seinem Anschluss aus. Am nächsten Tag hatte Nice-Matin schon mit meinen spärlichen Informationen eine Titelseite machen können.« Er sagt es ernst, aber auch sichtlich stolz und suchte im Buch die entsprechende Seite. »Hier«, sagte er, »sehen Sie!« Duval betrachtete die dokumentierte Zeitungsseite. Nur ein knapper zweispaltiger Text, aber man sprach schon von der gebrochenen Staumauer.
»Wir haben alle kaum geschlafen in dieser Nacht, und am nächsten Morgen, sobald es hell wurde, bin ich natürlich los. Das Wasser stand im Dorf, ich ging, so weit ich kam, aber alles war überschwemmt, die Feuerwehrleute waren schon mit Schlauchbooten unterwegs.« Er holte tief Luft. »Aber erst am übernächsten Tag war das Wasser so weit abgeflossen, dass ich diese Fotos machen konnte.« Er tippte mit der Hand auf das Buch, das auf dem Küchentisch lag. »Quasi alle Fotos, die jemals zur Katastrophe von Malpasset veröffentlicht worden sind, habe ich gemacht. Paris Match hat mich kontaktiert, für die habe ich vierzehn Tage lang gearbeitet und fotografiert. Die haben mich auch bezahlt, dieses Angebot habe ich angenommen, aber sonst habe ich alle meine Fotos kostenfrei zur Verfügung gestellt. Sei es fürs Fernsehen oder für die Zeitungen. Ich wollte mein Geld nicht mit der Katastrophe und dem Tod all dieser Leute verdienen. Das waren meine Nachbarn, verstehen Sie? Aber mein Name, der war jetzt bekannt, und Nice-Matin hat mich natürlich behalten.«
»Monsieur Delmas, wir hatten am Telefon schon kurz darüber gesprochen, ich versuche aus persönlichen Gründen, etwas über die Ursachen des Einsturzes dieser Staumauer herauszufinden.«
»Ach«, er seufzte und hob hilflos die Hände. »Was weiß ich schon. Es hieß, sie hätten den Ort für die Staumauer noch mal um zweihundert Meter verlegt und keine Expertise mehr eingeholt. DAS ist meines Erachtens der Knackpunkt. Man hätte an dieser Stelle keine Staumauer bauen sollen, das Gestein war da nicht geeignet. Aber was wollen Sie, es war eine andere Zeit, man hat damals schnell diesen Stausee haben wollen, die Gegend hier, ein Obstanbaugebiet immerhin, litt jedes Jahr im Frühjahr unter Überschwemmungen des Reyran und im Rest des Jahres unter Trockenheit. Den Fluss zu stauen und die Gegend geregelt mit Wasser zu versorgen, war ein Projekt, das überall Zustimmung fand, auch wenn man ein paar Leute enteignen und umsiedeln musste. Die waren natürlich nicht zufrieden.«
»Sie glauben also, es war ein Unglück?«
»Aber sicher!«
»Es gibt da diese Idee, dass es ein Attentat gewesen sein soll.«
»Hören Sie auf!« Er winkte ab. »Ich weiß schon. Sie fragen wegen dieser Sendung, aber das ist völliger Humbug, was die da erzählt haben. Es war ein Unglück! Alle haben das immer gesagt! Ein Attentat!«, sagte er empört. »Und das erfährt man erst jetzt?« Er schüttelte den Kopf.
»Manche Dinge kann man erst erfahren, wenn die entsprechenden Akten zugänglich geworden sind, verstehen Sie?«
»Ja, aber man darf auch nicht alles glauben, was im Fernsehen gezeigt und gesagt wird. Es wird heute so viel manipuliert. Man zeigt Ihnen irgendwelche Dokumente, aber die sind selbst produziert, verstehen Sie?«, gab der alte Mann zurück. »Falsche Papiere, das gab es schon zu meiner Zeit, oder man hat einen Kopf auf einem Foto wegretuschiert, der einem nicht gefallen hat, das hat es schon immer gegeben. Darf man nicht alles glauben.«
»Hm«, machte Duval. »Ich gebe Ihnen zwar recht, dass es viel Manipulation gibt, aber …«
»Kennen Sie diesen Film, wie hieß er noch«, unterbrach ihn Yvan Delmas. »Über die gefälschte Mondlandung, wissen Sie?«
Duval schüttelte den Kopf.
»Der Titel ist irgendwas mit ›der Mann im Mond‹.«
Duval gab »gefälschte Mondlandung Film« in sein Smartphone ein. »Kubrick, Nixon und der Mann im Mond«, las er kurz darauf vor. »Ist es das?«
»Ja! Kennen Sie den?«
»Nein, immer noch nicht.« Duval hob die Schultern.
»Schauen Sie sich den an, wenn Sie ihn mal finden.«
»Mache ich. Um was geht’s? Können Sie mir das erzählen?«
»Das ist ein echter falscher Dokumentarfilm, der behauptet, dass die Bilder, die man von der Mondlandung gesehen hat, in Wirklichkeit in einem Studio aufgenommen worden sind. Es ist sehr intelligent gemacht, aber auch sehr gefährlich. Wenn man diesen Film nicht richtig versteht, dann glaubt man, dass 1969 niemand wirklich auf dem Mond war! Verstehen Sie?«
»Ja, ich verstehe, was Sie sagen wollen.«
»Diese ›Dokumentation‹ ist Wasser auf die Mühlen aller Verschwörungstheoretiker.«
»Malpasset war also ein Unglück?«
»Ganz bestimmt.« Es klang abschließend, und Yvan Delmas schob das Buch wieder zu Duval.
»Danke, dass Sie mir so viel erzählt haben!«
»Gern geschehen. Danke, dass Sie mein Gedächtnis wieder etwas aktiviert haben. Das ist wichtig. Alt wird man, wenn man seine grauen Zellen nicht mehr anstrengt, wissen Sie.«
»Ach, Ihr Gedächtnis ist noch perfekt«, lächelte Duval.
