XXVII
Mademoiselle Noël sollte in Kürze nach Cap Français zurückkehren, und Monsieur Acquaire beschloss, ein weiteres Mal Der Liebhaber als Statue aufführen zu lassen. Leider war die Darstellerin kapriziös, sie spielte weniger gut, und da das Publikum von derjenigen, die Minette verdrängt hatte, mehr verlangte, als sie zu leisten vermochte, missfiel ihre Darbietung, und sie wurde ausgepfiffen. Laute Rufe übertönten ihre Stimme: «Wir wollen Mademoiselle Minette, wir wollen Mademoiselle Minette.» Es war ein tüchtiger Skandal und ein neuerlicher Sieg, den Minette bedauerlicherweise nicht miterlebte. Der kleine Jean war krank, und sie war zu Hause geblieben, um ihn zu pflegen, nachdem die herbeigerufene Heilerin des Viertels ihm ein Abführmittel und verschiedene Kräutertees verordnet hatte.
Noch in derselben Nacht klopfte Goulard, außer sich vor Freude, an ihre Tür, um ihr von Mademoiselle Noëls Niederlage zu berichten.
«Die Götter sind auf deiner Seite, denn diese Schauspielerin verfügt tatsächlich über ein bemerkenswertes Talent», sagte er.
«Was ist denn passiert?»
«Sie hat sich einige Freiheiten erlaubt, und unser Publikum ist anspruchsvoll, wie du weißt. Die jungen Leute haben einen ohrenbetäubenden Lärm veranstaltet und lautstark nach dir verlangt.»
«Mein Gott!»
«Kommst du zurück ans Theater, Minette?»
«Aber ja, ich denke schon.»
Vor Freude fiel sie Goulard um den Hals und gab ihm einen Kuss. Er hielt sie an sich gedrückt.
«Ist dein Herz inzwischen geheilt?»
«Ach, Claude, Claude …»
«Ich liebe dich, Minette.»
«Ich weiß.»
«Wann wirst du endlich nicht mehr ‹Ich weiß› antworten, sondern ‹Ich dich auch›?»
«Ich würde viel darum geben …»
«Ach, schweig, schweig.»
Beinahe grob stieß er sie von sich und lief davon.
Früh am nächsten Morgen kam Monsieur Acquaire und erzählte ihr, was am Abend zuvor im Schauspielhaus geschehen war.
«Mademoiselle Noël reist noch heute Vormittag zurück nach Cap Français. Das Schauspielhaus erwartet dich, Minette.»
Er beabsichtigte, sie diesem treulosen Publikum, das wieder einmal nach ihr verlangt hatte, als strahlende Siegerin zu präsentieren. Er hatte sein eigenes Stück fertig geschrieben: Die Mulattin Arlequin oder Rettung durch Makandal148, und hoffte, Lise darin auftreten lassen zu können. Minettes jüngster Triumph machte ihn kühn; nachdem er sie selbst am Schauspielhaus lanciert hatte, plante er nun, weitere farbige Künstler auf die Bühne zu holen. Ein Brief von Madame Acquaire rief Lise zurück. Begeistert von der Vorstellung, im Schauspielhaus von Port-au-Prince gefeiert zu werden, machte sie sich unverzüglich auf den Weg und brachte einen jungen griffe namens Julien, in den sie sich verliebt hatte, und ein paar weiße Schauspieler mit.
Dieser Julien sah gut aus, hatte eine schöne Stimme und spielte Geige. Von Minette ermutigt, engagierte Monsieur Acquaire ihn vom Fleck weg für sein kreolisches Stück, in dem er an der Seite von Lise auftreten sollte. Das Festprogramm dieser Woche war bunt gemischt und sehr vielversprechend.
