XXXIV
Am darauffolgenden Tag feierte man den Namenstag der heiligen Cäcilia. Seit dem frühen Morgen erklang das fröhliche Spiel der Glocken und rief die Gläubigen in die Kirche, wo die mit Blumensträußen überhäufte Heilige allen mit jenem Lächeln entgegenblickte, das dem von Mademoiselle de Caradeux so seltsam ähnlich sah.
An den Straßenecken boten junge Blumenverkäuferinnen den Vorübergehenden ihre Sträuße an. Nur ein paar helle Wolken zierten den strahlend blauen Himmel, der sich bis zum Horizont zog.
Bunt gekleidete affranchis standen in Gruppen zusammen. Sie redeten mit gedämpfter Stimme über den Protestzug des vergangenen Abends und fragten sich, welches Schicksal den Gefangenen wohl erwartete, als sich plötzlich herumsprach, dass er auf dem Exerzierplatz gehängt worden war. Da erreichte der Zorn der Farbigen seinen Höhepunkt. Nichts vermochte sie mehr zu bändigen. Sie scharten sich zusammen und verliehen ihrer Empörung wütend Ausdruck. Die Zeit der Angst war für sie lange vergangen. Die Demütigungen durften nicht mehr folgenlos bleiben. Ganz gleich, was danach auch geschehen mochte, auf diese Ohrfeige würden sie mit einer Ohrfeige antworten. In dem Moment kam einer von Pralotos Kanonieren vorbeigeritten, und als einer derjenigen, die so hitzig debattierten, ihn erblickte, verlor er den Kopf und streckte ihn, bevor ihn jemand daran hindern konnte, mit einem Gewehrschuss nieder.
Sofort ließen die Weißen Generalmarsch schlagen.
Soldaten und Offiziere rannten zurück in die Kaserne, und während die Gläubigen in frommem Hochgefühl die Kirche verließen und sich in den Straßen zerstreuten, wurde das fröhliche Glockenspiel zum Totengeläut.
Pétion, der bereits seinen Kommandoposten eingenommen hatte, sah Monsieur de Caradeux an der Spitze seiner Männer auf den Platz marschieren.
«Schießt diese Festung nieder», schrie Caradeux Pralotos Männern zu, und deutete auf die Mauer des Gouverneurspalasts, wo Pétion Stellung bezogen hatte.
Dieser streichelte seine Kanone.
«Schau, meine ‹Gefräßige›»,176 sagte er, «da kommt ein Leckerbissen für dich.»
Und sogleich erwiderte er Pralotos Kanonenfeuer.
Der Kampf wurde so heftig geführt, dass das Geschütz glühend heiß wurde.
Pétion sah sich nach Wasser um. Die Eimer waren leer, und der Brunnen lag genau vor Praloto.
«Ein mutiger Mann», schrie er, «ich brauche einen mutigen Mann.»
Pons griff nach den Eimern und rannte zum Brunnen. Die Kugeln flogen so dicht an ihm vorbei, dass er sich mehrmals getroffen glaubte. Nachdem er die Eimer gefüllt hatte, musste er erneut die Straße überqueren. Wie sollte er mit diesen Gewichten an den Armen rennen?
Er entging dem Tod so knapp, dass er sich, kaum hatte er Pétion erreicht, mit den vollen Eimern in den Händen auf die Kanone sinken ließ.
«Sie haben dich verfehlt, es sind schlechte Schützen», sagte Pétion und umarmte ihn.
Als er feststellte, dass er auch von den Regimentern aus dem Artois und der Normandie angegriffen wurde, rief er: «Wir brauchen Hilfe, wir brauchen Hilfe, alarmiert Beauvais’ Lager.»
Wie aus heiterem Himmel erschien die ersehnte Hilfe in Gestalt von Jean-Baptiste Lapointe. An der Spitze seiner Männer stürmte er auf den Exerzierplatz, wo Pralotos Soldaten überrascht das Feuer einstellten.
Umringt von seinen Männern verbreitete Lapointe Panik unter den auf dem Platz postierten Weißen. Während ihm die Kugeln um die Ohren pfiffen, drang er in das Magistratsgebäude ein, holte das Register mit den gegen die affranchis ergangenen Urteilen heraus, und verbrannte es auf offener Straße.177 Dann zückte er sein Messer und begann wie von Sinnen, mit blitzenden Augen und einem grausamen Lächeln um die Mundwinkel, Weiße abzustechen.