»An diese Katastrophe erinnere ich mich, vielleicht weil ich die Bilder so oft angesehen habe«, er tippte auf das Buch, »aber so viel anderes im täglichen Leben vergesse ich.« Er hob resigniert die Schultern. »Und danke, dass Sie mein Buch gekauft haben! Wir haben nur eine kleine Auflage drucken lassen, anlässlich des 50. Jahrestags der Katastrophe. Aber nur wenige Menschen wollten die Bilder von damals noch mal sehen. Hier in der Gegend hat fast jede Familie einen Menschen verloren. Man sagt immer so schnell ›traumatisiert‹ heutzutage. Aber damals waren wir alle traumatisiert. Bis heute eigentlich. Also, ich empfinde das so.«
Duval schlenderte durch die Straßen der Altstadt von Fréjus und dachte nach. Manipulation hat es schon immer gegeben, hatte der alte Mann gesagt und glaubte doch den Informationen, die er zur damaligen Zeit erhalten hatte. Vielleicht, weil es einfacher war, die Erklärungen, die man einmal akzeptiert hatte, weiterhin zu glauben, und vielleicht auch weil er die heutige Welt und ihre Unzahl an Informationen, die ununterbrochen auf einen einprasselten, nicht mehr bewältigen konnte. Was stimmte noch, wenn alle ständig »Fake News« schrien?
Und wenn die alten Erklärungen die richtigen waren? Man hatte die Staumauer noch einmal um zweihundert Meter verlegt und keine Expertise mehr eingeholt? Wenn das der Grund war, weshalb die Staumauer gebrochen war, dann wäre doch ganz klar das Bauingenieurbüro schuld an der Katastrophe. Aber niemand wurde je zur Rechenschaft gezogen. André Coyne war kurze Zeit später gestorben – er hatte Krebs gehabt. Wollte man ihn schonen? Aber 423 Tote immerhin.
Spontan betrat er die freundlich aussehende Bar du Marché. Die Fensterläden des Hauses waren genauso grün wie die hellen Blätter der ausladenden Platane. Gedeckte Tische unter weißen Sonnenschirmen warteten auf Mittagsgäste. Aber noch war er mit dem Wirt allein. Duval bestellte am Tresen einen Kaffee und ein Glas Wasser. Der Wirt wischte mechanisch den Tresen ab, bevor er ihm den Kaffee und ein Glas gekühltes Leitungswasser zuschob.
Duval dankte wortlos und trank einen Schluck Wasser.
Während er den Zucker in den Kaffee rührte, blätterte er ohne großes Interesse in der ausliegenden Zeitung, dann faltete er sie zusammen und schob sie zur Seite.
»Machen Sie Urlaub?«, fragte der Wirt, der, wie alle Bistrobesitzer, eine ausgeprägte Neigung zum Plaudern hatte. Ein Mann, der den lieben langen Tag Menschen kommen und gehen sah. Bekannte, Fremde. Mit allen wechselte er schwerelos ein paar Worte, Belanglosigkeiten über Tagesaktualitäten oder das Wetter.
»Ja«, antwortete Duval, und es war nicht gelogen. »Und ich war in Malpasset«, begann er.
»Ah«, machte der Wirt und bekam ein ernstes Gesicht, während er mechanisch ein Glas im Küchenhandtuch drehte und es hinter sich auf ein Regal stellte.
»Sie lässt mich nicht mehr los, diese Katastrophe«, sagte Duval.
»Die hat uns alle nicht mehr losgelassen. Also, uns Einheimische. Sie sind aber nicht von hier, oder? Kommen Sie aus Paris?«
»Sehe ich so aus?«, fragte Duval scherzhaft empört zurück.
Der Wirt schmunzelte. »Von hier sind Sie jedenfalls nicht, das höre ich.«
»Ich habe meine Wurzeln im Süden, bin aber in Paris groß geworden, das stimmt. Und jetzt lebe ich wieder hier. In Cannes.«
»Ah, Cannes«, machte der Wirt gespielt dramatisch.
»Ja, es ist sehr speziell dort«, gab Duval zu. »Aber die Cannois sind ganz normale Leute geblieben.«
»Hm«, machte der Wirt zustimmend. »Und wie kommt’s, dass Sie sich für Malpasset interessieren?«
»Ich habe neulich einen Ausflug mit meinen Kindern gemacht, eher zufällig sind wir dort gelandet, ich habe sämtliche Schautafeln gelesen, die dort aufgestellt waren, und danach wollte ich mehr wissen und begann, mich darüber zu informieren. Ich habe zufällig bei einem Bouquinisten ein Buch mit Fotografien von der Katastrophe gefunden.«
»Von Yvan?«, fragte der Wirt dazwischen.
»Genau. Und so kam eines zum anderen«, schwindelte Duval sich knapp an der Wahrheit vorbei. »Was ich nicht verstehe, ist, dass man auf den Schautafeln diesen Bauingenieur rühmt, dabei ist er doch schuld an dieser Katastrophe, oder?«
»Es war eine Naturkatastrophe«, widersprach der Wirt. »Es war zu viel Wasser im Stausee, es hatte damals tagelang geschüttet, der Stausee war voll bis oben hin, und man hat das Ventil nicht rechtzeitig aufgemacht. Und der Untergrund war porös.«
»Aber das hört sich doch nach menschlichem Versagen an. Das Ventil zu spät aufgemacht«, wiederholte Duval. »Ich habe gelesen, es sei außerdem unterdimensioniert gewesen.«
Der Wirt zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Das Gericht hat damals entschieden, dass es niemandem zur Last gelegt werden konnte.« Er schwieg und polierte den Zapfhahn.
Duval schwieg auch.
»Ich selbst habe keine Erinnerungen. Ich bin erst in dieser Nacht geboren, wissen Sie«, sagte er dann.
»Oh«, machte Duval.
»Meine Mutter war im Krankenhaus, sie hat mich ein paar Stunden vor der Katastrophe entbunden.«
»Ach.«
»Nur deswegen bin ich heute noch hier.«
Duval verstand es nicht gleich.
»Meine Mutter und ich haben überlebt, weil wir nicht zu Hause, sondern im Krankenhaus waren. Der Rest unserer Familie, mein Vater und meine zwei Brüder sind umgekommen.«
»Oh weh«, sagte Duval betroffen.
»Ich habe keine Erinnerung, wie gesagt, aber als ich größer wurde, stellte ich natürlich Fragen und wollte wissen, was passiert war, aber meine Mutter hat kaum etwas erzählt. Sie wisse nichts, sagte sie immer. ›Sie haben mir nichts erklärt‹, war ihr Standardsatz, wenn ihr meine Fragerei zu viel wurde. Damit war Schluss. Es war so. Basta.« Er polierte eifrig den Zapfhahn, während er sprach.
Duval kratzte den Zucker vom Boden des Kaffeetässchens und löffelte es aus.
