XXI
Den Weg von Zoé zu Louise Rasteau, wo sie den zur Sicherheit als Krämerin verkleideten Sklaven zurückließen, brachten sie ohne Zwischenfälle hinter sich. Minette hatte nichts Schlimmeres zu erdulden brauchen als ihre eigenen Ängste, und kaum waren sie wieder zurück bei den Lamberts, fühlte sie sich bereit, selbst die gefährlichsten Aufträge zu übernehmen. Sie ließ Zoé bei ihren Eltern und ging zu Jean-Pierre in dessen Werkstatt, wo er gerade Pfeife rauchend ein Brett zurechtsägte.
«Willst du mit mir reden, Kleines?», fragte er, als er sie sah.
«Ich werde zu Joseph gehen, Lambert», sagte sie ohne Umschweife.
«Beim Marquis? Das wäre Wahnsinn. Das Haus wird von reißenden Hunden und bis an die Zähne bewaffneten Sklaven bewacht.»
«Mademoiselle hat mich gebeten, sie zu besuchen.»
«Dich?»
«Ja, mich. Sie hört mich gern singen, und …»
«Wenn du das tun könntest … Wenn das möglich wäre …»
Er ließ die Säge los, legte die Pfeife auf den Tisch und sah Minette an.
«Zoé hat recht, du bist kein Hasenfuß.»
«Danke.»
Er trat zu Minette und legte seine kräftigen Hände auf ihre Schultern.
«Kann ich mich auf dich verlassen?»
«Ich bin kein Hasenfuß, Lambert», wiederholte sie seine Worte und sah ihm stolz ins Gesicht.
«Daran zweifle ich nicht … Aber ich will dich lieber nicht allzu großen Gefahren aussetzen … Auf seine Weise ist uns dein Talent in der Welt der Weißen von Nutzen. Du glaubst mir nicht? Aber es stimmt. So gibt es eine Vielzahl großer und kleiner Dinge, die indirekt demselben Ziel dienen … Wenn ich dir bisher noch nie dafür gedankt habe, dass du so gut singst, dann lass es mich heute tun.»
«Danke, Lambert.»
Jäh zerriss der Hufschlag eines galoppierenden Pferdes die Stille in der schmalen Straße. Lambert horchte auf, und Minette sah, wie plötzliche Sorge seine Gesichtszüge verzerrte.
«Das ist vielleicht ein Soldat der Maréchaussée», sagte er knapp.
Wiehernd hielt das Pferd vor der Tür des Hauses, und Minette sah, wie Lambert erschauerte und die Fäuste ballte. Dann entfernte sich der Hufschlag.
«Sei vorsichtig, wenn du das Haus verlässt», sagte er daraufhin, «und komm wieder, wenn du Neuigkeiten von Joseph hast.»
«Kann ich jetzt gehen?»
«Warte.»
Er ging zur Vordertür, öffnete sie einen Spalt und suchte mit Blicken die Straße ab.
«Geh», sagte er dann.
Die Erinnerung an Joseph verfolgte sie, bis sie das Theater erreichte. Dort traf sie die anwesenden Schauspieler fassungslos an, denn kurz zuvor war die schreckliche Nachricht vom Tod François Saint-Martins eingetroffen. Mit geröteten Augen kam Goulard ihr entgegen. Er küsste ihr die Hand und schnäuzte sich. Sie alle waren so entsetzlich traurig, dass Minette sich für einen Moment wünschte, nach Arcahaie zurück zu fliehen. Seit sie wieder da war, gab es für sie nur traurige Neuigkeiten. Nach Joseph nun Saint-Martin. Was sollte Lise jetzt tun? Wie allein sie sich fühlen musste, mit diesem Toten, um den sie sich zu kümmern hatte!
«Armer François», sagte Macarty, «zu sterben war das Einzige, was ihm überhaupt nicht ähnlich sah.»
«Woran ist er denn gestorben?», fragte Minette erschüttert.
«Am Fieber. Wir haben hier einen Brief von dem Notar, dem er seinen letzten Willen diktiert hat.»
«Lise hat nicht geschrieben?»
