XXIV
Goulard wurde bei dem Duell nur leicht verletzt. Am nächsten Tag erschien er bei Minette, den Arm in der Schlinge und eine Ausgabe der Zeitung in der Hand.
«Lies das», forderte er sie wütend auf.
Sie betrachtete ihn mit einem Ausdruck milden Vorwurfs.
«Wieso haben Sie sich für mich duelliert, Claude?»
«Lies das», wiederholte er ungeduldig und schleuderte ihr die Zeitung in die Arme.
Es war ein anonymer, für Minette höchst unerfreulicher Artikel. Im Zusammenhang mit dem Duett aus der Iphigenie wurde der Name der schönen Madame Marsan, einer Schauspielerin aus Cap Français, erwähnt, und der Vergleich ihrer beider Talente fiel zu Minettes Ungunsten aus. Um ihr öffentliches Ansehen zu ruinieren, rief der Verfasser seinen Lesern in gnadenlosen Worten ihre soziale Stellung in Erinnerung und behauptete, das Publikum von Port-au-Prince beweise einen schlechten Geschmack, indem es sie jener weißen Sängerin aus Cap Français vorziehe, deren Ruhm im italienischen Fach dem der Dugazon132 und der Contat133 doch gewiss in nichts nachstünde.
Der Artikel verletzte Minettes Stolz, und sie schwor sich, in Zukunft nur noch einhelliges Lob zu erringen. Das Publikum jedoch spaltete sich in zwei Lager: Die einen blieben glühende Verehrer von Minettes Kunst, während die anderen dem Artikel zustimmten und Madame Marsan favorisierten. Doch wer hatte ihn geschrieben? Mozard? Sie nahm sich vor, dieses Rätsel zu lösen.
Noch am selben Morgen brach Lise nach Léogane auf, diesmal ohne eine Träne zu vergießen. Sie würde das Publikum anlocken, indem sie es daran erinnerte, dass sie «Minettes Schwester» war. Denn was auch immer deren Feinde behaupten mochten, sie war inzwischen etabliert und unbestritten eine Berühmtheit. Im ganzen Land kannte man ihren Namen und pries ihren Gesang.
Minette schloss einen neuen Vertrag ab, keine privatschriftliche Übereinkunft diesmal, sondern in Gegenwart eines Notars, und unterzeichnete stolz mit «Mademoiselle» Minette. Trotz einiger weiterer, äußerst gehässiger anonymer Artikel strömte das Publikum in eine zu ihren Gunsten veranstaltete Weihnachtsvorstellung. Wie es sich gehörte, hatte sie sich um alles selbst gekümmert: die Auswahl der Stücke, die Verteilung der Rollen, die Kostüme, das Bühnenbild, die Inszenierung. Es war eine exzellente Aufführung, die womöglich sogar von den Anhängern der Madame Marsan beklatscht wurde.
Fast ein Jahr lang wurde sie ohne Unterbrechung in jedem Stück gefeiert, das im Theater aufgeführt wurde. Sie spielte die Hauptrollen in Blaise und Babet134, in Rosines Reisen135, in Die Dorfprobe136 und in Der Liebhaber als Statue137, einem Stück, dessen Hauptrolle Célimène bis dahin selbst für die besten Sängerinnen als gefährliche Klippe galt. An jenem Abend kletterten zwei begeisterte junge Weiße auf die Bühne und trugen sie auf ihren Schultern umher. Trotz Madame Marsan und der anonymen Artikel war sie die Königin des Theaters von Saint-Domingue, als eines Morgens Macarty angestürmt kam und ungeniert in eine Probe platzte.
«Die ‹Pariser Komödianten› sind gerade eingetroffen», rief er, und gestikulierte dabei so angstvoll, dass man hätte meinen können, das Gebäude stünde in Flammen.
«Was ist los?», rief Nelanger.
«Die Truppe von François Ribié138, sie ist hier.»
Eine Minute herrschte kopflose Panik. Hastig räumte man hinter den Kulissen auf und richtete notdürftig den kleinen Empfangssalon her, die Frauen legten Puder auf, die Männer zupften ihre Kleidung zurecht, und dann eilten alle, mit Ausnahme von Madame Tesseyre und Magdeleine Brousse, die fortgeschickt wurden, um Gläser und Rum zu besorgen, den Neuankömmlingen entgegen.