Bald verwandelte sich der Kampf zwischen seinen Männern und den französischen Soldaten in ein gewaltiges Handgemenge.
Nach zwei Stunden ging Pétion die Munition aus.
«Guter Gott, du hast schon alles verputzt, meine Gefräßige», bemerkte er. «Bringt mir Steine, los, bringt mir Steine …!»
Als Beauvais und Lambert erkannten, dass das Feuer stockte, befahlen sie den Rückzug nach Croix des Bouquets178. Die Verletzten nahmen sie mit. Zwanzig getötete affranchis blieben auf dem Pflaster zurück. Die Weißen hatten hundert ihrer Soldaten verloren, darunter auch Hauptmann Desroches.
Plötzlich brach in Bel-Air ein Feuer aus. Angesteckt von Abenteurern in Diensten einiger Pflanzer, denen daran gelegen war, Zwietracht und Chaos noch zu steigern, breitete es sich rasch aus. Statt zu versuchen, es zu löschen, machten die Weißen Jagd auf die affranchis. Wer es nicht mehr geschafft hatte, Beauvais’ Truppen zu folgen, wurde umgebracht: Frauen, Männer und Kinder. Häuser wurden aufgebrochen und geplündert, ihre Bewohner niedergemetzelt. Überall erklangen Schreie und Gebrüll. Aus Angst vor den bewaffneten Weißen ließen die Farbigen ihre Häuser im Stich und flohen. Frauen lagen auf Knien und flehten die heilige Cäcilia um Beistand an.
Panik erfasste die Bewohner der Rue Traversière. Lise und der kleine Jean waren völlig verängstigt, und weinend drückte Jasmine sie an ihre Schulter.
Da platzte Nicolette herein.
«Ihr müsst hier weg», schrie sie, «die Weißen töten die Leute in ihren eigenen Häusern.»
Hastig packten Minette und Jasmine etwas Wäsche zusammen.
Mit Säbeln und Gewehren bewaffnet, näherte sich eine brüllende Horde vom Schauspielhaus her.
«Mein Gott», flüsterte Jasmine, die spürte, wie die alte Angst wieder von ihr Besitz ergriff, «hab zumindest Erbarmen mit den Jungen.»
«Sei still, Maman», flehte Minette leise, «sonst verlieren wir vor Angst noch den Kopf.»
Jäh tauchte ein großer schwarzer Körper aus dem Schatten auf: Es war Scipion.
«Ihr müsst fliehen, Mesdames», sagte er, «die Weißen kommen.»
Doch ihnen blieb keine Zeit, das Haus zu verlassen. Sechs mit Gewehren bewaffnete Weiße stürmten in das vordere Zimmer. Scipion schnitt zweien von ihnen sofort die Kehle durch. Dann packte er ihre Waffen und warf eine davon Minette zu, während er gleichzeitig einem Weißen, der auf Lise schießen wollte, den Schädel einschlug.
«Benutze deine Waffe, Demoiselle», rief er Minette zu.
Sie legte das Gewehr an und zielte auf einen der Angreifer. Er brach zusammen. Der kleine Jean schrie, Jasmine versteckte ihn im hinteren Zimmer und kehrte mit einer Eisenstange bewaffnet zurück, mit der sie einen der Mörder bedrohte. Nicolette ließ von der weinenden Lise ab und stürzte sich ebenfalls in den Kampf. Sie sprang einen der Mordgesellen von hinten an und drückte ihm wie eine Furie die Finger in die Augen. Ein Schuss löste sich, traf jedoch niemanden. Mit einem Fußtritt hatte Scipion Jasmines Gegner entwaffnet. Er hob das Gewehr auf und zerbrach es auf dem Kopf eines Weißen. Minette versuchte ein zweites Mal zu schießen, doch in ihrem Gewehr waren keine Kugeln mehr. Da rannte sie in das hintere Zimmer und kam mit einem Messer zurück. Für den Bruchteil einer Sekunde betrachtete sie die Waffe, dann stieß sie sie einem der Weißen mit glühenden Augen und verzerrten Lippen mit aller Kraft in den Leib. Die Waffe blieb im Körper des Mannes stecken, und er fiel ohne einen Schrei zusammengekrümmt zu Boden. Nicolette biss, kratzte, wich den Kugeln aus. Scipion packte ihren Gegner und zerschmetterte seinen Kopf an der Wand. Minette sah auf ihre Füße hinab: Sie stand in einem Meer aus Blut. Das ganze Zimmer lag voller Leichen. Jasmine holte den kleinen Jean, und sie rannten hinaus auf die Straße, wo die unglücklichen Flüchtenden, halb wahnsinnig vor Angst, auf der Stelle traten und in dem Gedränge keinen Schritt vorwärtskamen.