»Wissen Sie«, sprach der Wirt weiter und wischte zum wiederholten Mal über den Tresen, »meine Eltern waren ein paar Jahre vorher aus Spanien gekommen, um dem Franco-Regime zu entkommen. Mein Vater arbeitete damals in den Minen, ganz nah am Stausee, und meine Eltern hatten aufgrund dieser Arbeit ein Anrecht auf eine Unterkunft, na ja«, unterbrach er sich, »eine sehr einfache Unterkunft, eine Baracke, wie man sie damals eben für Fremdarbeiter gebaut hat. Nicht viel mehr als ein Pappkarton, wenn man ehrlich sein will. Alle Fremdarbeiter lebten dort. Es war eine Barackensiedlung. Als der Staudamm brach, ist das Wasser als Erstes über diese ärmliche Siedlung hereingebrochen. Nichts blieb davon übrig. Nichts. Wirklich gar nichts.« Er schwieg einen Moment. »Später habe ich diese Siedlung auf Bildern gesucht, auf der Suche nach irgendwas, einem Gefühl von dem, was meine Herkunft angeht, meine Familie, ein Stück Erinnerung, aber es gibt nichts.« Er stützte sich auf den Rand der Spüle und sah unbestimmt in den Raum. »Niemand hat diese Siedlung je fotografiert, wissen Sie«, sagte er, aber er sah Duval nicht an. »Die Menschen, die dort gelebt haben, hatten vermutlich keine Fotoapparate, und von den anderen interessierte sich niemand für diesen miserablen Ort und die Fremden. Vielleicht schämte man sich auch, es zu dokumentieren. Menschen, die ohne fließend Wasser in Hütten aus Pressspan mit Dächern aus Teerpappe lebten. Klar, dass davon nichts übrig geblieben ist. Und niemand dort hat das überlebt. Mein Vater und meine zwei älteren Brüder wurden weggeschwemmt. Mein Vater wurden nie mehr gefunden. Meine zwei Brüder sind auf dem Friedhof beerdigt.«
»Es tut mir sehr leid«, sagte Duval.
Der Wirt nickte. »Ich habe wie gesagt keine Erinnerung, aber es ist trotzdem ein schweres Erbe.«
»Ihr Vater hat in den Minen gearbeitet, und der Stausee lag nebenan, verstehe ich das richtig?«
»Ja.«
»Gibt es diese Minen noch?«
»Nein.«
Duval sagte nicht, was er dachte, aber der Wirt verstand auch so.
»Sie glauben, die Erschütterung im Erdboden hätte den Staudammbruch auslösen können?«
»Das käme mir nicht unwahrscheinlich vor, sagen wir so.«
»Das haben damals wohl auch viele geglaubt, der Staudammwärter hat das auch eine Zeit lang verbreitet, aber die Experten haben das alles untersucht und sagten, dass es nicht die Ursache war. Damals wurde auch die Autobahn gebaut, die A8, wissen Sie? Dafür wurden ebenfalls große Sprengarbeiten vorgenommen, aber auch das hat keinen Einfluss auf den Dammbruch gehabt.«
»Die haben für die Autobahn Sprengungen vorgenommen?«, fragte Duval nach. »Die ist doch nur einen Steinwurf weit entfernt!«
Der Wirt nickte. »Ja. Aber die Experten sagten, das war nicht die Ursache.«
»Die Experten«, wiederholte Duval.
Der Wirt sah Duval sinnend an. »Na, wem soll man denn sonst vertrauen, wenn nicht den Experten?«
Duval nickte zustimmend.
»Ich bin mit dieser Erklärung groß geworden. Wir begehen jedes Jahr den Gedenktag. Die, die sich noch erinnern, werden immer weniger. Ich selbst weiß ja auch nichts mehr.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber meine Mutter und ich, wir gehören doch zu den Opfern. ›Sie haben mir nichts gesagt‹, sagte sie immer. Vielleicht hat sie auch nicht zu fragen gewagt. Es war damals nicht so einfach für eine zugewanderte Spanierin, die kaum Französisch sprach.« Er seufzte.
»Wir bekamen eine große Entschädigung. Damals wollte die ganze Welt den Opfern der Katastrophe helfen. Es gab eine unglaubliche Solidaritätswelle. Es war kurz vor Weihnachten, und da war das Bedürfnis, etwas zu tun, wohl noch mal größer. Sachspenden, Spielzeug für die Kinder, Geldspenden. Es muss tatsächlich wahnsinnig viel Geld zusammengekommen sein. Ich habe später mal versucht rauszukriegen, wie viel, weil es nämlich bis heute heißt, der Bürgermeister habe das Geld ein bisschen ungerecht verteilt«, er sah Duval mit einer resignierten Miene an, »aber na ja«, er hob die Hände, »was wollen Sie machen? Meine Mutter hat für ihre Verhältnisse viel Geld bekommen. Es hat ihr meinen Vater und meine Brüder nicht zurückgebracht, aber für sie und für uns begann damit ein sozialer Aufstieg. Wir bekamen erst ein Zimmer hier oben über dem Bistro zugewiesen, später hatten wir dann sogar zwei Zimmer. Zwei Zimmer stellen Sie sich das vor! Mit einem Waschbecken mit fließend Wasser und mit einem Klo auf dem Gang. Vorher hatten sie zu viert in einer winzigen Papphütte gehaust! Ohne Strom, ohne sanitäre Anlagen. Da ist man natürlich dankbar und stellt keine kritischen Fragen. Das war auch nicht die Art meiner Mutter. Sie war eine bescheidene kleine Frau. Sie hat Arbeit hier in diesem Bistro bekommen«, er machte mit der Hand eine umfassende Bewegung, »als Putzfrau, als Küchenhilfe, als Mädchen für alles, aber immerhin. Ich bin hier aufgewachsen, war nach der Schule hier und habe schon ganz früh mitgeholfen, habe Tische abgeräumt und serviert und so. Mir hat das gefallen. Der Wirt war nett zu mir und nicht schlecht zu meiner Mutter. Sie hat aber auch viel gearbeitet. Jeden Tag.« Einen Moment sah er ins Leere, als erinnerte er sich. »Na, und viel später habe ich das Bistro sogar kaufen können. Nicht mehr von dem Hilfsgeld, aber doch infolge all dieser Umstände. Das Bistro ist mein Zuhause. Ich wohne auch immer noch hier.« Er zeigte nach oben und lächelte leicht. »Wissen Sie, es war damals noch nicht so leicht, als Zugewanderter etwas zu kaufen. Ich bin zwar hier geboren und zur Schule gegangen, man war freundlich zu uns, aber ich war doch lange Zeit ›der Sohn der Spanierin‹.« Er lächelte bitter.