«Davon wissen wir nichts.»
In dem Moment kamen die Acquaires. Sie küssten Minette, dann fielen sie Macarty und Nelanger schluchzend in die Arme.
Die blonde Dubuisson, die etwas weniger selbstgefällig war, seit man sie ausgepfiffen hatte, beobachtete Minette verstohlen. Was hat dieses Mädchen nur an sich, schien sie sich zu fragen, dass das Publikum es so sehr liebt? Laut seufzend putzten sich Madame Tesseyre und Magdeleine Brousse die Nase. Saint-Martins Tod rief die Erinnerung an die kleine Rose wieder wach, und die schluchzende Madame Tesseyre hätte nicht genau zu sagen gewusst, um wen sie gerade weinte. Madame Valville dagegen hatte ihre vogelgleiche Lebhaftigkeit eingebüßt und hüllte sich in gekränktes Schweigen.
«Mein Gott», stammelte Magdeleine Brousse, «was ist der Tod doch für eine grässliche Sache!»
Sie hatte noch nicht ausgesprochen, da kam François Mesplès herein. Er war so bestürzt, dass er Minettes Anwesenheit gar nicht bemerkte. Er schüttelte den Schauspielern die Hand und murmelte unentwegt: «Was für eine schreckliche Nachricht, was für eine schreckliche Nachricht …!»
Minette stand zwischen Goulard und Mademoiselle Dubuisson. Mesplès entdeckte sie, als er Goulard die Hand reichte, und seine aufgewühlte Miene verzog sich zu einer ebenso gereizten wie versöhnlichen Grimasse.
«Ah, da bist du ja wieder», sagte er, ohne ihr die Hand zu geben. «Du musst deinen kleinen Triumph genossen haben. Du verschwindest. Das Publikum verlangt nach dir, und schon schreibt man und bittet dich zurückzukommen … Meine Güte …!»
Dann wandte er sich an Mademoiselle Dubuisson.
«Was Sie angeht, mit ihrem schiefen Ton …!»
«Sie hatte Halsschmerzen», sagte Madame Valville kühl.
«Dann hätten Sie sie nicht singen lassen dürfen.»
«Ich fühle mich ganz merkwürdig in letzter Zeit», wandte nun auch die junge Dubuisson ein und sah scheinheilig in Minettes Richtung.
«Was meinen Sie damit?», wollte Mesplès wissen.
«Ach, ich weiß nicht … Einen Tag nach der Abreise dieses Mädchens wurde ich plötzlich heiser und bekam Migräne … In diesem Land sind die Weißen solchen Leuten und ihrem scheußlichen Aberglauben hilflos ausgeliefert …»
«Sind Sie verrückt?», rief Minette aufgebracht.
«Seien Sie still», fiel Mesplès ihr ins Wort. «Wie kommen Sie dazu, Mademoiselle Dubuisson als verrückt zu bezeichnen?»
«Sie beleidigt mich.»
Goulard ging dazwischen, und auch Madame Acquaire verteidigte Minette, indem sie sich für ihre Unschuld verbürgte.
«Meinetwegen», entgegnete Mesplès. «Ich bin für diesen Schlamassel nicht verantwortlich. Sie haben das Mädchen auf die Bühne geholt,. Das Publikum vergöttert es, jetzt sehen Sie zu, wie Sie zurechtkommen. Solange ich mein Geld bekomme, soll mir von nun an alles egal sein.»
Mechanisch strich er sich über den dicken Bauch, und eine lange Sekunde hielt er Minettes Blick stand.
Dieses kleine Luder ist die schönste affranchie, die ich je gesehen habe, dachte er. Und sie schämt sich nicht einmal, einem Weißen in die Augen zu sehen … Oh, wenn sie nur nicht diese Stimme hätte …!