Vor Kurzem waren englische Kunstreiter eingetroffen und errichteten ihr Lager auf einem eingezäunten Bereich in der Nähe der Königlichen Gärten. Überall war die Rede von den Kunststücken, die sie auf dem Rücken galoppierender Pferde vollführten. Zudem hatte der Magistrat ein Feuerwerk zu Ehren des Königs angekündigt, und in den Vaux-Halls wurden wie üblich Bälle für Weiße und Farbige veranstaltet. Das Publikum hatte also die Qual der Wahl auch ohne die anstehende Theatervorführung, die nach dem Willen von Monsieur Acquaire «eine ganz besondere Sensation» werden sollte.
In den Affiches wurden Die Mulattin Arlequin oder Rettung durch Makandal, ein neuartiges indianisches Ballett, und Der Liebhaber in der Klemme, ein musikalisches Lustspiel von d’Aleyrac,149 mit Minette in einer Hauptrolle angekündigt. Monsieur Acquaire setzte große Hoffnungen in Lises Jugend und ihr Talent, um sein kreolisches Stück zu einem Erfolg zu machen. Außerdem würde er beweisen, dass man für die Aufführung dieser Volkskomödien in Zukunft weitere schwarze Darsteller auf die Bühne holen müsse, statt wie bisher Weiße mit rußgeschwärzten Gesichtern auftreten zu lassen. Wie schon bei Minettes Debüt begannen die Proben zu dem kreolischen Stück hinter dem Rücken der Aktionäre. Madame Marsan wurde in jenen Tagen in Die schöne Arsene gefeiert. Daraufhin ließ Minette das Programm ändern, und so verkündeten die Affiches im letzten Moment ihre Rückkehr auf die Bühne in ebendieser Rolle aus Die schöne Arsene. Das Publikum begeisterte sich für den Wettstreit, und die Anhänger der beiden Sängerinnen setzten aberwitzige Summen auf den Sieg ihrer jeweiligen Favoritin.
Die allgemeine Erregung erreichte ihren Höhepunkt, als bekannt wurde, dass Madame Marsan in Port-au-Prince eingetroffen war. Bei dieser Nachricht schien ein Hauch von Wahnsinn das Theater zu erfassen. Minette brach vor nervlicher Anspannung mitten in einer Probe in Tränen aus, und Monsieur Acquaire, dessen Tick die Sache nicht besser machte, griff, um die Nervosität seiner Untergebenen zu bezähmen, zu den despotischen Methoden von François Ribié. Während einer besonders stürmischen Sitzung unterbrach Durand die gegenseitigen Vorwürfe, Tränen und Proteste und forderte das Wort.
«Ich will euch eines sagen», erklärte er mit seiner schönen, ruhigen Stimme und in seiner perfekten Diktion, «entweder ihr alle, wie ihr hier steht, beruhigt euch endlich, oder Madame Marsan wird in ihrer Loge sitzen und euch genüsslich beim Scheitern zusehen. Und was dich angeht, Minette, wenn du es nicht schaffst, dich zusammenzureißen, wird deine Rivalin als Siegerin nach Cap Français zurückkehren …»
Diese klugen Worte wirkten wie eine kalte Dusche. Monsieur Acquaire, der selbst zu nervös war, um die anderen zur Ordnung zu rufen, machte sie sich zunutze, indem er Durand zu seiner Unterstützung heranzog, was sich als ausgesprochen hilfreich erwies.
Minette ließ sich von Jasmine beruhigende Kräutertees zubereiten, und von da an verliefen die Proben ruhig und in gesittetem Rahmen. Es wurde auch höchste Zeit, denn der Tag der Aufführung rückte näher und die ersten unbezahlten Abonnements wurden beglichen, da niemand diesen außergewöhnlichen Abend verpassen wollte.
«Madame Marsan ist gekommen, um Minette spielen zu sehen.»
Dieses Gerücht war in aller Munde.
Madame Marsan war im Goldenen Löwen abgestiegen und lebte dort völlig zurückgezogen. Niemandem gelang es, einen Blick auf sie zu erhaschen. Am Abend der Vorstellung mussten trotz der englischen Kunstreiter, trotz des Feuerwerks, trotz der Vaux-Halls und ihrer mitreißenden Musik eigens Truppen angefordert werden, um die riesige Menschenmenge in Schach zu halten, die vor dem Theater um Einlass kämpfte.
