I

Ganz Port-au-Prince hatte sich an diesem Junitag auf den Kaimauern eingefunden und erwartete freudig die Ankunft eines neuen Gouverneurs.

Seit zwei Stunden hielten bewaffnete Soldaten eine riesige Menschenmenge in Schach, in der Männer, Frauen und Kinder aller Hautfarben versammelt waren. Die Mulattinnen3 und schwarzen Frauen, die wie üblich ein wenig abseits standen, hatten sich größte Mühe gegeben, um mit der Eleganz der weißen Kreolinnen4 und der Europäerinnen zu konkurrieren. Hin und wieder berührten die gestreiften oder geblümten Kattunröcke der affranchies5 im Vorübergehen demonstrativ die schweren Taftröcke und die duftigen gaules6 aus transparentem Musselin der Weißen. Die hier wie dort nur notdürftig von zarten, durchscheinenden Miedern verhüllten Busen zogen die erfreuten Blicke der Männer auf sich, die trotz der entsetzlichen Hitze an diesem Sommermorgen samtene Anzüge trugen, dazu plissierte Jabots, Gehröcke und, als sei das alles noch nicht genug, Westen. Unter ihren Lockenperücken schwitzten sie schlimmer als Sklaven. Welch ein Segen war es da, wenn die Frauen hochmütig ihre Fächer wippen ließen. Die farbigen Frauen, denen ein neues Gesetz das Tragen von Schuhen verbot, wirkten durch den Schmuck an ihren Zehen nur umso origineller und begehrenswerter. Beim Anblick ihrer diamantengeschmückten Füße bereuten die weißen Frauen, die neue Vorschrift gegen «diese Kreaturen» gefordert zu haben, die es gewagt hatten, ihre Kleidung und ihre Frisuren zu imitieren.

Sie hatten sich beim Gouverneur über dieses unverzeihliche Vergehen beschwert und Gerechtigkeit gefordert, ohne einzugestehen, dass sie dadurch lediglich Rivalinnen bestrafen und demütigen wollten, von denen sich ihre Liebhaber und Ehemänner allzu sehr angezogen fühlten. Die Gesetze der Gesellschaft waren seit jeher mächtig. Mühelos errangen sie den Sieg gegen die aus der minderwertigen Rasse der Sklaven hervorgegangenen affranchies.

Doch nun schmückten «diese Kreaturen», zweifellos aus Rache, ihre Füße mit Juwelen, die ihnen von weißen Männern geschenkt worden waren. Das war der Gipfel der Unverschämtheit. Trotzdem konnte niemand umhin, zuzugeben, dass sie hinreißend waren, kokett und betörend. Unübertroffene Meisterinnen darin, ihre schön geschwungenen Taillen, die provozierenden Rundungen ihrer Brüste und ihre geschmeidigen, breiten Hüften zur Geltung zu bringen. Die Vermischung so unterschiedlichen Blutes hatte in ihnen wahre Wunder an Schönheit hervorgebracht. Und das wiederum war von der Natur selbst unverzeihlich.

Die Offiziere in ihren blitzenden Uniformen, die sich jede Frau, ob weiß oder farbig, als Liebhaber wünschte, schielten unverhohlen nach den schwarzen Schönheiten, an deren kunstvoll geknoteten Kopftüchern ebenso viele Juwelen funkelten wie an ihren Füßen. Das Dekolleté halb entblößt, lächelten sie ihnen zu, und ihre perfekten Zähne zeichneten sich wie ein leuchtendes Band auf ihren dunklen Gesichtern ab. Hin und wieder erklang schallendes Gelächter. Doch die lärmende Fröhlichkeit war nur vorgetäuscht, und in den Blicken lauerten Verachtung, Hass und Provokation.

Unter den Frauen von Saint-Domingue tobte ein Kampf auf Leben und Tod, ausgelöst durch eine Rivalität, die in jener Zeit sämtliche Beziehungen prägte: die Rivalität zwischen weißen Plantagenbesitzern und landlosen Weißen7, zwischen Offizieren und Regierungsbeamten, zwischen Neureichen ohne Namen oder Titel und Angehörigen des französischen Hochadels, dazu die Rivalität zwischen den weißen Grundbesitzern und jenen aus der Klasse der affranchis, zwischen den Haussklaven und den Feldsklaven. Zusammen mit dem Groll der affranchis und dem stummen Protest der afrikanischen Schwarzen, die wie Vieh behandelt wurden,8 erzeugte dieser Zustand eine nie nachlassende Anspannung, die die Atmosphäre seltsam drückend machte.