Der Direktor der Truppe, Louis-François Ribié, ein gut aussehender junger Mann mit Stentorstimme, begrüßte die Schauspieler mit kräftigen Schlägen auf den Rücken. Seine Wangen waren gerötet, und er wirkte ein wenig angeheitert. Nachdem er Minette ins Kinn gekniffen und sie «kreolische Schönheit» genannt hatte, stellte er ihr Mademoiselle Thibault vor, eine ausnehmend blonde Erscheinung im Gegensatz zur dunklen Minette. Favart stellte seine Schauspieler namentlich vor, und Ribié tat das Gleiche mit den Mitgliedern seiner Truppe. Als die Reihe an Claude Gémont kam, knuffte er den äußerst attraktiven jungen Mann in die Seite und schaute dabei in Minettes Richtung.
«Na, mein Freund, die wäre doch mal was, um deine Mätresse eifersüchtig zu machen», sagte er und brach in schallendes Gelächter aus, während Mademoiselle Thibault die Lippen zusammenkniff und Minette abschätzig musterte.
Depoix unterbrach die Vorstellungen und lud Ribiés Truppe ein, sie ins Theater zu begleiten, wo man gemeinsam auf ihr Wohl anstoßen werde.
«Das ist sehr freundlich», antwortete Ribié, «es ist heiß hier in den Tropen, und diese Hitze macht durstig.»
Auf dem Weg zum Theater machten die neuen Schauspieler keinen Hehl aus ihrem Entzücken über den prächtigen Himmel, die ungewöhnlichen Häuser und die abwechslungsreiche, farbenfrohe Kleidung der Frauen.
Als sie einer Gruppe von Sklaven begegneten, die Bretter trugen, riss Mademoiselle Thibault überrascht die Augen auf.
«Laufen die Neger hier alle nackt durch die Straßen?»
Goulard musste über diese Bemerkung lachen, und um sie zu beruhigen, versicherte er ihr, dass sie nach zwei Tagen gar nicht mehr darauf achten würde.
«Ich finde das originell», erklärte Claude Gémont, «diese nackten, schwarzen Körper erinnern mich an Afrika …»
«Gibt es hier viele von ihnen?», erkundigte sich Ribié interessiert.
«Sagen Sie es uns», antwortete Monsieur Acquaire, und sein Auge zuckte seltsam. «Es sind hundertsechzigtausend, bei vierzehntausend Weißen und zwölftausend Farbigen. Und das allein hier im Westen!»139
Ribié stieß einen kurzen Pfiff aus, wischte sich über die Stirn und sah sich um.
«Meine Güte! Wenn es irgendwann hart auf hart kommen sollte …!»
«Monsieur Ribié», ging Favart freundlich, aber bestimmt dazwischen, «wir Schauspieler vermeiden es, uns in die Politik einzumischen.»
Ribié pfiff erneut und nickte.
«Hundertsechzigtausend», wiederholte er, «und das allein im Westen …!»
Mademoiselle Thibault sorgte für Ablenkung, als sie vor einem mit Efeu überwucherten Brunnen in begeisterte Rufe ausbrach.
«Oh, Liebster, sieh nur», sagte sie und hängte sich an Claude Gémonts Arm.
Sie deutete auf eine junge affranchie mit buntem Rock und Kopftuch, deren Brüste halb entblößt waren.
«Sie ist schön», rief Ribié mit seiner ungewöhnlichen Stimme, «welcher gesellschaftlichen Schicht gehört diese junge Frau an?»
Seine Frage war an Minette gerichtet, und sie wollte schon antworten, als Goulard ihr zuvorkam.
«Das ist eine Mulattin aus der Schicht der Freigelassenen.»
Ponsard, ein Tänzer aus Ribiés Truppe, stellte sich auf die Zehenspitzen und breitete die Arme aus, als wollte er das ganze Land umarmen.