Er ging und ließ die Schauspieler zurück. Zu deren Bestürzung über die Nachricht von Saint-Martins Tod gesellte sich die Sorge über die Verbindlichkeiten, denen sie sich gegenübersahen. Das Schauspielhaus ächzte unter hohen Schulden. Die Kolonisten hatten seit drei Monaten ihre Abonnements nicht mehr bezahlt. Sie hatten Zahlungsverpflichtungen unterzeichnet, mit denen man wie üblich bei Mesplès vorstellig werden müsste, damit er dem Theater zu einem Wucherzins Geld vorstreckte. Saint-Martin, der getreu seiner Künstlernatur nie auch nur einen Gedanken an den Tod verschwendet und sein Leben im Vertrauen auf sein Glück und in die Würfel gelebt hatte, schuldete den Bühnenarbeitern, den Kulissenmalern, den Portiers, ja sogar den Grenadieren, die für Ordnung im Saal sorgten, Geld. Monsieur Acquaire stieß einen gewaltigen Seufzer aus, und sein Auge zuckte grotesk.
«Saint-Martin hat uns leere Kassen hinterlassen. Wer übernimmt jetzt die Verantwortung?»
Depoix sah Favart an. Die beiden Unzertrennlichen tauschten ein Lächeln und traten vor.
«Wir.»
«Gut», sagte Goulard, «aber ich warne euch, das Schauspielhaus schuldet den Darstellern genauso viel wie den Bühnenarbeitern.»
«Wenn der Gouverneur uns die Leitung des Theaters überträgt, werden wir mit allem fertig», versprach Favart.
«Viel Glück dabei!», wünschte Magdeleine Brousse, immer noch untröstlich über den Tod des jungen Direktors.
«Danke», entgegnete Depoix kühl.
Sie gingen auseinander, und Minette verließ das Gebäude in Begleitung von Magdeleine Brousse, die wütend über das Leben schimpfte.
«Oh, dieses elende Leben, ich schwöre dir, es ist von Anfang bis Ende ein scheußliches Elend. Ich versuche, das zu vergessen, indem ich mit allen Männern ins Bett gehe, die mir gefallen. Das ist die einzige Möglichkeit, alt zu werden und zu sterben, ohne etwas zu bereuen.»
Um Minette zu beweisen, dass dies keine leeren Worte waren, verabschiedete sie sich von ihr und wandte sich einem jungen Offizier zu, der ihren Namen rief.
«Auf bald», sagte sie. «Ich werde das elende Leben für ein paar Stunden in den Armen dieses jungen Mannes vergessen.»
Der Offizier betrachtete Minette. Er war schlank, groß, und das schwarze Haar fiel ihm in wilden Locken in die Stirn. Darunter leuchteten zwei herrliche blaue Augen.
«Bring deine Freundin mit», rief er Magdeleine zu.
«Willst du mitkommen?», fragte diese Minette.
«Nein.»
«Bring sie her», ließ der Offizier nicht locker.
«Sie will nicht.»
«Weil sie mich noch nicht aus der Nähe gesehen hat …»
Eine Faust an die Hüfte gelegt, kam er herüber, und sein unwiderstehliches, lächelndes junges Gesicht beugte sich zu Minette hinab.
«Na, was ist, kommst du mit?»
«Nein.»
«Gefalle ich dir nicht?»
«Nein.»
Sie schenkte ihm ein verführerisches Lächeln und machte sich auf den Heimweg. Ihre Kehle war trocken, und mit einem Mal schien ihr, als hätte sie die letzten Stunden durchlebt, ohne sich wirklich darüber klar zu werden, ob sie litt oder nicht. Als sie die Rue Traversière erreichte, waren die Krämerinnen zum Glück schon hineingegangen. Sie war so müde, dass sie nicht fähig gewesen wäre, mit ihnen zu reden. Nur der Maler Perrosier stand vor seiner Tür, so dreckig und betrunken wie immer.
«Komm und steh mir Modell, junge Schönheit», rief er lachend.
Sie rannte davon, öffnete die Haustür, durchquerte den vorderen Raum und ging ins Schlafzimmer. Es war leer. Sie ließ sich auf ihr Bett fallen und blieb, den Blick zur Decke gewandt, reglos liegen. Jean, Jean-Baptiste Lapointe!, schrie ihr Herz. Joseph! Joseph bei Caradeux, Joseph ein Sklave! Nein, nein, nein! «Mein Gott», flüsterte sie, «hab Erbarmen, hab doch Erbarmen mit uns.» Dann rief sie sich die jüngsten Beleidigungen in Erinnerung, mit denen die Dubuisson und Mesplès sie bedacht hatten.