Das war zweifellos der Grund dafür, dass man trotz des regen Treibens, des Gelächters, der prächtigen Kleider und der Perücken eine vage Bedrohung zu spüren meinte. Auch wenn nach außen hin nichts davon zu erkennen war. Wie stets bei öffentlichen Festlichkeiten reihten sich in den Straßen sechsspännige Karossen, Kutschen mit Dachsitz und leichtere Chaisen9 aneinander. Die prächtigen Uniformen der Offiziere, die eleganten Anzüge der Kolonisten, die goldgesäumten Kutschen und die frisierten, geschminkten, behandschuhten, mit Blumensträußchen geschmückten Frauen bildeten im Zusammenspiel mit den Bäumen, dem strahlend blauen Himmel und der gleißenden Sonne ein herrliches Tableau. Lachend blieb man vor den Auslagen der Juweliere und der Parfümeure stehen, und die Frauen nahmen mit verheißungsvollen Blicken die Geschenke der Männer entgegen. Gruppen aneinandergeketteter Sklaven wurden von ihren Herren vorbeigeführt, und ab und an hörte man den scharfen Knall einer Peitsche, die auf einen nackten Oberkörper traf.

Plötzlich erhob sich aus der Menge lautes Geschrei: Das königliche Schiff war in Sicht gekommen. Sogleich begannen die Glocken zu läuten, Kanonen wurden abgefeuert. Mit Bannern und Kreuzen, Zierrat und Weihrauchfässern erwarteten die Geistlichen unter einem Baldachin das Eintreffen des neuen, vom König ernannten Gouverneurs.

Hundert Männer stiegen in Schaluppen und ruderten ihm entgegen. Als er an Land kam, applaudierte die Menge, Rufe erschallten: «Lang lebe Seine Majestät der König von Frankreich», und man geleitete ihn zur Kirche. Neugierige kleine Kinder wehrten sich dagegen, zur Seite gedrängt zu werden. Beschimpfungen wurden laut. Einige Frauen nutzten die Gelegenheit, ihren Rivalinnen Beleidigungen zuzurufen. Eine junge Mulattin heftete ihren Blick auf einen Offizier, der zu ihr herübersah. Er hielt eine blonde Frau am Arm, deren ganze Aufmerksamkeit auf das Spektakel gerichtet war. Die Mulattin nahm ein Blumensträußchen von ihrem Mieder und warf es dem Mann zu, der es lächelnd auffing. Sofort fuhr die blonde Frau herum.

«Du dreckiges Negerweib10», schrie sie die Mulattin an, «wenn du jemanden brauchst, der dein Feuer löscht, dann such dir einen Sklaven, die helfen dir gern.»11

Wortlos sah sich die Mulattin nach den Soldaten um.

Wie sollte sie dieser weißen Hure bei so vielen Uniformen um sich herum ihre Schmähungen heimzahlen? Wenn doch bloß die Soldaten nicht wären, dann würde sie ihr die Augen auskratzen! Doch nach reiflicher Überlegung zog sie es vor, dreist lächelnd die Achseln zu zucken.

Sie trug einen langen weißen, mit roten Blüten bedruckten Leinenrock, und das Batistmieder, das er an ihrer Taille umschloss, war so durchsichtig, dass darunter ihre Brüste zu sehen waren. Das Brusttuch, das sie sich nachlässig um die Schultern gelegt hatte, fiel ihr spitz über den Rücken und ließ den Ausschnitt des Mieders frei. Der hohe madras12 saß schräg auf ihrem Kopf, sodass er die rechte Braue halb verdeckte, und die falschen Juwelen, mit denen er geschmückt war, funkelten in der Sonne. In geschmeidigem, wiegendem Gang folgte sie langsam der Menge, wobei sie sich mit koketten, aufreizenden Blicken umsah.