»Bonjour, Paco«, grüßten zwei Männer, die sich auf der Terrasse an einen der gedeckten Tische setzten.
»Bonjour, Arnaud, bonjour, Momo«, rief der Wirt zurück. »Wie immer?«
»Wie immer!«
Das Bistro belebte sich. Der Wirt bediente andere Gäste, die sich für einen schnellen Pastis an den Tresen stellten, bevor sie sich ebenfalls an einem Tisch niederließen.
»Kann ich Ihnen noch etwas anbieten?«, fragte er Duval.
»Ich werde vielleicht auch hier essen«, entschied Duval. »Was haben Sie denn heute Schönes?«
»Wir haben die ersten Cantaloupe-Melonen aus Cavaillon, dazu serviere ich einen ausgezeichneten Schinken, einen spanischen Serrano, das bin ich meiner Herkunft schuldig«, er lächelte leicht. »Als Tagesmenü gibt es Faux Filet oder Steak Tartare, beides mit Fritten, oder …«
»Steak Tartare«, entschied Duval, ohne weitere Vorschläge anzuhören. »Das habe ich schon lange nicht mehr gegessen.«
»Gute Wahl«, bestätigte der Wirt, »ich habe sehr gutes Fleisch vom Charolais-Rind, Sie werden es schmecken, es ist ein Genuss! Und als Vorspeise die Melone mit dem Schinken?«
Duval zögerte.
»Die Melone ist sehr gut, sehr intensiv im Geschmack. Und der Schinken ist Extraklasse!«
»Na gut, Melone und Steak Tartare. Kann ich mich einfach irgendwohin setzen, oder sind die Tische reserviert?«
»Wo Sie möchten.«
Duval genoss den Moment im Halbschatten unter der Platane und sah zu, wie sich die Terrasse füllte.
»Bonjour«, grüßte ein junges Mädchen mit Nasenpiercing und kunstvollen Tätowierungen am linken Arm, das ihm schwungvoll eine Karaffe Wasser und einen kleinen Brotkorb auf seinen Tisch stellte. »Möchten Sie vielleicht noch etwas anderes trinken? Einen Rosé vielleicht?«
Duval zögerte kurz. Trank er wirklich zu viel? »Aus dem Var?«, fragte er dann.
»Selbstverständlich aus dem Var. Wir haben einen feinen Côtes de Provence da, von einem Weinbauern aus Le Luc«, schlug sie vor.
»Dann gerne.«
»Ein Glas?«
Duval nickte. Ein Glas war vertretbar. Außerdem war er ja mehr oder weniger im Urlaub. Er blätterte in dem Bildband und las erneut das Grußwort des damaligen Bürgermeisters.
»Bitte schön!« Schon hatte ihm das Mädchen den Teller mit der Vorspeise serviert und stellte das Glas Rosé dazu. »Bon appétit!«
»Danke!«
Er löste die beiden Schnitze der orangegelben Melone von ihrer Schale, sie roch aromatisch und schmeckte süß, auch wenn sie vielleicht noch nicht hundertprozentig reif war. Dennoch passte sie ausgezeichnet zu dem sehr fein geschnittenen, beinahe fettfreien Schinken. Ein Genuss, genau wie der kühle Rosé, er hatte eine blasse Farbe, war aber leicht und frisch und sehr aromatisch. Duval war kein großer Weinkenner. Er sei Weintrinker, sagte er gerne kokett von sich, aber dennoch mochte er nicht alles. Dieser Côtes de Provence hier war allerdings eine Klasse besser als sein Supermarktschätzchen, das er sonst trank, und er bestellte ein weiteres Glas, als man ihm das Hauptgericht servierte. Er mixte die ordentliche Portion Steak Tartare mit den klein gehackten Zwiebeln, Cornichons und Kapern und den mitgelieferten Soßen, ergänzte Salz und Pfeffer, die er ebenso über die Fritten gab, und aß mit großem Genuss. Lange her, dass er ein Steak Tartare gegessen hatte.
»Na, Ihnen hat’s aber geschmeckt«, grinste die junge Bedienung, als sie den leeren Teller abtrug. »Das sehen wir gerne. Noch ein kleines Dessert?«, schlug sie vor.
»Nein, danke«, lehnte Duval ab. »Sonst gerne, aber die Portion war zu üppig. Einen Kaffee hätte ich gerne. Und die Rechnung bitte.«
»Kommt sofort!«
Kurz darauf verabschiedete sich Duval vom Wirt des Bistros.
»Hat es Ihnen geschmeckt?«
»Ausgezeichnet!«
»Das freut mich!«
»Sagen Sie, Sie erwähnten vorhin den Staudammwärter, der über diese Sprengungen Anspielungen gemacht habe.«
Der Wirt nickte. »Jean Ferrero.«
»Der lebt nicht mehr, vermute ich.«
»Nein, er ist nicht sehr alt geworden, und er war zudem dement in seinen letzten Jahren. Aber sein Sohn lebt noch, Pierre. Keine Ahnung, was der weiß. Der war damals auch noch ein Kind, er ist nur ein paar Jahre älter als ich.«
»Kann ich den noch in Fréjus finden?«
»In Roquebrune-sur-Argens. Das ist nicht weit, auf der anderen Seite des Gewerbegebiets. Und dann ein bisschen verloren in der Pampa. Soll ich Ihnen seine Adresse geben?«
»Das wäre sehr nett. Sie kennen sich?«
»Wir alle, die wir mit der Katastrophe groß geworden sind, kennen uns.«
»Verstehe.«
»Wollen Sie direkt hinfahren?«
»Wenn er jetzt da ist, warum nicht.«
»Dann rufe ich ihn an. Er ist ein etwas eigenwilliger Typ, der lässt Sie sonst nicht rein.«
»Danke.«
»Keine Ursache.«
Knorrige Korkeichen und ausladende Pinien säumten die enge kurvige Straße, dahinter sah man weitläufige Weinfelder: niedrige stämmige Weinstöcke in langen Reihen, grünes Weinlaub auf roter Erde. Hier und da lümmelten sich riesige Feigenkakteen. Und über allem thronte der eindrucksvolle Rocher, der schroffe, rot-felsige Bergrücken, dem das Dorf Roquebrune seinen Namen verdankte. Die Landschaft erinnerte an eine Wildwest-Kulisse, und in der Tat waren nicht wenige europäische Western-Filme hier gedreht worden. Zu seinem Bedauern näherte Duval sich aber weder dem Dorf noch dem Bergrücken, sein Navigationsgerät führte ihn nun kilometerlang über verschlungene und mit Obstbäumen gesäumte Feldwege. Dahinter erstreckten sich weite Wiesen und Weiden. Keine Menschenseele war zu sehen, und kein anderes Auto fuhr auf diesem abgelegenen Weg ins Nirgendwo. Noch einmal ließ ihn das Navigationsgerät rechts abbiegen. Der Feldweg wurde noch schmaler und holpriger, Schilder wiesen streng darauf hin, dass man auf einem Privatweg fuhr. Er hoffte, irgendwo eine Stelle zum Wenden zu finden, als er plötzlich vor einem großen Tor stand. Vielleicht war es das? »Sie haben Ihr Ziel erreicht«, verkündete leidenschaftslos die Stimme des Navigationsgeräts. Auf dem Gelände stand ein lang gezogenes eingeschossiges Steinhaus. Er stieg aus und suchte eine Möglichkeit, sich anzukündigen, was aber schon von zwei großen Hunden übernommen wurde, die wütend bellend hinter dem Tor auf und ab sprangen.