Fünf Minuten bevor sich der Vorhang hob, erschien die weiße Schauspielerin in einer eigens für sie reservierten Loge nahe bei der des Gouverneurs. Schön, gelassen, lächelnd nahm sie in einer prächtigen, mit Edelsteinen verzierten Robe den Applaus der begeisterten Menge entgegen. Als Minette den tosenden Beifall hörte, wurde sie wie bei ihrem allerersten Auftritt von kopfloser Panik erfasst. Sie klammerte sich an Goulard wie an einen Rettungsring.
«Komm schon, du musst dich beruhigen. Ich habe vollstes Vertrauen zu dir», sagte er und streichelte ihr über das Haar.
Selbst Monsieur Mesplès ließ an diesem Abend seine abwehrende Haltung fallen. Minette sah in ihrem Kostüm hinreißend schön aus, und als er an ihr vorbeikam, musterte er sie von Kopf bis Fuß.
«Vergiss nicht, dass die Ehre des gesamten Schauspielhauses auf dem Spiel steht», sagte er beinahe widerstrebend.
Diese Gelegenheit ließ sie sich nicht entgehen und sah dem Wucherer fest in die Augen.
«Soll das etwa heißen, dass seine Ehre von mir abhängt, Monsieur?»
«Es scheint so», gab sich der Weiße geschlagen.
Sie lächelte. Ein warmes Gefühl des Stolzes strömte sanft und wie belebend in ihr Herz. Sie atmete tief ein.
Macarty trat vor den geschlossenen Vorhang, um, begleitet von seinen üblichen Possen, einige Willkommensworte an den Gouverneur zu richten und das Publikum um Nachsicht und Wohlwollen zu bitten. Dann gab er ein Flötensolo zum Besten, welches Nelanger unterbrach, indem er mit seiner Gitarre auf die Bühne trat. Sie ernteten großen Applaus. Als sie hinter die Kulissen zurückkamen, waren Lise und ihr junger griffe bereit für die Aufführung von Die Mulattin Arlequin oder Rettung durch Makandal.
Dass das Stück nicht ausgepfiffen wurde, verdankte Monsieur Acquaire allein dem Talent von Lise und ihrem Gefährten. Letzterer erregte großes Aufsehen. Es war das erste Mal, dass eine Person mit derart dunkler Haut auf der Bühne des Schauspielhauses stand. Das Publikum fand diesen Einfall originell und bejubelte ihn ebenso wie das Talent der beiden jungen Farbigen. Monsieur und Madame Acquaire fielen einander überglücklich in die Arme und drehten dem verdutzten Monsieur Mesplès sogar eine lange Nase.
Endlich öffnete sich der Vorhang vor dem Bühnenbild von Die schöne Arsene. Als Minette die Bühne betrat, beugte sich die weiße Sängerin für eine Sekunde unwillkürlich aus ihrer Loge.
Bei den ersten Noten hob sie den Kopf und legte die Hände aneinander, als lauschte sie aufmerksam. Diese Haltung bewahrte sie bis zum Ende der Ariette, der sie, gemeinsam mit dem begeisterten Publikum, stehend applaudierte. Dann verließ sie eilends ihre Loge. Man glaubte, sie sei gegangen, und applaudierte Minette nur umso lauter. Der Vorhang hatte sich gesenkt. Als er sich zum vierten Mal wieder hob, gab er den Blick auf Minette und Madame Marsan frei, die einander umarmten und küssten. Die Begeisterung des Publikums kannte keine Grenzen mehr. Ein paar junge Männer versuchten, wie Akrobaten auf die Bühne zu klettern, und wurden von den Wachen rüde zur Ordnung gerufen. Zwei unbesonnene Narren waren auf ihre Stühle gestiegen und bedrohten einander mit dem Degen, während eine Frau sie gestikulierend anherrschte: «Wollt ihr wohl auf die Zuschauer achten! Los, verschwindet und duelliert euch anderswo.» Durch ihre Geste hatte die weiße Schauspielerin Minettes Talent aufrichtigen, inbrünstigen Respekt gezollt. Acquaire stürzte zum Orchester, das einige Akkorde spielte. Es wurde wieder still. Die Geige spielte den Auftakt, und gemeinsam erhoben sich die Stimmen der beiden Künstlerinnen. Dann verstummte Minette, und Madame Marsan beendete die Ariette allein. Auch ihre Stimme war erstaunlich klar und voll. Weder Mademoiselle Dubuisson noch Mademoiselle Thibault oder Mademoiselle Noël verfügten über dieses Timbre. Das erkannte auch Minette, und in ihrer Freude darüber, sich selbst in dieser weißen Sängerin, dem Idol von Cap Français, so vollendet wiederzufinden, fiel sie ihr weinend in die Arme. Vor diesem letzten Bild senkte sich der Vorhang zu Boden.