Jemand rief: «Tausendlieb». Lächelnd drehte sie sich um und winkte.

«Wo bist du denn abgeblieben? Ich sehe dich ja gar nicht mehr», rief sie auf Kreolisch.

Ein Mann trat zu ihr. Es war ein Weißer in Leinenrock und -hose, ohne Perücke und Schnallenschuhe.

«Du lässt dich nicht mehr trösten, obwohl sie dir immer noch Hörner aufsetzt?», fragte sie mit einem fröhlichen Lachen.

«Ich habe mich mit dem Gehörntsein abgefunden», antwortete der Mann und nahm ihren Arm. «Komm, Tausendlieb, lass uns im nächsten Wirtshaus etwas trinken. Ich kenne einen Wirt, der macht einen fabelhaften Punsch mit Tafia13 …»

«Tafia … Wenn das alles ist, was du mir zu bieten hast …!»

«Meinetwegen, komm mit und bestell, was du willst.»

«Süßen Bordeauxwein, den mag ich.»

Sie gingen davon, während sich die Menge auf dem weitläufigen Platz allmählich auflöste. Unter lautem Hufgeklapper fuhren von schwarzen Kutschern gelenkte Karossen durch die Straßen.

Zwei kleine Mädchen, das eine zwölf, das andere zehn Jahre alt, gingen Hand in Hand nebeneinanderher. Sie waren barfuß, ärmlich gekleidet in ausgebleichte Kattunröcke und Mieder, die von Nadeln züchtig zusammengehalten wurden, und trugen das Haar offen. Mit ihrer goldenen Haut und dem langen Haar hätte man sie für zwei mittellose weiße Mädchen halten können. Doch wer genauer hinsah, bemerkte, dass schwarzes Blut ihren Zügen jenen besonderen Reiz, jene Spur von Andersartigkeit verlieh, die ein Weißer auf den ersten Blick erkannte. Vor allem die Ältere war mit ihren sinnlichen Lippen, den schwarzen, zu den Schläfen hin verlängerten Augen und dem widerspenstigen Haar der Inbegriff einer mestive14. Wie sie so Hand in Hand dahingingen, wirkten sie brav und folgsam, doch der Anschein wurde durch ihre neugierig blitzenden Augen Lügen gestraft.

«He, Minette», rief plötzlich eine dicke, farbige Frau, die einen schweren Korb mit Vorräten in der Hand hielt, auf Kreolisch, «wo willst du denn mit deiner kleinen Schwester hin? Sieh zu, dass du nach Hause kommst, sonst macht sich deine Mutter noch Sorgen …»

Kaum hatte sie den Satz beendet, da rannte Minette auch schon los und zog ihre Schwester hinter sich her. Achtlos liefen sie an den Läden und den Zeltbuden der erst kürzlich aus Frankreich eingetroffenen Akrobaten vorbei und erreichten keuchend die Ecke der Rue Traversière. Eine Hand aufs Herz gedrückt, sahen sie einander lachend an. Die Straßenkrämerinnen hatten ihre Waren vor die Tür gestellt und bemühten sich, durch lautes Rufen die Aufmerksamkeit der Passanten zu erregen. Mühsam bahnten sich die beiden einen Weg durch das lärmende Gewühl, bis sie bei einem bescheidenen Häuschen anlangten, dessen schmale hölzerne Balken weiß gekalkt waren.

«Minette, Lise, wo seid ihr gewesen?»

Eine fünfunddreißig bis vierzig Jahre alte Mulattin, deren mageren, müden Zügen noch ein Rest der früheren Schönheit anhaftete, erhob sich von einem kleinen Schemel vor ihrer Haustür und kam den beiden Mädchen entgegen.

«Los, antwortet. Wo wart ihr, so schmutzig, so nachlässig angezogen und dazu noch barfuß?»

Ihr Gang hatte etwas Schwerfälliges, als sei sie müde. Alles an ihr wirkte erloschen: ihr Blick, ihre Stimme, sogar ihr Lächeln. Minette ließ die Hand ihrer Schwester los, rannte zur Mutter und schlang die Arme um deren Taille.