Eine Tür öffnete sich, ein Mann erschien, blieb aber auf der Türschwelle stehen. »Rubis, Scout! Aus!«, rief er scharf. Die Hunde hatten aufgehört zu bellen, liefen aber nervös winselnd weiter hin und her. »Was wollen Sie?«, rief er.
»Monsieur Pierre Ferrero?«
»Ja.«
»Duval ist mein Name. Paco, der Wirt von der Bar du Marché, hat angerufen.«
»Ah, Sie sind das!«
Der Mann näherte sich dem Tor und besah Duval von oben bis unten, dann öffnete er mittels einer Fernbedienung das Tor, das langsam aufschwang. Die Hunde schlüpften durch die Lücke hinaus und sprangen laut bellend um Duval herum.
»Rubis! Scout! Aus! Hierher! HIERHER !« Die Hunde gehorchten widerstrebend. »Sie haben keine Angst vor Hunden, hoffe ich?«
»Nein.«
»Die sind noch jung«, erklärte der Mann und tätschelte die unruhigen Vierbeiner. »Sie können Ihr Auto hierhin stellen.« Er zeigte auf den Kiesplatz neben dem Haus.
Als Duval aus dem Auto stieg, drängten sich die Hunde wieder an ihn, beschnüffelten ihn, jaulten, bellten, sprangen hoch und waren völlig aus dem Häuschen. »Guuut.« Duval strich ihnen langsam und beruhigend über das Fell. »Guuuut, alles guuuut«, sagte er leise. Sie winselten und drängten sich schwanzwedelnd an ihn. »Unbemerkt kommt man hier nicht rein.«
»Das ist der Sinn«, nickte der Mann. »Aus! Scout! Rubis! Aus!«
Er scheuchte die Hunde davon, die über das weitläufige Gelände davonpreschten.
»Beeindruckend. So etwas habe ich nicht erwartet«, sagte Duval und blickte den Hunden nach, die bereits winzig klein in weiter Ferne bellten und herumsprangen. »Gehört der Pinienwald auch dazu?«
»Ja.«
»Da haben Sie aber ordentlich was zu tun«, vermutete Duval.
»Allerdings. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee? Wasser? Pastis?«
»Ich komme gerade vom Essen. Aber einen Kaffee würde ich noch nehmen.«
Der Mann verschwand, und Duval hörte ihn im Innern des Hauses herumhantieren. Dann kam er mit einer gut gefüllten Tasse Kaffee wieder, stellte eine eckige Blechdose auf den Tisch und legte einen Löffel daneben. »Ich hab ihn aufgewärmt, er ist von heute früh, ich hoffe, das geht in Ordnung.«
Duval öffnete die Blechdose und entnahm ihm ein Stück Zucker. »Ich mache das genauso«, sagte er und rührte den Zucker in den Kaffee.
Pierre Ferrero hatte sich selbst auch einen Kaffee serviert.
»Sie wollen also etwas zu Malpasset wissen.«
»Richtig«, sagte Duval.
»Warum?«
Duval trank einen Schluck Kaffee und entschloss sich, in gewisser Weise die Karten auf den Tisch zu legen.
»Ein Kollege von mir, dem ich sehr nah war, ist vor Kurzem gestorben«, begann er. »Ich habe erst nach seinem Tod erfahren, dass er einen Teil seiner Familie bei der Katastrophe verloren hat. Kurz vor seinem Tod hat er angefangen, Nachforschungen anzustellen, aber er kam nicht sehr weit. Es beschäftigt mich. Ich war mit meinen Kindern zum Wandern am Staudamm, und seither lässt es mich nicht los. Ich habe bei einem Bouquinisten diesen Bildband gefunden, wissen Sie, mit den Bildern von der Katastrophe.«
»Von Yvan?«
»Ja, Yvan Delmas. Heute Morgen habe ich mit ihm gesprochen. Und dann aß ich im Bistro in Fréjus und erfuhr zufällig, dass der Wirt in der Nacht des Unglücks geboren wurde. Und jetzt bin ich hier.«
»Aha.« Der Mann sah ihn an. »Sie sind Flic? Oder täusche ich mich?«
»Ja. Ich bin Flic. Aber ich bin privat hier.« Das war nicht gelogen. »Und das, was ich Ihnen erzählt habe, entspricht der Wahrheit.«
»Aha«, machte der Mann erneut und trank einen Schluck Kaffee.
Einen Moment schwiegen beide Männer.
»Und der Kollege, wie heißt der?«
»Sein Name wird Ihnen nichts sagen«, umging Duval diese Frage, »es geht auch um die Familie seiner Mutter. Es gab eine Verbindung zu einem Obstbauern in der Ebene.«
»Da gab es mehrere«, nickte der Mann. »Die sind alle umgekommen.«
»Die Familie hatte eine Pfirsichplantage und kleine Zwillinge, wenn ich mich recht erinnere«, reichte Duval noch etwas Information nach.
»Ja«, nickte der Mann, »ich erinnere mich vage, davon gehört zu haben. Die Familie Alliot, oder? Bernard Alliot?«
Duval zuckte mit den Schultern.