«Strahlend blauer Himmel, herrliche Natur und schöne Frauen, das ist das Paradies auf Erden!»
In höchstem Maße erregt durch den Anblick der nackten Sklavenkörper, die transparenten Mieder der Frauen, die Sonne und die gesamte Umgebung, küsste Mademoiselle Thibault Gémont mitten auf den Mund. Lachend und ein wenig verlegen erwiderte er ihre Küsse, während sein einschmeichelnder, dreister Blick Minettes Augen suchte.
Vor dem Theater angekommen, sang Ribié mit seiner schönen Stimme ein paar Takte des Figaro aus dem Barbier von Sevilla140 und legte den Arm um Minettes Taille. In dem kleinen Empfangsraum hinter den Kulissen trafen sie auf Magdeleine Brousse und Madame Tesseyre, die gerade die Gläser bereitstellten. Das erste trank man auf das Wohl der Schauspieler aus Paris und ein zweites auf das gute Gelingen der nächsten Vorstellung. Woraufhin Ribié die Flasche bei sich behielt und sie nicht mehr aus den Händen gab.
Zwei Tage später meldeten die Affiches die Ankunft der französischen Truppe und kündigten eine baldige Aufführung des Barbiers von Sevilla an, eines Stücks von Beaumarchais, das in Paris für Furore sorgte und in dem Ribié an der Seite von Mademoiselle Thibault und Mademoiselle Minette in der Rolle des Figaro zu sehen sein werde.
Bei dem bereits angekündigten Benefizabend zugunsten der Acquaires saß Ribiés Truppe im Publikum. Minettes Talent verblüffte den Pariser Direktor, und er ging hinter die Kulissen, um ihr zu gratulieren. Danach folgten Anregungen und Kritik an die Adresse der Acquaires.
«Ihrer Inszenierung mangelte es an Zusammenhalt und den Darbietungen der Schauspieler an Schwung», erklärte er. «Ich werde Ihnen helfen, es beim nächsten Mal besser zu machen. Und was die Kostüme angeht …!»
Falls er tatsächlich helfen wollte, stellte er sich dabei sehr ungeschickt an. Er brauste leicht auf, und seine Bemerkungen kränkten einige der Adressaten.
Aus Frankreich hatte er einen unfehlbaren Geschmack und langjährige Erfahrung mitgebracht, die er den heimischen Darstellern zu vermitteln suchte. Dadurch stellte er sämtliche Gewohnheiten dieser bemühten, aber doch recht beschränkten kleinen Welt auf den Kopf. Sie klammerten sich an das Vertraute, Ribié wurde wütend und beschimpfte sie als «Jahrmarktsgaukler». Er leitete persönlich die Proben zum Barbier von Sevilla. Dabei war er von einer unerbittlichen Strenge und duldete weder die kleinste Auslassung noch irgendwelche Änderungen am Text.
Im weißen Hemd, die Ärmel hochgekrempelt, gestikulierte, schrie und tobte er und ging sogar so weit, Goulard zu beleidigen, der beim Singen beharrlich die Worte in die Länge zog.
«Beaumarchais hat sein Stück doch nicht auf Kreolisch geschrieben», rief er und schwenkte die Rumflasche, die er nur selten aus der Hand legte, «mehr Schwung, mein Freund, mehr Schwung …»
Beleidigt verließ Goulard die Bühne, und erst Minette und Mademoiselle Thibault konnten ihn mit flehentlichem Bitten zur Rückkehr bewegen.
«Das ist nur zu Ihrem Besten, mein junger Freund», sagte Ribié anschließend zu ihm. «Glauben Sie denn, ich selbst hätte nicht auch solche Momente erlebt? Teufel noch eins.»
Er trank ein paar tiefe Züge Rum direkt aus der Flasche und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, dabei ließ er Magdeleine Brousse nicht aus den Augen, die halb ohnmächtig war vor Bewunderung und so verzückt, dass sie nicht einmal davor zurückschreckte, ihren neuen Liebhaber mit nach Hause zu nehmen, wenn ihr Mann ausgegangen war. Eines Tages jedoch überraschte dieser sie in einem Aufzug, der keinen Raum für Zweifel ließ. Der bedauernswerte Perückenmacher war außer sich vor Zorn, er weinte, tobte und drohte.