«Wir wollten den ‹General›15 sehen, der gerade angekommen ist. Oh, Maman, es war so wunderschön! Wir haben elegante Damen und Herren gesehen und singende Matrosen …»

«In diesem Aufzug?», fiel die Mutter ihr ins Wort. «Ihr könnt von Glück reden, dass euch niemand für zwei entlaufene Sklavinnen gehalten hat!»

«Uns, Maman? Oh, nicht doch …», entgegnete Minette so selbstgewiss, dass ihre Mutter lächelte.

Sie führte sie ins Haus und stellte ihnen unter sanftem Geplauder Reis und rote Erbsen hin, die sie zum Mittagessen für sie aufbewahrt hatte.

«Euer Essen ist kalt geworden, das geschieht euch recht», sagte sie und ging wieder hinaus auf die Straße.

Die beiden Mädchen aßen mit herzhaftem Appetit, spülten ihre Teller und Becher ab und setzten sich dann zu ihrer Mutter zwischen die bunten Kopftücher, den schlichten Schmuck, die Seifenstücke und das billige Parfüm.

«Hallo, m’sieur, hallo, m’dame, hübsche Tücher, duftende Seifen, schauen Sie her, schauen Sie her …», stimmten sie in die Rufe der übrigen Krämerinnen ein.

Aus dieser Straße stammten ihre frühesten Erinnerungen. Hier in der Rue Traversière hatten sie ihre ersten Bekanntschaften geschlossen. Alle, die sie kannten, verkauften billigen Tand wie ihre Mutter. Was sie um sich herum sahen, gab ihnen keinerlei Anlass zur Sorge. Mit ihren ersten Blicken hatten sie gelernt, die farbigen Kinder von den weißen zu unterscheiden, die reichen weißen Kolonisten von den armen Weißen und die Sklaven von den affranchis, zu denen auch sie gehörten. Seit ihren ersten Schritten hatten sie gewusst, dass es Orte gab, die sie niemals würden betreten dürfen; in der Kirche hatten sie Plätze für die Weißen gesehen und andere für die Schwarzen. Nicht ohne Neid hatten sie wahrgenommen, dass die Kinder der Weißen zur Schule gingen, während sie selbst nur im Verborgenen lesen lernen durften. Die Mutter war ihre erste Lehrerin gewesen und hatte ihnen abends, im Schein der kleinen Lampe, deren schwaches Licht auf die Fibel fiel, die Buchstaben des Alphabets beigebracht. Damit endete ihr Wissen, und das bekümmerte sie, denn sie hegte für ihre Töchter ehrgeizigere Träume. Da sie nicht genug Geld hatte, um einen weißen poban16 zu bezahlen, der bereit gewesen wäre, sie auf eigenes Risiko heimlich zu unterrichten, suchte sie geduldig unter den affranchis nach einem Lehrer, der weniger verlangte.