Acht Tage lang berichtete die Zeitung ununterbrochen über diesen Abend. Minette und Madame Marsan wurden einhellig gepriesen, und kein alberner Vergleich trat mehr zwischen die beiden Künstlerinnen, die im Namen der alle Gesetze überwindenden Kunst Seite an Seite auf demselben Podest thronten.
Obwohl auch das Talent der farbigen Darsteller gelobt wurde, die zum ersten Mal auf der Bühne des Schauspielhauses gestanden hatten, versäumte es der Verfasser eines Zeitungsartikels nicht, diejenigen zu warnen, die für die Wahrung der öffentlichen Ordnung verantwortlich waren: «Sollen wir in Zukunft etwa von solchen Leuten überrannt werden?», beschwerte er sich. «Man möge sich damit begnügen, ein Talent wie das der Demoiselle Minette zu fördern und ihr den Vorzug zu geben, verschone uns aber mit dieser Horde mittelmäßig begabter affranchis.» Die Bemerkung war ungerecht. Auch Lise und sogar Julien verdienten es, gelobt und ermutigt zu werden. Doch Monsieur Acquaire wagte keinen Einspruch und riet den beiden nachdrücklich, Port-au-Prince zu verlassen und sich erneut auf eine Gastspielreise durch weniger strenge Städte zu begeben.
Seit Hauptmann Desroches Minette auf der Bühne gesehen hatte, war er aufrichtig in sie verliebt und machte ihr eifrig den Hof. Sie erhielt von ihm Liebesbriefe, Blumensträuße, Verse und Madrigale150.
Er war ein begabter Dichter, und Minette war ihm dankbar. Daher willigte sie ein, an Fest- und Feiertagen mit ihm spazieren zu gehen. Der eifersüchtige Goulard machte ihr deswegen eine Szene.
«Dann ziehst du es also vor, diesen betressten Grünschnabel zu lieben, ja?»
«Ich ziehe es vor, niemanden zu lieben.»
«Du schwimmst mit dem Strom, meine Kleine, und Mädchen wie Nicolette und Tausendlieb reißen dich mit. Was habe ich denn bloß? Was ist falsch an mir, dass du mich nicht auch lieben kannst?»
«Ich werde nie wieder lieben.»
Er starrte sie gereizt an.
«Du übertreibst.»
«Ich kann nichts dafür.»
«Natürlich. Jeder nach seinem Naturell.»
So weit waren sie in ihrem Wortwechsel gekommen, als die Tür geöffnet wurde und ein junger Soldat eintrat. Minette sah ihn einen Moment an, ohne ihn zu erkennen.
«Pitchoun!», rief sie schließlich.
Der Soldat trat einen Schritt zurück, hob eine Hand an seine Mütze und schlug geräuschvoll die Hacken zusammen.
«Soldat Alexandre Pétion151», verkündete er lächelnd.
Minette fiel ihm in die Arme.
«Wie kommst du denn zu dem Namen?»
Er war mittelgroß, aber gut gebaut. Dichte, schwarze Locken fielen ihm in die intelligente Stirn, die zur Hälfte von seiner Mütze verdeckt war. Die Uniform aus blauem Nankingstoff schmeichelte seinem kupferfarbenen Teint und betonte die robuste Eleganz seiner Taille und Gliedmaßen.