«Ich werde unverzüglich zum Gouverneur gehen», versicherte er der blonden Magdeleine, der ausnahmsweise die Worte fehlten, «ich werde unverzüglich zum Gouverneur gehen und ihn um die Erlaubnis bitten, Sie in ein Kloster sperren zu lassen. Ich bin es leid, von Ihnen zum Gespött gemacht zu werden. Und was Sie betrifft, Monsieur …»
Als geübter Schauspieler zog Ribié geschwind seine Kleider wieder an und verneigte sich tief vor Monsieur Brousse.
«Ich bin gerade in den Genuss Ihres guten Geschmacks gekommen, Monsieur, und dafür danke ich Ihnen», sagte er mit seiner dröhnenden Stimme.
Er war attraktiv und stark, und als besondere Marotte trug er einen goldenen Ring im linken Ohr, der ihm das Aussehen eines Banditen verlieh. Monsieur Brousse wich erschreckt zurück, und beim Anblick ihres am ganzen Leib zitternden Mannes wurde Magdeleine von einem unstillbaren Lachkrampf erfasst.
Trotz allem ging es mit den Proben gut voran, und von Anfang an erkannte Minette in Mademoiselle Thibault eine Rivalin, die ihr gewachsen war. Sie war sehr jung und sehr schön. Ihre durch jahrelangen Unterricht geschulte Stimme war klar und voll. Nachdem Ribié die beiden Frauen hatte singen hören, erklärte er, Minettes Stimme sei von Sonne durchtränkt, während die von Mademoiselle Thibault so frisch sei wie ein Morgen im April. In Spiel, Diktion und Anmut waren sie einander ebenbürtig, und Minette vertraute Claude Goulard an, dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben fürchtete, in den Schatten gestellt zu werden. Ihr Kostüm sollte schlicht und zurückhaltend sein; entgegen Madame Acquaires und Ribiés Rat verfiel sie auf den unseligen Gedanken, es mit Musselin und Spitze zu verzieren. Die Angst, von der neuen Schauspielerin überflügelt zu werden, stürzte sie in fieberhafte Erregung, und in der Nacht vor der Aufführung schlief sie sehr schlecht.
Das Stück wurde ein beispielloser Erfolg. Das Publikum feierte die Schauspieler, allen voran Ribié, Minette und Mademoiselle Thibault.
Am nächsten Morgen erschien wieder ein Artikel, diesmal unterzeichnet von Mozard. In scharfen Worten warf er Minette vor, ihre Kostüme mit unnötigem Flitterkram zu versehen, und schloss mit der Feststellung, dass sie dem Drang zu glänzen eine beglückende, authentische Darstellung geopfert habe.
Die Kritik war so berechtigt, dass sie Minettes Stolz einen herben Schlag versetzte. Ohne zu zögern, begab sie sich zu Mozard, der sie mit dem bezauberten Lächeln eines Mannes empfing, der auf den ersten Blick von seiner Besucherin eingenommen war.
«Monsieur», sagte sie und sah ihm, wie es ihre Gewohnheit war, direkt ins Gesicht, «stammt dieser schöne Satz tatsächlich von Ihnen?» Sie atmete tief ein und zitierte langsam und in gepflegter Aussprache: «Zeitungen sind die Laternen, die den Völkern Licht spenden, und die Tyrannen wollen nicht, dass die Völker erleuchtet werden.»141
«Dafür, dass Sie noch so jung sind, wissen Sie erstaunlich viel», antwortete der Journalist belustigt.
«Monsieur, Sie entmutigen mich.»
«In welcher Weise?»
«Ihr Artikel …»
«Er war nicht sonderlich boshaft, und ich sage gern, was ich denke.»
«Die früheren Artikel …»
«Die waren nicht von mir. Wie Sie ebenfalls wissen sollten, verabscheue ich die Anonymität.»
Er musterte sie aufmerksam.
«Wissen Sie», sagte er dann, «dass Sie, aus der Nähe betrachtet, nicht ganz so schön sind, aber dafür anrührender?»