Jasmine steckte den Kopf durch den Türspalt.
«Da bist du ja. Möchtest du etwas essen?»
«Trinken, Maman, gib mir etwas zu trinken, bitte.»
Jasmine reichte ihr ein großes Glas kühles Wasser. Sie stürzte es hinunter, ohne auch nur einmal Luft zu holen. Danach blieb sie im Bett, aufrecht sitzend nun, und dachte, ohne sich zu rühren, an so viele Dinge gleichzeitig, dass ihr der Kopf schmerzte. Was genau wollte sie? Nach Boucassin zurückkehren, Joseph befreien, die Weißen ohrfeigen, die sie beleidigten? Sie kämpfte, gefangen im Mahlwerk der drei unmöglichen Optionen. Schließlich vertrieb sie diese Bilder aus dem Kopf und bemühte sich, ihre Gedanken auf ein realistischeres Vorhaben zu lenken. Sollte sie sich noch länger von den Theaterleuten beleidigen lassen? Saint-Martin war tot, und er schuldete ihr die Gage für fast drei Jahre Arbeit. Sie würde das Geld einfordern, das ihr zustand, und von Mademoiselle Dubuisson und François Mesplès eine Entschuldigung verlangen. Sie rief nach ihrer Mutter.
«Lise kommt bald zurück, Maman», teilte sie ihr mit. «Monsieur Saint-Martin ist in Les Cayes gestorben.»
«Der junge Direktor, mein Gott! Und Lise ist ganz allein da unten!»
«Man wird sie dort schon nicht fressen, Maman. Ich kann ihr nicht verzeihen, dass sie nicht ein Wort darüber geschrieben hat.»
«Sie muss schon auf dem Heimweg sein, mein Gott, mein Gott …!»
Minette stand auf und begann sich auszuziehen. Sie nahm ein Bad und legte sich wieder hin. Abends kam Lise nach Hause, und sie sah so mitgenommen aus, dass Minette alle Vorwürfe vergaß und sie schweigend in die Arme nahm.
«Oh, es war entsetzlich, so entsetzlich, Minette», vertraute sie ihr an, kaum dass sie angekommen war. «Er hat sich gewehrt, er wollte nicht sterben, er klammerte sich an die Laken, an meinen Arm, an den des Arztes. Oh, das werde ich nie wieder vergessen …»
Jasmine machte ihr sogleich einen beruhigenden Kräutertee und steckte sie ins Bett.
«Oh, Maman, er war so gut zu mir, so aufmerksam. Er war wie ein Bruder, wie ein älterer Bruder, ich hätte nie gedacht, dass mich ein Weißer jemals so behandeln könnte …»
«Rede nicht mehr darüber», riet ihre Mutter.
«Aber ich werde es nie, niemals wieder vergessen können. Er wollte nicht sterben, er wollte nicht …»
Sie schluchzte, während die ersten Krämerinnen, die gesehen hatten, wie sie angekommen war, herbeieilten, um sie auszufragen und ihr gute Ratschläge zu geben. Minette hätte sie am liebsten hinausgeworfen. Sie drängten sich in dem kleinen Zimmer, redeten alle durcheinander und wiegten die mit farbenfrohen madras geschmückten Köpfe. Mitten in diesen Trubel platzte Pitchoun hinein, um zu verkünden, dass er in die Miliz120 eintreten werde.
«Bald bin ich ein Soldat in Uniform, und wenn ich dir dann ein bisschen gefalle, dann … dann …»
Sein Gestotter belustigte Minette.
«Du wirst mir bestimmt sehr gefallen.»
Da beugte er sich unvermittelt vor und küsste sie auf die Wange.