«Heilige Cäcilia, steh uns bei», murmelte Jasmine und bekreuzigte sich. Dann fuhr sie mit erhobener Stimme fort: «Unsere Seele empfehlen wir Jesus Christus, unserem Herrn, möge er unsere Leiden erkennen und uns in unserer letzten Stunde zu sich nehmen.»
«Hör auf zu beten, Maman, ich bitte dich, ich habe Angst, ich habe so große Angst zu sterben …»
Stöhnend klammerte sich Lise an ihre Mutter.
Sie gingen ein paar Schritte, bevor sie in der Menge stecken blieben.
«Los, geht weiter, macht die Straße frei, oder wollte ihr etwa hier sterben?», brüllte jemand.
«Wir können nicht weiter, die Weißen lauern uns am anderen Ende der Straße auf.»
«Dann sind wir umzingelt.»
Minette wandte den Kopf und sah plötzlich Flammen. Um sie herum brannten die Häuser. Glühende Hitze überfiel die Fliehenden, und ein schauerlicher Lichtschein färbte die Umgebung rot. Frauen und Kinder wurden ohnmächtig: Die Menge trampelte einfach über sie hinweg. Andere, die versuchten, das Gedränge zu durchqueren, um auf die andere Seite zu gelangen, wurden zerquetscht und erstickten. Man bekam kaum noch Luft.
In der Ferne bellte wie von Sinnen ein Hund.
«Geht weiter, so geht doch weiter, bei Gott …»
Die Feuersbrunst nahm unvorstellbare Ausmaße an. Vier Pumpen wurden von den Schiffen gebracht: Sie verbrannten innerhalb kürzester Zeit.
Plötzlich fielen Schüsse, aus nächster Nähe wurde auf die Menge geschossen. An die zwanzig Menschen brachen zusammen. Leichen, aus denen die Gedärme quollen, blieben auf der Straße liegen und wurden zertrampelt; wer nur verletzt worden war, versuchte stöhnend, die Füße abzuwehren, die auf ihn eintraten, und einige von ihnen starben unter diesen letzten Qualen.
Jasmine hielt Lise und den kleinen Jean fest an sich gedrückt, während Minette, von Scipion beschützt, vor ihnen herging. Nervenaufreibend langsam schob sich die Menge Schritt für Schritt vorwärts, während die Häuser ringsum lichterloh brannten. Von Norden und Süden kommend, erfasste das Feuer schließlich die beiden Häuserblocks um das Schauspielhaus und die große Uhr179. In diesem Moment verwandelte sich die Stadt in ein einziges Flammenmeer. Mit trockener Kehle und brennenden Augen drehte sich Minette nach Jasmine um. Sie sah, wie sie Lise und den kleinen Jean dicht an ihrer Seite hielt. Hinter ihnen kämpfte sich Nicolette unter Tränen durch das Gewühl. Plötzlich fiel eine Horde Dämonen in blutbesudelter Kleidung über die Bewohner der Rue Traversière her. Ein stiernackiger Weißer packte Nicolette und stieß ihr seine Waffe in den Rücken. Sie sackte neben Jasmine zusammen, die Lise und den Kleinen an sich riss.
«Seid ihr alle da? Maman, Maman?», rief Minette.
Sie schrie vor Entsetzen auf und wollte losrennen.
«Maman, Maman … Lise …»
Jasmine schwankte. Ein Weißer zog ein Messer aus ihrem Herzen und stieß es gleich darauf Lise in den Rücken. Der kleine Jean fiel aus Jasmines kraftlosen Armen. Minette riss sich aus Scipions Händen los und versuchte verzweifelt, das Kind zu erreichen. Doch sie kam nicht von der Stelle. Mit ausgestreckten Armen rief sie seinen Namen. Ein Weißer drehte sich um: Mit der einen Hand packte er den Hals des Kindes und erwürgte es, mit der anderen warf er einen Dolch und traf Minette in die Brust.
Scipion zog sie hastig weg und presste sie an sich.