Sie setzte ihre verführerischste Miene auf.
«Dann darf ich hoffen, Sie gerührt zu haben, Monsieur?»
«Na, na, na», widersprach er sofort, «keine Erpressung, lassen Sie mich gerührt sein, ohne mich gleich verführen zu wollen.»
Das wird bei ihm nicht funktionieren, dachte sie, wechselte ihre Taktik und sah ihm demonstrativ in die Augen.
«So ist es schon besser», rief er. «Sie haben nichts von einer Koketten an sich, und ich mag es nicht, wenn man versucht, mich zum Besten zu halten. Sie gefallen mir, wollen Sie heute Abend mit mir ausgehen?»
Sie sah ihn an. Er wiederum hatte nichts von einem charmanten jungen Verführer an sich. Er sah aus wie das, was er war: ein viel beschäftigter Geschäftsmann, der sich wahrscheinlich nur selten einen Ausbruch aus seiner Ehe erlaubte. Er war mit einer Frau von bescheidenen Ansprüchen verheiratet, die er wegen seiner ausgefüllten Tage nur selten sah, und seine einzigen Mußestunden verbrachte er im Theater, wo er als Journalist stets freien Eintritt hatte.142
In der Hoffnung, ihn vollends für sich zu gewinnen, nahm Minette die Einladung an.
Um Mozard zu beweisen, dass seine Vorwürfe unberechtigt waren, kleidete sie sich in einen schlichten dunklen Rock und ein Batistmieder mit gefältelten Ärmeln, die ihre Unterarme freiließen, dazu ein Brusttuch, das ihren Ausschnitt züchtig verhüllte. Er holte sie in einer sechsspännigen Kutsche ab, die Nicolette mit Kennermiene vorbeifahren sah. Beim Abschied wagten Jasmine und Joseph nicht einmal zu fragen, wohin sie ging. Der Respekt ihrer Umgebung war noch gewachsen, seit sie von den Caradeux Josephs Freilassung erwirkt hatte und man sie «Mademoiselle» nannte.
Als sie in Mozards Kutsche stieg, war sie innerlich zum Schlimmsten bereit. Jean-Baptiste Lapointe war für sie unwiederbringlich verloren. Und da sie trotz ihrer Verzweiflung weiterleben musste, beschloss sie, sich mit Leib und Seele in den Kampf zu stürzen. Sie musste Mozard dazu bringen, Madame Marsan nicht länger in den höchsten Tönen zu loben; sie musste ihn durch Liebe blenden, damit er jeden Wunsch verlor, sie, Minette, noch länger so streng zu beurteilen. Wenn es ihr gelang, die Zeitung auf ihre Seite zu ziehen, war sie gerettet.
Er führte sie in das Lokal eines einfachen Weißen, der sie mit untertänigen Verbeugungen empfing. Während des Essens ließ Mozard sie nicht aus den Augen. Als sie geendet hatten, hob er sein Glas.
«Auf Ihre Erfolge, meine Schöne», sagte er.
«Wenn Sie weiterhin auf mich einprügeln, werde ich keine Erfolge mehr haben, Monsieur», antwortete sie ohne ein Lächeln.
Sie sah ihm direkt in die Augen. Nein, niemals würde es ihr gelingen, ihn zu verführen. Sie konnte es nicht. Ganz gleich, wie gut sie als Schauspielerin auf der Bühne auch sein mochte, sie schaffte es trotz aller Bemühungen nicht, zu lächeln oder zu weinen, zu reden oder zu kokettieren, um einen Mann zu betören. Ihre Züge wurden hart. Am liebsten hätte sie Mozard einfach sitzen lassen und wäre nach Hause gegangen. Er war ein Weißer, ein Sklavenhändler, der bei seiner Zeitung keine affranchis duldete. Was saß sie hier mit diesem Feind? Ihr Blick musste sie verraten haben.
«Potztausend, das ist ja Hass in Ihren Augen», rief der Journalist.
Sie blickte nicht zu Seite.