Bis es so weit war, wuchsen Minette und Lise wie all die anderen Kinder in ihrem Viertel ohne Bildung auf. Es gab unter ihnen eine hübsche Mulattin von vierzehn Jahren, die alle nur «das verrückte Ding» nannten, weil sie närrisch war: Sie ließ sich auf offener Straße von den Jungen küssen. Doch Nicolette, das rief Jasmine ihren Töchtern oft in Erinnerung, hatte weder Vater noch Mutter, die auf sie aufpassten. «Ach, das a’me Waisenkind», riefen die Frauen der Nachbarschaft in ihrem schleppenden Kreolisch, «de’ ist nicht meh’ zu helfen …» Es gab auch einen kleinen mestif17 mit lockigem Haar und schön gezeichneten Lippen, dem eine weiße Dame namens Madame Guiole den Spitznamen Pitchoun18 gegeben hatte. Einen anderen Namen hätte man für ihn auch nicht gewusst, denn obwohl sein Vater mit seiner Mutter, der Mulattin Ursule, in wilder Ehe lebte, hatte er sich geweigert, den Jungen anzuerkennen, da er seine Haut zu dunkel fand. Pitchoun liebte es, die Soldaten vorbeimarschieren zu sehen, und er träumte davon, später selbst einer von ihnen zu werden. Er bewunderte ihre Uniformen, aus blauem Nankingstoff19 für die affranchis und aus weiß-rotem Stoff für die Weißen. Er bastelte Säbel aus Karton oder Holz und sang Kriegsmärsche, die ihm sein Lehrer beibrachte. Denn als privilegierter affranchi hatte er einen weißen Lehrer und lernte bei Madame Guiole das Handwerk eines Goldschmieds. Obwohl Monsieur Sabès keinerlei Zuneigung für seinen Sohn empfand, hatte er sich Ursules Flehen gebeugt. Dabei war sie so sanftmütig und ängstlich, dass sie nicht einmal zu protestieren wagte, wenn Monsieur Sabès das Kind grundlos schlug und es dabei als kleinen Neger beschimpfte. Mutter und Sohn vergötterten einander. Das war ihr einziger Trost. Manchmal, wenn Pitchoun seine Mutter weinen sah, lief er davon und suchte Zuflucht in dem kleinen Häuschen in der Rue Traversière, wo Minette und Lise ihn freudig wie einen Bruder aufnahmen. Sein größtes Vergnügen war es, sie singen zu hören. Wenn sie sich bitten ließen, zauberte er als geübter Charmeur Bonbons aus seinen Taschen hervor oder schmeichelte ihnen auf tausenderlei andere Weisen.

«Kommt schon, singt etwas für mich, und wenn ich groß bin, heirate ich eine von euch.»

«Du bist zu jung», entgegnete Minette verächtlich, «wenn wir irgendwann junge Mädchen sind, bist du immer noch ein kleiner Knirps.»

Dann richtete er sich zu seiner vollen Größe auf, um seine ansehnliche Gestalt zur Geltung zu bringen, warf sich in die Brust, zückte seinen Kartonsäbel und begann aus voller Kehle Kriegsgesänge zu schmettern …

Als man den neuen Gouverneur an jenem Tag in seinen Palast gebracht hatte und sich das Gedränge in den Straßen auflöste, zog es die Menschen in die Schenken und Gasthäuser. Die Glocken und Kanonen waren verstummt. Man hörte nur noch die Peitschen der Kutscher knallen und die Pferdehufe auf dem Boden klappern. Dichte Staubwolken wirbelten auf und hüllten die Fußgänger ein, die sicherheitshalber zur Seite wichen und zusahen, wie die prächtigen Karossen vorbeifuhren. Da es den Farbigen verboten war, durch die Königlichen Gärten und Prachtstraßen zu gehen, wandten sie sich den schmalen Gassen zu, in denen einfachere, weiß gekalkte Gebäude standen. Pitchoun kehrte in Begleitung einiger Freunde von den Feierlichkeiten in die Rue Traversière zurück. Sie boten einen spektakulären Anblick, wie sie mit dem Säbel über der Schulter und Märsche singend die Straße auf und ab paradierten. Als sie ihr Repertoire erschöpft hatten, scharten sie sich unter dem fröhlichen Beifall der Krämerinnen um Jasmines Auslage.

«Singt etwas für uns, meine Goldkehlchen», bat Pitchoun Jasmines Töchter in schmeichelndem Ton.

«Wir sind müde. Los, verschwindet», wehrte Minette ihn ab.

Pitchoun zog eine Zuckerstange aus der Tasche und hielt sie ihnen vor die Nase. Lachend griff Minette danach.

«Ein Lied, ein Lied …»

Rasch sammelte sich eine Menschentraube um sie. Ein paar der Krämerinnen verließen ihren Stand und kamen näher.

«Jasmines Mädchen singen …»

Minette hob die Hand, um den Takt zu schlagen und ihrer Schwester den Einsatz zu geben. Gleich darauf erklangen ihre erstaunlich vollen, klaren Stimmen. Sie sangen eine der zahllosen französischen Balladen, die die Matrosen aus dem Mutterland nach Saint-Domingue brachten, wenn Hunderte von Schiffen, die im Lauf eines Jahres in den Häfen anlegten, sie zusammen mit einem nie versiegenden Strom von Waren auf die Insel spülten.