»Na gut«, Pierre Ferrero gab sich zufrieden. »Was wollen Sie wissen?«
»Ihr Vater war damals der Staudammwärter, nicht wahr?«
»Ja, aber ich war noch ein Kind, ich erinnere mich nicht daran. Ich weiß nur, was man später erzählt hat.«
»Ja, das sagten Sie bereits. Was hat Ihnen Ihr Vater denn erzählt?«
Pierre Ferrero trank noch einen Schluck Kaffee. »Mein Vater sagte immer wieder, dass es ihn nicht gewundert hat, dass der Staudamm gebrochen ist«, begann er dann. »Er hatte ein kleines Boot auf dem See, mit dem er Kontrollfahrten gemacht hat, jedes Mal, wenn sie für den Bau der Autobahn Sprengungen vorgenommen haben, spürte er die Erschütterung in seinem Boot und im See. Er hat das auch weitergegeben, sagte er, aber niemand habe reagiert. Von mir haben Sie das aber nicht gehört«, fügte er schnell hinzu.
»Aha.« Duval nahm es, ohne eine Miene zu verziehen, zur Kenntnis. »Wo haben Sie gewohnt damals?«, fragte er.
»In einem Häuschen, gleich neben dem Stausee. Es war unser Wohnhaus und der Arbeitsplatz meines Vaters. So ähnlich wie bei den Bahnwärtern«, er lächelte leicht.
»Und das Haus ist verschont geblieben?«
»Nein, natürlich nicht. Das war komplett zerstört. Wir haben alles verloren, konnten nur unser Leben retten.«
»Das war sicher sehr dramatisch«, vermutete Duval.
»Ich war noch klein, ich erinnere mich wirklich nicht. Mein Vater sagte, seitdem er dieses Knacken gehört habe, sei er in ständiger Alarmbereitschaft gewesen. An dem bewussten Abend hatte er ein ungutes Gefühl, hat uns ins Auto gepackt, und wir sind hierhergefahren. Hier war früher eine Schäferei, mein Großvater war Schäfer.«
»Ich verstehe«, sagte Duval, trank einen Schluck des schon kalten Kaffees und blickte erneut über das große Gelände. »Das hier war eine Schafsweide?«
»Richtig. Im Winterhalbjahr war mein Großvater hier, im Sommer zog er mit der Herde in die Berge.«
»Dieses Knacken«, sagte Duval, »das habe ich in mehreren Berichten gefunden. Ihr Vater hat es im Staudamm ›knacken‹ hören, und niemand hat das ernst genommen?«
»Vielleicht, vielleicht nicht. Ich kann es Ihnen nicht sagen.« Pierre Ferrero zuckte mit den Schultern. »Uns wurde immer wieder gesagt, es seien ganz viele Leute am Staudamm unterwegs gewesen, um die Sicherheit zu überprüfen. Der See war bis zur Oberkante vollgelaufen. Mein Vater hat dann auch am Vortag des Unglücks auf Anweisung dieses Überlaufventil geöffnet. Aber möglicherweise war es da schon zu spät.«
»Und am nächsten Abend ist er mit Ihnen hierhergefahren. Das heißt, letztlich traute Ihr Vater der Sicherheit des Staudamms nicht?«
Der Mann zuckte mit den Schultern. »So sieht’s aus. ›Ich hab’s gespürt‹, hat er immer wieder gesagt. ›Ich hab’s gespürt.‹ Es hat ihn den Rest seines Lebens beschäftigt, das kann ich Ihnen sagen.« Pierre Ferrero schnaufte schwer. »Niemand von uns wollte es noch hören. Ich war ein Kind damals, als Jugendlicher wollte ich mich amüsieren, leben und nicht immer wieder an diese dunkle Geschichte erinnert werden. Aber er konnte nicht anders. Er kam nicht darüber hinweg. Dass er früh dement wurde, war vielleicht eine Gnade. Also für ihn. Für uns wurde es dadurch auf andere Weise schwer.«
»Kannst du dir das vorstellen?«, Duval war aufgewühlt. »Die Autobahn ist nur einen Steinwurf weit entfernt, ich bin extra noch einmal hingefahren, um es mir anzusehen. Ich konnte mich so genau nicht mehr erinnern, aber um zu dem ehemaligen Stauseegelände zu kommen, fährt man unter einer hohen Autobahnbrücke durch.«
»Du meinst, die Sprengarbeiten für die Autobahn haben den Boden erschüttert? Oder die der Minen?«
»Na, aber sicher! Dafür muss ich kein Sprengmeister sein, um das zu begreifen. Über die Minen weiß ich noch nichts. Aber ich finde das geradezu grotesk verantwortungslos, in unmittelbarer Nähe einer Talsperre ständig große Sprengarbeiten vorzunehmen.«
»Verrückt«, stimmte Annie zu. »Auch ökologisch eine Katastrophe.«
»An Ökologie hat damals noch niemand gedacht«, sagte Duval. »Aber«, setzte er an, »die Theorie eines Attentats ist jetzt auch wahrscheinlicher geworden!«
Annie schnaufte und sah ihn mit einem gequälten Gesichtsausdruck an. »Du kannst es nicht lassen, oder? Wieso also?«
»Man kann so einen fetten Staudamm ja nicht mit zwei Stangen Dynamit in die Luft jagen. Man braucht schon ein paar Tonnen Sprengstoff, das wird aber alles viel leichter, wenn es in unmittelbarer Nähe ein riesiges Sprengstofflager für ebendiesen Autobahnbau gibt.«
»Ich will das nicht glauben, Léon.«
»Ja, das will niemand glauben, scheint mir. Alle geben sich seit sechzig Jahren mit fadenscheinigen Erklärungen zufrieden.«
»Du bist ein bisschen besessen davon, findest du nicht? Alle haben ihren Frieden damit gemacht.«
»Nicht alle! Richter Dussolier stellte plötzlich Fragen, der hat seine Familie dort verloren, verstehst du! Niemand ist dort jemals zur Verantwortung gezogen worden. Niemand! 423 Tote!« Duval sprach eindringlich und betonte jedes Wort.
»Und der Richter ist auch tot.«
»Allerdings.«
»Na toll, Léon. Wenn es da einen Zusammenhang gibt, was ich ehrlich gesagt bezweifle, dann würde es bedeuten, dass du, wenn du weiterhin Fragen stellst, auch getötet werden kannst!«
»Möglich«, stimmte Duval zu.