«Du närrischer Junge!», sagte sie und zerzauste ihm liebevoll das lockige Haar. «Komm und sag Lise Guten Tag. Ich muss jetzt ins Schauspielhaus. Entschuldige mich …»
Als sie auf dem Weg dorthin plötzlich mit der Stirn gegen die Füße eines Gehenkten stieß, durchfuhr sie ein solcher Schreck, dass sie spürte, wie sie wankte.
Ein farbiger Mann schwang am Ende eines Stricks. Man hatte ihm einen Sack über den Kopf gezogen, und an seinen Füßen war ein Schild befestigt. Entsetzt las Minette darauf die folgenden Worte:
«Erstickt ihre Forderungen.»
Eine Minute stand sie da, ohne einen Gedanken zu fassen, ohne auch nur die Schaulustigen zu bemerken, die sich allmählich zusammenscharten. Dann machte sie kehrt und rannte zurück nach Hause, rannte an ihrer Mutter vorbei, ohne sie anzusehen, und stürmte durch die Vordertür, wo sie mit Pitchoun zusammenprallte, der in diesem Moment herauskam.
«Was hast du, Minette?»
«Oh, lass mich.»
«Sag doch, was hast du?»
«Was soll ich dir sagen?», schrie sie ihn derart gereizt an, dass er sie verdutzt musterte. «Dass sie einen Farbigen aufgehängt haben? Weißt du nicht ebenso gut wie ich, dass solche Dinge passieren?»
Sie verbarg das Gesicht in ihren Händen.
«Minette …!»
«Ich habe kehrtgemacht, verstehst du? Ich war auf dem Weg ins Schauspielhaus, um dort das Geld einzufordern, das sie mir seit drei Jahren schulden. Ich wollte von ihnen eine Entschuldigung verlangen für ihre grundlosen Beleidigungen, ich wollte … ich wollte …»
Sie lachte auf, ein schrilles, nervöses Lachen, das so falsch klang, dass Pitchoun ihre Hände packte.
«Hör mir zu, Minette, hör mir zu …»
«Ach, lass mich doch in Frieden …»
«Ich bin kein Kind mehr, hör mir zu …»
«Lass mich, ich flehe dich an, lass mich, lass mich!»
Er ließ ihre Hände los, verließ das Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Als sie wieder zur Besinnung kam, rannte sie hinter ihm her, um ihn zurückzurufen, aber er war nirgends mehr zu sehen.
Sie setzte sich einen Moment lang und starrte reglos vor sich hin.
«Minette!», rief Lise.
Sie stand auf und öffnete die Tür zum Schlafzimmer.
«Was war das gerade mit Pitchoun?»
«Nichts», antwortete Minette.
«Du wirkst erregt.»
«Ja. Aber es ist nichts.»
Lise hatte einen kühlenden Umschlag auf der Stirn, und ihre Augen waren immer noch rot vom Weinen.
«Ich habe Hunger», stammelte sie, beinahe verschämt.
«Ich hole dir etwas zu essen. Aber ich glaube nicht, dass wir noch viel im Haus haben. Und ich habe keinen einzigen Sol. Was ist mit dir, hast du in Les Cayes etwas Geld verdient?»
«Ja», gestand sie, «aber davon musste ich meine Kostüme bezahlen.»
Minette ging hinaus und kam mit einem Stück Brot und etwas Karamellkonfekt zurück, das sie ihrer Schwester reichte.
«Das ist alles, was ich finden konnte.»
Hastig setzte Lise sich auf und machte sich gierig darüber her.
«Ich habe seit gestern nichts mehr gegessen», sagte sie, wie um sich zu entschuldigen.
Und während sie Bissen und Bissen verschlang, erzählte sie Minette von ihrem Bühnendebüt, ihren Erfolgen und Saint-Martins Tod.
«Oh, wenn du mich nur als Thérèse gesehen hättest, mit meinem bunten Caraco, meiner Pfeife und meinem gerafften Rock! Monsieur Saint-Martin spielte den Papa Simon. Es war ein großartiger Erfolg …!»121
Minette verzog spöttisch das Gesicht.