«Mein Gott, wie schön sie singen», rief eine alte, ärmliche Weiße in zerschlissenen Kleidern, das Gesicht gepudert wie ein Pierrot. «Das sind ja wahre Wunderkinder …»

Sie spitzte die Lippen, streckte eine Hand aus und hob den verkrümmten Zeigefinger.

«Ich weiß, wovon ich rede, ich war Sängerin am Königlichen Theater.» Dann beugte sie sich zu Jasmine vor. «Ich sage dir, mein Kind, du kannst stolz auf sie sein …»

Ohne zu lächeln, betrachtete die Mutter ihre Töchter. Ja, sie hatten Talent, aber was nützte das schon? Der Blick ihrer starren, weit geöffneten Augen schien die beiden zu durchbohren. Alles um sie herum war verschwunden. Unversehens war sie in die Vergangenheit zurückgekehrt. Das passierte ihr oft in letzter Zeit. Wie an einer Leine führte eine Art krankhafte Obsession ihre Gedanken immer wieder zurück zu ihren schlimmsten Erinnerungen. Dann sah sie das Herrenhaus ihrer Kindheit vor sich, den Markt, auf dem sie verkauft worden war, das rot glühende Eisen, das ihre rechte Brust zeichnete, die Peitschenhiebe, die sie erhielt, nachdem man sie dabei erwischte hatte, wie sie von einem alten Sklaven das Lesen lernte, den Blick des Herrn an jenem Abend, als er sie begehrte, den Hass ihrer Herrin und die zahllosen Züchtigungen, die ihr das eintrug … Ohne sich etwas anmerken zu lassen, erschauerte sie, dann dachte sie zurück an die Geburt der Mädchen und schließlich an jenes Testament, das nach dem Tod des Herrn eine affranchie aus ihr gemacht hatte …

Als Minette den starren, schmerzerfüllten Blick der Mutter bemerkte, verstummte sie abrupt, stieß einen leisen Schrei aus, rannte zu ihr und vergrub das Gesicht in den Falten ihres Caraco20. Mit ihren zwölf Jahren hatte sie viele Dinge bereits verstanden. Sie nahm sie als unausweichliches Schicksal hin, und doch stellte sie sich Fragen. Warum? Warum waren die Dinge so und nicht anders? Warum gab es Reiche und Arme? Warum wurden die Sklaven geschlagen? Warum gab es gute und schlechte Herren, gute und schlechte Priester? Warum lehrte der Katechismus das eine und taten die Priester das andere? Sie sagten: Wir sind alle Brüder, und trotzdem kauften sie Sklaven, manchmal schlugen sie sie oder quälten sie zu Tode. Warum durfte sie nur heimlich lesen lernen? Warum hatte Rosélia, die Krämerin aus der Nachbarschaft, ihre Freiheit verloren, weil sie einen entlaufenen Sklaven versteckt hatte? Und vor allem: Warum hatte sie diesen Sklaven, den sie nicht einmal kannte, bei sich versteckt, obwohl sie um die möglichen Folgen wusste? Sie hatte den Eindruck, dass ihre Mutter nur widerstrebend antwortete, wenn sie ihr diese verstörenden Fragen stellte. Ganz allein hatte sie herausgefunden, dass Geld einem alles schenken konnte: schöne Kleider, Plantagen, Sklaven und prächtige Kutschen. Als wahre affranchie dankte sie Gott dafür, dass sie nicht als Sklavin zur Welt gekommen war, sprach, dem Rat ihrer Mutter folgend, Französisch, was ein Beweis für eine kultivierte Erziehung war, und betrachtete die Sklaven, obwohl sie sie um ihr Los bedauerte, als eine minderwertige, erbarmungswürdige Klasse. Unbewusst lehnte sich ihre empfindsame Natur gegen die Ungerechtigkeit ihres Schicksals auf, aber noch war sie in einem Alter, in dem man Auflehnung leicht mit Mitleid verwechselt. So spürte sie instinktiv, dass die Hand ihrer Mutter nicht ohne Grund in der ihren zitterte, wenn an Markttagen die Sklaven verkauft wurden. Doch sie ahnte nichts von ihrer entsetzlichen Vergangenheit.