«Sie gefallen mir», fuhr er zu ihrer Überraschung fort. «Nichts in Ihrem Verhalten erinnert an die verschlagene Art der Frauen ihres Standes, und aus der Nähe betrachtet, gewinnen Sie enorm.» Er nahm einen tiefen Schluck von seinem Wein. «Aber wieso zum Teufel beharren Sie darauf, sich in Spitze zu kleiden, wenn Sie die Rolle einer Bäuerin spielen?»
«Vielleicht, weil ich mich davor fürchte, nicht genug zu gefallen, Monsieur.»
Ihre Stimme klang so aufrichtig, dass er sich plötzlich ihrer Ängste bewusst wurde, ihres inneren Widerstreits, ihres gnadenlosen Kampfs gegen dieses launische, engstirnige Publikum, das sich früher oder später gegen sie wenden konnte. Erst in dieser Minute erkannte er, dass sie nur eine junge, vom Glück begünstigte affranchie war, die unter größten Mühen die gefahrvollen Stufen des Ruhms erklomm.
«Haben Sie keine Angst mehr», sagte er.
Er hatte ein gutmütiges, intelligentes Gesicht. Sein Verhalten ihr gegenüber war tadellos und höflich gewesen. Sie war kurz davor, ihm ihr Herz auszuschütten, ihren Hass zu vergessen und ihm zu gestehen: «Monsieur Mozard, wenn eine Weiße mich in den Schatten stellen sollte, würde ich sterben. Mein Talent ist alles, was ich habe.»
Aber sie schwieg und sagte sich, dass er das alles bereits wisse und es nicht nötig sei, dass er noch mehr Mitleid mit ihr bekam.
«Verraten Sie mir, wieso Sie eingewilligt haben, heute Abend mit mir auszugehen?», erkundigte er sich in ruppigem Ton.
«Ich wollte Sie verführen, Monsieur.»
Da brach er in dröhnendes Gelächter aus und klopfte ihr auf die Hand.
«Das ist Ihnen gelungen», versprach er.
Sie stiegen erneut in die Kutsche, wo Mozard sich ihr gegenüber genauso untadelig verhielt wie zu Beginn. Sie fuhren am Meer entlang, und er fragte sie, ob sie zum Tanzen in die Vaux-Halls gehen wolle. Sie lehnte ab. Da sagte er, er wisse, was ihr gefallen werde, und rief dem Kutscher eine Adresse zu. Er ließ sie vor einer Art Laden aussteigen, durch dessen Tür plaudernde, lachende Menschen ein und aus gingen. Als sie sah, was dort ausgestellt wurde, erkannte sie, dass es sich um ein Museum handelte. Er kaufte zwei Eintrittskarten und führte sie in einen Saal voller Wachsfiguren: die königliche Familie, umringt von ihrer Garde. Minette war hingerissen von Marie-Antoinettes Schönheit und machte Mozard darauf aufmerksam, dass sie Spitze und Schmuck genauso zu lieben schien wie sie selbst.
«Haben Sie keine Angst davor, sich mit einer Königin zu vergleichen?», fragte er.
«Oh doch, Monsieur. Aber ich bin stolz darauf, genau wie Ihre Majestät kostbare und schöne Dinge zu lieben.»
«Das ist kein Grund, meinen Rat nicht zu beherzigen», entgegnete er. «Und ich werde Sie auch nur in Ruhe lassen, wenn Sie mir gehorchen. Bekämpfen Sie Ihre Rivalinnen auf der Bühne mit den geeigneten Mitteln, und Sie werden sie besiegen.»
Dann brachte er sie nach Hause und verabschiedete sich mit einem Handkuss.
«Leben Sie wohl, junges Fräulein, ich hoffe, ich habe Sie nicht enttäuscht», sagte er mit einem seltsamen Lächeln.
«Sie waren sehr gut zu mir, Monsieur.»
Und zum ersten Mal lächelte sie ihn offen und so fröhlich an, dass er sie beinahe nicht wiedererkannte.
«Das war einer der reizendsten Abende meines Lebens, ich danke Ihnen, Monsieur.»
Sie lief davon, und Mozard, der allein zurückblieb, schüttelte den Kopf, als hinge er verborgenen Gedanken nach.