»Willst du das?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Dann lass es sein, Léon, bitte! Was hast du davon, wenn du etwas aufdeckst, was niemand wissen will?«
»Ausgerechnet du sagst mir das, Annie! Ich habe dich schon ganz anders erlebt, viel kämpferischer, als du dich für die Flüchtlinge eingesetzt hast, oder letztes Jahr, als du über das Réseau Marcel recherchiert hast! Was ist jetzt so anders?«
Sie antwortete nicht.
»Es ist unangenehm zu sehen, dass eine Bewegung, die man unterstützt hat, so monströse Verbrechen begangen hat, ist es das?«
»Ach was«, wehrte sie ab. »Irgendjemand muss jetzt Julie abholen«, wechselte sie abrupt das Thema. »Du oder ich?«
Duval schnaufte laut. »Ich gehe«, sagte er dann.
»Gut.« Annie klang versöhnt. »León, ich möchte auch, dass wir Julies Zimmer noch fertig kriegen.«
»Ja«, sagte Duval. »Mache ich morgen. Versprochen!«
»Er hat’s gespürt, dass ich nicht lache. Der hat sich rechtzeitig aus dem Staub gemacht«, sagte René Bouleau verächtlich. »Der hat das Messer am Hals gespürt, sage ich Ihnen, der wusste, was passieren würde, vermutlich haben ihm die Araber gesagt, wenn du redest, bist du tot, deswegen hat er sich mit seiner Familie verpisst. Davon war damals eine Weile die Rede, wie es sein konnte, dass der Staudammwärter nicht vor Ort war, sondern sich irgendwo im Wald versteckt hatte. Der war tagelang nicht auffindbar, alle dachten, dass er mit seiner Familie in seinem Häuschen genauso abgesoffen ist wie alle anderen, und dann kam er wieder angekrochen, alle munter und gesund. Schon eigenartig, oder?«
»Ich habe einmal über Monate einen Mann beschattet«, setzte Duval an, »am Ende ›kannte‹ ich ihn so gut, dass ich wusste, was er als Nächstes machen würde, ohne dass ich es hätte begründen können. Ich habe es auch gespürt. Manche haben mich für verrückt erklärt deswegen. Aber ich kann verstehen, dass man manchmal ›etwas‹ spürt, einfach weil man sehr nah dran ist. Man kann es nicht immer logisch begründen.«
»Ach was«, René Bouleau war hörbar unzufrieden.
Duval hatte am Vorabend noch einmal René Bouleau kontaktiert und sich ein weiteres Mal mit ihm im Vereinsheim in Antibes verabredet. So früh am Morgen entkam er der Anisette und den höllenscharfen Oliven, stattdessen servierte René Bouleau ihm nun einen starken Espresso; er hatte eine Packung mit rosa schimmernden bepuderten Süßigkeiten auf den Tisch gestellt. »Bedienen Sie sich! Es sind die besten Loukoums in der Gegend. Ich kaufe sie bei einem Araber, der seine eigene Patisserie macht.« Duval nahm eine der weichen Süßigkeiten in Würfelform und biss hinein. Die Konsistenz war weich, es schmeckte nach Rosenwasser und war ihm viel zu süß. Der Puderzucker staubte, er hustete und steckte sich trotzdem den Rest in den Mund und versuchte nicht noch mehr Puderzucker dabei in die Luft zu blasen. Für einen Moment war ihm der Mund verklebt, er kaute mühsam und atmete vorsichtig. René Bouleau nutzte den Moment, um ihm einen Vortrag über die FLN zu halten.
»Die FLN hatte 1958 und 1959 jeden Tag eine Aktion in Frankreich, jeden Tag, daran erinnert sich heute keiner mehr, aber die wollten die FLN in Algerien moralisch unterstützen. Jeden Tag haben sie jemandem die Kehle durchgeschnitten, etwas in Brand gesteckt, eine Bombe explodieren lassen. Sie haben doch meine Liste gesehen! Das können Sie nachprüfen! Die wollten Angst und Terror verbreiten. Und die nahmen die Algerier in Frankreich in eine Art Geiselhaft. Entweder ihr seid für uns, oder ihr seid tot. Und wer hat denn damals die Autobahn direkt neben dem Staudamm gebaut? Algerische Gastarbeiter! Mit deren Unterstützung bekam die FLN Zugang zum Sprengstofflager, das für den Autobahnbau vorgesehen war, und das lag nur einen Steinwurf weit entfernt vom Staudamm. Noch Fragen?« Provokant sah er Duval an, der noch immer kaute. »Und reden kann von den Arbeitern heute keiner mehr, denn deren Barackensiedlung direkt neben der Baustelle ist als eine der ersten weggeschwemmt worden. Wenn sie sich nicht vielleicht vorher aus dem Staub gemacht haben, weil sie es auch ›gespürt‹ haben«, sagte er in ironischem Ton und verzog das Gesicht. »Aber dann reden sie auch nicht mehr davon, das können Sie mir glauben.«
Duval spülte den letzten klebrigen Rest des Loukoum mit einen Schluck Espresso hinunter. »Aber wie Sie selbst gesagt haben, waren die Attentate der FLN bis dahin eher kleine Aktionen. Meinen Sie wirklich, die FLN war zu so einem großen Attentat in der Lage?«
»Ganz ehrlich? Ja und nein! Wenn sich so eine Gelegenheit bietet und einem quasi alles auf dem Serviertablett angeboten wird, dann waren sie dazu in der Lage, ja, aber ich persönlich glaube, dass die tatsächlich keine Ahnung davon hatten, was sie lostreten würden. Die wollten vielleicht die Wasserversorgung sabotieren, aber nicht so eine Katastrophe auslösen. Deswegen haben sie sich auch nicht dazu bekannt. Damit hätten sie sich nämlich die Sympathien aller, die den Befreiungskampf unterstützt haben, verspielt.«
»Ja«, stimmte Duval zu. »Das ist sicher richtig.«
»Nehmen Sie noch ein Loukoum «, er schob die Packung zu Duval, der ablehnend den Kopf schüttelte. »Bisschen süß, was? Ah, diese orientalischen Süßigkeiten sind voller Honig, aber ich nehm noch eins.« Er steckte sich ein weiteres Loukoum in den Mund und nuschelte nur halb verständlich: »Wischen Schie, isch kann misch noch gut erinnern, isch war scheschzehn damals«, er kaute und schluckte und wischte sich den Puderzucker vom Mund, »ich war in Nizza im Internat, meine Eltern wollten, dass ich eine bessere Schulausbildung bekomme, als sie da drüben möglich gewesen wäre. Vielleicht wollten sie mich auch in Sicherheit wissen. Die waren hellsichtiger als die meisten. Sie wussten, dass es nicht mehr lange gut gehen würde in Algerien.«
Duval dachte an die Berichte von Folterungen, die man der französischen Armee zuschrieb, an die willkürlichen Vergeltungsmaßnahmen, die französische Soldaten in abgelegenen Bergdörfern exerzierten. Dass die Menschen in diesen Dörfern abwechselnd von der FLN und von der französischen Armee erpresst und in die Zange genommen worden sind, dass sie nicht wissen konnten, ob man sie am nächsten Tag als Verräter an der algerischen Sache einschätzen und sie mit durchgeschnittener Kehle enden würden oder als Verräter am französischen Staat und man ihnen daher eine Kugel in den Kopf jagen würde. Noch immer gab es keine Aufarbeitung dieser »Ereignisse«. Auch sechzig Jahre nach dem Ende von Algérie française, sechzig Jahre nach der Erlangung der Unabhängigkeit war es zu früh, um offen darüber zu sprechen. Noch lebten alle Beteiligten, waren die Wunden zu frisch, die Gräben zu tief.