«Mein Gott, was für einen prächtigen Soldaten du abgibst!», rief Minette, halb belustigt.
Diese freimütige Reaktion bewies ihm, dass sie ihn weiterhin als einen jüngeren Bruder betrachtete.
«Nun, waren es harte Jahre in der Kaserne, junger Mann?», erkundigte sich Goulard.
«Weder ja noch nein, Monsieur», antwortete der Soldat. «Die Artillerie fasziniert mich, und ich liebe meinen Beruf.»
Nicolette, die gesehen hatte, wie er Jasmines Haus betrat, kam herbeigelaufen, Tausendlieb dicht auf ihren Fersen. Kokett flatterten sie um ihn herum, und als sie ihn Pitchoun nannten, schlug er die Hacken zusammen und stellte sich ein zweites Mal unter dem Namen vor, den er für sich gewählt hatte.
«Alexandre Pétion, was für ein schöner Name!», säuselte Nicolette mit bewundernden Blicken.
«Ein großer Name», ergänzte Goulard. «Sag mir, Junge, hattest du den König von Makedonien im Sinn, als du ihn ausgewählt hast?»
«Nein, Monsieur», antwortete er schlicht. «Madame Guiole hat mir geraten, diesen Namen anzunehmen, sie meinte, er passe gut zu mir.»
Statt mit Hauptmann Desroches ging Minette von nun an mit Pitchoun spazieren. Gemeinsam besuchten sie die Vorstellung französischer Voltigeure, applaudierten lachend den Kunststücken der Pferde und tanzten auf den Bällen der Farbigen in den Vaux-Halls.
In mondänen Kreisen redete man in jener Zeit ebenso viel über Die schöne Héloïse wie über Margot, die Flickschusterin,152 und die Mode verlangte, dass eine Frau anmutig in den Armen eines Kavaliers in Ohnmacht zu fallen verstünde.
So fielen die Damen seit einigen Tagen höchst anmutig im Haus eines Scharlatans namens Rosaldo in Ohnmacht, der sich mit den okkulten Wissenschaften beschäftigte und den die Damen in Begleitung aufsuchten, um sich die Zukunft vorhersagen zu lassen.
Eines Morgens kam Nicolette aufgeregt zu Minette und berichtete ihr von den Weissagungen des berühmten Erleuchteten.
«Er hat zu mir gesagt: ‹Du wirst eines gewaltsamen Todes sterben›», vertraute sie ihrer Freundin erschauernd an, «und zu Tausendlieb hat er von ihrer Vergangenheit gesprochen und gesagt, dass ein Mann aus Liebe zu ihr gestorben sei. Und das stimmt.»
«Und was hat er vorausgesagt, wie sie sterben soll?», fragte Minette spöttisch.
«Eines gewaltsamen Todes», antwortete Nicolette voller Entsetzen.
«Dieser Erleuchtete mag es dramatisch», entgegnete Minette lachend.
Doch nachdem Nicolette wieder gegangen war, ließ sie der Gedanke nicht mehr los. Ihre abergläubische Seite gewann die Oberhand, und sie beschloss, den Erleuchteten mit Pitchoun zusammen aufzusuchen.
Sie betraten einen Raum, in dem bereits einige Damen in Begleitung ihrer Kavaliere warteten. Die Tür zu einem Nebenzimmer wurde geöffnet, und heraus kam ein Mann, der eine ohnmächtige junge Frau in den Armen trug. Minette und Pitchoun wechselten einen verdutzten Blick. Was erzählte der Erleuchtete seinen Kundinnen, dass es sie in einen solchen Zustand versetzte?
«Sollen wir reingehen?», flüsterte Pitchoun. «Oder hast du Angst?»
Sie schüttelte den Kopf.
Eine zweite Frau kam schluchzend durch die Tür. Um eine Ohnmacht zu verhindern, hielt ihr Kavalier ihr ein Fläschchen Riechsalz unter die Nase.