«Ich weiß, dass du die einheimischen Stücke nicht magst. Aber dieses ist entzückend, glaub mir. Das Bühnenbild zeigt Papa Simons Hütte und einen kleinen Acker, und mein Partner war ein junger Weißer, den sie leider Gottes schwarz anmalen mussten. Er sah gut aus, aber jedes Mal, wenn er mich berührte, machten seine Hände mich schmutzig …»
«Das ist einer der Gründe, weshalb ich die heimischen Stücke nicht leiden kann», sagte Minette wie zu sich selbst.
Ganz in ihre Erinnerungen versunken, setzte sich Lise im Bett auf und hielt mit einer Hand den Umschlag an ihrer Stirn fest.
«Glaubst du, ich könnte weiter auftreten? Ich würde gern nach Léogane gehen, dazu hat man mir in Les Cayes geraten.»122
«Wieso nicht?»
«Dann verlasse ich mich darauf, dass du Maman überzeugst.»
«Kannst du das nicht selbst?»
«Doch, natürlich. Aber wenn du auf meiner Seite bist, wird sie schneller einwilligen.»
«Na gut, meinetwegen.»
Minette stand auf und verrückte gedankenverloren ein paar Gegenstände auf dem hölzernen Tisch.
«Maman ist völlig mittellos, Lise», sagte sie dumpf.
«Oh. Aber du wirst bald viel Geld bekommen. Monsieur Saint-Martin hat in meiner Gegenwart einem Notar seinen letzten Willen diktiert, und er hat bestätigt, dass er dir die Gage für fast drei Jahre Arbeit schuldet.»
«Das tröstet mich. Leider sind die Kassen des Schauspielhauses leer.»
«Er hat Monsieur Mesplès geschrieben, dass er dich bezahlen soll.»
«Monsieur Mesplès! War er im Delirium?»
«Auch diesen Brief hat er in meiner Gegenwart diktiert. Er hat ihn aufgefordert, dir dein Geld zu geben.»
«Dann werde ich nie einen Sol davon sehen.»
«Wieso denn nicht?», fragte Lise arglos.
Minette antwortete nicht und verließ das Zimmer. Als sie gerade nach draußen zu ihrer Mutter gehen wollte, platzte Madame Acquaire, nach Atem ringend, herein.
«Der Gouverneur hat das Angebot von Depoix und Favart angenommen. Sie sind die neuen Direktoren. Und ihr Enthusiasmus ist genauso groß wie der des armen François …»
Sie verstummte, wischte sich über die Augen und putzte sich die Nase.
«Der arme François», wiederholte sie … «Nun, das Leben muss weitergehen … Die neuen Direktoren haben mich beauftragt, dir mitzuteilen, dass in zwei Wochen eine neue Aufführung stattfinden soll. Du wirst die Hauptrolle in dem Duett aus der Iphigenie123 singen, zusammen mit Durand, der um das Privileg gebeten hat, an deiner Seite auftreten zu dürfen. Durand bezieht eine königliche Pension, weißt du, und er hat in Frankreich beim großen Konzert der Königin124 gesungen. Man wird in den Affiches noch einmal eigens daran erinnern, um das Publikum anzulocken … Oh, mein Kind, das werden harte Proben! So viele Verse zu deklamieren, so viele Arien zu singen. Aber für dich ist das natürlich ein Kinderspiel … Nun denn, wir sehen uns morgen früh im Schauspielhaus. Bis dann. Und sei ja pünktlich.»
Sie kniff Minette in die Wange und wollte schon die Tür zum Gehen öffnen, als Minette leise sagte: «Ich werde nicht auftreten, solange ich nicht bezahlt worden bin, Madame.»
«Sag das morgen den neuen Direktoren.»
«Gut, Madame.»