»Glücklicherweise waren meine Eltern schon früh in Frankreich«, drang René Bouleaus Stimme wieder zu ihm vor. »Mitnehmen konnten sie trotzdem nicht viel, und das, was sie in einen Holzcontainer geschafft hatten, ein paar Möbel, Wäsche, das Geschirr, Erinnerungsstücke, das haben die Hafenarbeiter beim Ausladen so unsanft aus drei Meter Höhe ›abgesetzt‹«, er machte Anführungszeichen in der Luft, als er »abgesetzt« sagte, »dass alles zerbrochen und unbrauchbar geworden war.« Er sah Duval an. »Wissen Sie, was der Bürgermeister von Marseille damals öffentlich gesagt hat? Dass die Pieds-Noirs sich gefälligst nicht in Marseille, sondern anderswo wieder reintegrieren sollen. Marseille, diese offene Stadt, die immer sämtliche Gestrandeten aus aller Herren Länder aufgenommen hat, uns, die heimatlosen Brüder und Schwestern, wollte sie nicht! Herzlich willkommen in Frankreich«, sagte er in sarkastischem Ton. »So hat man uns empfangen. Es blieben ihnen nur ihre Koffer, ein paar Kleider, etwas Geld und Schmuck. Wir haben wieder ganz von vorne angefangen. Und glauben Sie mir, das haben wir nur geschafft, weil wir dieses Pionierblut in unseren Adern fließen haben. Weil wir hart geworden sind und weil wir nie unsere Familie aufgegeben haben. Wir helfen uns gegenseitig, wir halten zusammen, da kann kommen, was will. Wir sind füreinander da.«
Genau das war es, wofür die Pieds-Noirs bekannt und ebenso häufig auch gering geschätzt wurden: diese großen und lauten Familienzusammenkünfte, bei denen sie wie sämtliche nordafrikanischen Familien ein méchoui, ein Lamm am Spieß, über einem Holzfeuer grillten.
»Sie müssen einmal dazukommen, wenn wir wieder ein méchoui machen«, sagte René Bouleau wie aufs Stichwort. »Oder kommen Sie am Samstag zu unserem Treffen. Ich werde meine Frau bitten, dass Sie uns ein Couscous macht. Sie macht das beste Couscous der Welt!«
»Das will ich gern glauben«, lächelte Duval.
»Dann ist es abgemacht, Sie kommen! Ah, wunderbar, möchten Sie nicht auch in unserem Verein Mitglied werden? Wir nehmen auch Nicht-Pieds-Noirs auf. Der Verein heißt ja nicht umsonst ›Pieds-Noirs -und-ihre-Freunde‹. Ich darf Sie doch als einen Freund ansehen, nach allem, was wir miteinander besprochen haben?!«
»Natürlich, aber ich muss das doch erst mit meiner Frau abstimmen«, wich Duval aus.
»Na, die bringen Sie mit! Kein Problem, es ist uns eine Freude!«
»Ich weiß nicht, was sie für Samstag geplant hat«, versuchte Duval sich aus der Affäre zu ziehen. »Ich glaube, es geht zu irgendeinem Kindergeburtstag«, log er. Annie würde ihm die Hölle heiß machen, wenn er sie zu einem Treffen eines Pieds-Noirs -Vereins mitschleppen würde.
»Aufgeschoben ist nicht aufgehoben«, antwortete René Bouleau. »Ich gebe Ihnen auf jeden Fall das Formular für die Mitgliedschaft mit. Für Paare ist der Beitrag ermäßigt.«
»Nie im Leben gehe ich da hin! Außerdem ist Julies Zimmer immer noch nicht fertig. Das hattest du mir versprochen! Das ist wichtiger als irgend so ein blödes Couscous -Essen, bei dem der ganz Tag draufgeht. Ich mag Couscous sowieso nicht«, schimpfte Annie.
»Ein traditionelles Couscous gekocht von jemandem, der es kann, ist bestimmt ganz anders und sehr lecker. Ich würde das gerne mal kosten«, machte Duval erneut einen Versuch.
»Hör auf, bitte. Ich kann nicht verstehen, dass du dich diesen reaktionären Typen so anbiederst.«
»Ich biedere mich nicht an, aber ich finde ihn nicht unsympathisch, und er hat eben seine Geschichte mit Algerien. Alle haben ihre eigene Geschichte, ihre eigene Sicht, ihre eigene Wahrheit, die Algerier, die Pieds-Noirs, die Harki. Ich maße mir nicht an, da alles zu verstehen und nur für eine Seite Partei zu ergreifen.«
»Nein, aber für Malpasset war die FLN verantwortlich«, sagte sie sarkastisch.
»Das halte ich für sehr wahrscheinlich, sagen wir es mal so. Das bedeutet nicht, dass ich für oder gegen die FLN bin, das bedeutet nur, dass ich ein terroristisches Verbrechen aufkläre, das 423 Tote gefordert hat. Und dass ich erwarte, dass die Täter dafür zur Rechenschaft gezogen werden, auch sechzig Jahre später. Und wenn es die FLN war, dann war es die FLN .«
»Pfh«, machte Annie. »Es sind so viele Menschen in diesem Krieg ums Leben gekommen. Auf beiden Seiten, Léon!«
»Okay«, winkte Duval resigniert ab. »Ich nehme jetzt Julies Zimmer in Angriff.«