Die dritte war stoisch. Sie schnupperte aus eigener Kraft an ihrem Riechsalzfläschchen und weigerte sich, den Arm ihres Kavaliers zu nehmen.
Bald waren Minette und Pitchoun an der Reihe, das mysteriöse Zimmer zu betreten.
An einem runden Tisch, auf dem ein Kompass und ein aufgeschlagenes Buch lagen, saß ein alter Mann mit kahlem, blankem Schädel. Seine Hände lagen flach auf dem Buch, und er blickte geradeaus vor sich hin.
Nichts in diesem Zimmer war mysteriös, bis auf den alten Mann selbst. Aus riesigen Augen sah er zu Minette und Pitchoun auf, und sein glasiger, stumpfer Blick schien ein Licht zu suchen, das den Menschen unbekannt war.
«Setzt euch hin», wies er sie an.
Seine Stimme war leise und zittrig, wie die aller Greise auf dieser Welt.
«Ich schaue euch an, aber ich sehe euch nicht», sagte er, «meine Augen sind blind für das Licht der Menschen, und doch sehen sie weiter.»
Er streckte zwei lange gelbliche, von Adern überzogene Hände aus.
«Nun legt beide eine Hand in die meine», befahl er mit seiner zittrigen Stimme.
Minette und Pitchoun gehorchten.
Ein plötzlicher Schauer durchlief den Körper des Alten und übertrug sich auf die beiden jungen Leute.
«Zwei große Hände liegen in den meinen», sagte er, «die eine gehört einer großen Künstlerin, die andere einem großen Mann.»
Trotz seiner Aufregung schnitt Pitchoun eine Grimasse, als wollte er Minette zu verstehen geben, dass dieser berühmte Erleuchtete bloß ein alter Narr sei.
«Schneide keine Grimassen, junger Mann, meine Augen mögen blind sein, aber ich habe deine Zweifel gespürt. Eines Tages wirst du ein großer Mann sein, und dein Name wird der Nachwelt überliefert werden. Du liebst das Waffenhandwerk, und du wirst dich schon sehr bald auf den Schlachtfeldern bewähren. So wird dein Aufstieg beginnen.»
Unvermittelt ließ er Pitchouns Hand fallen und hielt nur noch die von Minette in der seinen.
«Was dich betrifft, junge Frau, dich hält eine schreckliche Liebe in ihren Ketten. Künstlerin und Liebende, das sollte dein Los auf Erden sein. Aber ein furchtbares Ereignis wird dein Leben erschüttern, und eines Tages wirst du eines gewaltsamen Todes sterben.»
Minette, die sich daran erinnerte, dass er den gleichen Tod auch schon Nicolette und Tausendlieb vorausgesagt hatte, hätte um ein Haar losgeprustet, doch sie riss sich zusammen und schnitt ihrerseits eine flüchtige Grimasse in Richtung Pitchoun.
«Auch du zweifelst, junge Frau. Aber die Zukunft wird mir recht geben.»
Er ließ seine Hände wieder sinken und verschränkte die Arme vor der Brust.
«Legt euren Obolus bitte auf den Tisch», sagte er und schloss seine seltsamen Augen.
Draußen auf der Straße brachen Minette und Pitchoun in schallendes Gelächter aus und nannten den Greis einen verlausten alten Scharlatan.
«In dem, was er über dich gesagt hat, steckte ja wenigstens noch ein Körnchen Wahrheit», sagte Pitchoun, «aber mir zu erzählen, ich würde ein großer Mann sein! Er muss mich für einen Weißen gehalten haben und wollte mir schmeicheln, indem er aus mir den künftigen Gouverneur dieses Landes macht. Oh, was für ein guter Witz, aber deinetwegen ist jetzt mein ganzes Taschengeld dahin. Hoffentlich lässt sich der alte Sabès noch einmal erweichen …»
«Sag», unterbrach ihn Minette besorgt, «glaubst du, er ist wirklich blind?»