Als Madame Acquaire fort war, ging Minette hinaus zu ihrer Mutter auf die Straße. Jasmine streckte den Vorübergehenden ihre Ware entgegen, und an ihrem Hals zeichneten sich die Adern ab, wenn sie ihre Stimme erhob, um durch lautes Rufen deren Aufmerksamkeit zu erregen. Wie müde sie aussieht!, dachte Minette. Entmutigt kehrte sie zurück in den Hinterhof, wo sie sich traurig unter den Orangenbaum setzte. All ihre Pläne, ihre kindlichen Träume waren verstümmelt, entwurzelt worden. Sie arbeitete hart und blieb doch so arm wie zu Beginn. So viele Abende hatte sie, statt zu schlafen, im Schein der Lampe lange Monologe auswendig gelernt, so viele Morgen neben dem Klavier gestanden, Gesangsübungen gemacht und schwierige Melodien geübt! Es wirkte so leicht. Ihr Talent verbarg selbst die größten Mühen, die sie dafür aufwandte.
«Aber für dich ist das natürlich ein Kinderspiel», hatte Madame Acquaire gesagt.
Dabei hatte sie hart gearbeitet, das wusste sie. Sie hatte schreckliche Ängste überwunden und gespürt, wie ihr vor Nervosität das Herz stehen blieb. Als Belohnung hatte sie die Ehre gehabt, einmal am Arm eines Prinzen den Ball der Weißen zu besuchen. Eine große Ehre für eine affranchie, um die man sie beneidete. Aber sie hätte gern nicht nur für Anerkennung und Ehre gearbeitet, sondern auch für ein bisschen materiellen Wohlstand. Es hätte sie stolz gemacht, ihrer Mutter ein schönes Haus zu mieten, ihr Warenangebot zu vergrößern, ihr ein paar Kleider zu kaufen. Es war nicht vernünftig gewesen, nach Arcahaie zu reisen. Doch sie spürte, dass sie von dem, was dort in dem kleinen Haus in Boucassin geschehen war, nichts zu bereuen brauchte.
Sie war kein leichtes Mädchen. Sie liebte diesen komplizierten Mann, der grausam war und so zärtlich zugleich, diese gequälte junge Seele, die verzweifelt gegen den Widerstreit heftiger Gefühle ankämpfte, hin- und hergerissen zwischen dem Drang, Rache zu üben, und Hass und dem Wunsch nach Vergebung und Liebe. Sie ahnte, dass er zur Hälfte schuldlos war an einigen seiner Taten, dass er sie beging wie jemand, der seine wahren Empfindungen unterdrückt, aus Aufschneiderei und dem Bedürfnis heraus, sich in der Welt zu behaupten. Sein inneres Aufbegehren, ein Aufbegehren, das wahrscheinlich für immer fruchtlos bleiben würde, dachte sie, verwandelte seine rechtschaffenen Gefühle in den schmerzhaften Drang, sich selbst zu zerstören. Sie erfasste noch nicht deutlich, was um sie herum dafür verantwortlich war. Aber da sie zwölf Tage Seite an Seite mit ihm gelebt hatte, wusste sie, dass er seine oftmals verwerflichen Handlungen nicht gedankenlos und nur dazu beging, sich Befriedigung zu verschaffen. Hass trieb ihn an. Ein tödlicher, alles verzehrender Hass, der seine edelsten Neigungen zu ersticken drohte. Er war innerlich zerrissen. Er wollte dies und war gezwungen, jenes zu tun. Er war ihr gegenüber so zärtlich gewesen und gegen seine Sklaven so hart und grausam. Er hasste zu sehr. Hass ist ebenso zerstörerisch wie Gift. Der Hass wappnete seinen Arm, ließ sein Herz erstarren, und Minette ahnte, dass er ihn früher oder später dazu treiben würde, sich zu rächen, und sollte es seinen eigenen Untergang bedeuten. Einen solchen Mann hatte ihr Herz gewählt. Wie sehr wünschte sie sich, sie könne ihn durch ihre Liebe retten, ihn vergessen lassen und seine Gedanken von aller Härte reinwaschen. Sie sah ihn vor sich, wie er mit gerunzelter Stirn, von seinen beiden Hunden flankiert, weit ausschritt, wie er mit zornerfüllten Gesten seine Sklaven auspeitschte. Wie gern wäre sie wieder zu ihm gereist, um in seinen Armen alles zu vergessen und zu sehen, wie seine erbitterten Züge durch ihre Küsse milde wurden!