«Bleib hier, Demoiselle, geh nicht weg von mir.»
Sie wollte etwas sagen, doch ein Strom von Blut quoll aus ihrem Mund. Sie sah zurück zu den eng umschlungenen Leichen von Jasmine und Lise. Ein Schluchzen stieg aus ihrer Kehle auf, zusammen mit einem zweiten Schwall Blut.
«Hab keine Angst, Demoiselle, eines Tages wirst du auf ihrem Grab beten können.»
Dann hob er sie hoch und trug sie mit seinen starken Armen über den Köpfen der Menge. Sie regte sich nicht mehr, sie hatte das Bewusstsein verloren.
Sobald Lapointe das Feuer bemerkte, hörte er auf zu kämpfen. Er rannte los, weg vom Platz, in der einen Hand sein Gewehr, in der anderen einen Dolch. Ein zerlumpter, einäugiger Weißer versperrte ihm drohend den Weg. Er schoss ihn nieder. Beim Schauspielhaus, unmittelbar an der Ecke zur Rue Traversière, machten etwa fünfzig bewaffnete Weiße Jagd auf die in der schmalen Straße zusammengepferchten Farbigen.
«Minette!», rief er.
Seine Stimme verhallte in einem Tumult aus Schluchzen, Schreien und wütendem Gebrüll.
Im Laufschritt bahnte er sich einen Weg durch den rasenden weißen Pöbel.
«Da ist einer von ihnen, erledigt ihn!»
Er bückte sich gerade noch rechtzeitig, um den vorbeizischenden Kugeln auszuweichen, und erreichte die letzte Reihe der affranchis, die in Richtung der Quais drängten.
Über der dichten Menge hielten zwei kräftige schwarze Arme eine Frau in die Höhe. Er erkannte Minette. Vor Erleichterung entspannten sich seine Züge.
«Minette!», rief er wieder.
Doch trotz aller Bemühungen kam er keinen Schritt weiter. Er stand neben einem Berg von Leichen, unter ihnen auch Lise, Jasmine und der kleine Jean. Er machte kehrt, und da in diesem Moment die Weißen kamen, versteckte er sich in den Trümmern eines noch rauchenden Hauses und erschoss mehr als ein Dutzend von ihnen.
Endlich aus der engen Gasse befreit, rannten die Fliehenden in wilder Auflösung zum Hafen. Frauen stießen verängstigte Kinder vor sich her, andere wandten sich in Richtung der Kaserne, wo die Soldaten aus dem Artois und der Normandie sie aufnahmen, um sie zu beschützen und die Verletzten zu versorgen … Scipion folgte ihnen, die ohnmächtige Minette noch immer in den Armen.
Am nächsten Morgen waren fünfhundert Häuser und Läden niedergebrannt. In den mit Blut und zerfetzten Kleidern bedeckten Straßen lagen Tote und Verletzte. Hunderte Kinder und Frauen, die sich in den Mangroven verfangen hatten und ertrunken waren, kamen aufgedunsen wieder an die Oberfläche und trieben im Hafen …180
Joseph, Pétion und die übrigen affranchis hatten ihre Kräfte in der Cul-de-Sac-Ebene zusammengezogen und sich den Namen «Konföderierte von Croix des Bouquets» gegeben. Sie wollten gerade einige Männer losschicken, um sich nach Neuigkeiten zu erkundigen, als die Soldaten der Regimenter aus dem Artois und der Normandie eintrafen, die die Flüchtlinge aus der Stadt zu ihnen brachten. Unter ihnen befanden sich auch Minette, Zoé und Louise Rasteau.
Zoé, die ebenfalls ihre Eltern verloren hatte, hielt Lambert eng umschlungen, als sie ihm davon erzählte. Erschüttert hörten Joseph, Pétion und all die anderen Männer aus Beauvais’ Armee von den schrecklichen Ereignissen. Doch dann erwachte ihr Zorn, schlimmer als zuvor. Nachdem die Konföderierten von Croix des Bouquets Rache geschworen hatten, riefen sie die unter dem Befehl von André Rigaud stehenden Truppen des Südens zu Hilfe und schnitten die Wasserzufuhr nach Port-au-Prince ab.181 Ohne Essen und Trinken irrten die Bewohner der Stadt, von Rigauds und Beauvais’ Truppen eingeschlossen, tagelang wie ausgehungerte Tiere durch die Straßen.