XVI

Die Kutsche rollte über die steinige, zerfurchte Straße. Minette saß eingezwängt zwischen einem alten, benommen wirkenden Schwarzen und einer stark geschminkten jungen câpresse96 mit brillantbesetztem madras und blickte schläfrig durch den Spalt zwischen den Vorhängen hinaus auf die vorbeiziehende Landschaft. Es regnete in Strömen. Immer wieder spritzten dicke Tropfen auf die Passagiere, und der in einen Wachstuchumhang gehüllte schwarze Kutscher fluchte mit dröhnender Stimme.

«Los, hü! Jetzt hott, zum Henker, ihr verrückten Gäule, hott, Teufel noch eins!»

Nur um Haaresbreite wich er den Furchen aus, und die im Schlamm versinkenden Räder drehten sich, als wollten sie sich gleich vom Boden lösen.

«Was für ein Pech», sagte eine dicke, eher hellhäutige Frau seufzend und bekreuzigte sich, «ausgerechnet bei solchem Wetter zu reisen!»

«Das ist recht ungewöhnlich für März», antwortete ein junger Schwarzer, der Minette gegenübersaß, «aber wir müssen uns wohl damit abfinden.»

Die Passagiere wurden hin- und hergeworfen, durchgerüttelt, und die Schlafenden schreckten von fürchterlichen Donnerschlägen hoch, die nur zwei Schritte von der Kutsche entfernt loszubrechen schienen.

Drei Stunden kämpfte sich die Kutsche im sintflutartigen Regen die Straße entlang, zwischen Bäumen hindurch, deren Blätter, vom Wasser schwer, durch die Luft segelten und im Schlamm landeten. Als sie endlich hielt und der Kutscher «Arcahaie, Arcahaie, Reisende nach Arcahaie» schrie, hatte es gerade aufgehört zu regnen.

Minette stieg als Erste aus, verlangte vom Kutscher ihr Gepäck und stand eine Weile allein auf der Straße. Ein paar Minuten später stieg auch der junge Schwarze aus, der ihr gegenübergesessen hatte. Sein Gepäck bestand aus einem Bündel, das er sich schwungvoll über die Schultern warf. Er blieb neben ihr stehen und sah zum Himmel hinauf. Über ihnen schüttelten die Bäume in der abgekühlten Brise Tropfen von ihren Zweigen. Minette raffte ihren Rock und hielt ihn mit einer Hand hoch, damit er nicht schmutzig wurde, ihre Schuhe waren bereits voller Schlamm. Auf der Straße breiteten sich große Pfützen aus, sodass man nicht gehen konnte, ohne sich vollzuspritzen. Zwei schwarze Soldaten der Maréchaussée ritten auf Pferden vorbei, deren Sprunggelenke mit Dreck verkrustet waren, und eine von einem alten Schwarzen gelenkte Mietkutsche fuhr geradewegs durch die Wasserlachen. Ein paar zerlumpte Bettler mit amputierten Gliedmaßen warfen den Passanten flehende Blicke zu.

Am Ende langer, von Orangen- und Flammenbäumen gesäumter Alleen erhoben sich mit Schindeln oder Schiefer gedeckte Häuser.

Minette sah die Straße entlang. Wohin sollte sie sich wenden? In dem Moment drehte sich der junge Schwarze mit dem Bündel über der Schulter zu ihr um.

«Darf ich Ihnen aus der Verlegenheit helfen?», erkundigte er sich in einem nur ganz leicht schleppenden Französisch.

«Danke. Wie komme ich zum Haus von Jean-Baptiste Lapointe?»

«Jean-Baptiste Lapointe, der griffe von Arcahaie! Der wohnt ein ganzes Stück entfernt, in Boucassin. Für diese Strecke brauchen Sie ein Pferd, und es geht zurück in die Richtung, aus der wir gerade gekommen sind.»

«Ach so?»

«Sein Haus liegt eine halbe Stunde von hier, draußen auf dem Land.»

«Und wo bekomme ich ein Pferd?»

«Das können Sie überall mieten. Gehen Sie einfach zu dem Tor da hinten. Fragen Sie nach Nicolas, und sagen Sie ihm, Simon schickt Sie. Er wird Ihnen helfen.»

Er rückte das Bündel auf seiner Schulter zurecht und lüpfte den Strohhut.

«Ich würde Sie gern begleiten, aber ich bin ein Sklave. Ich hatte eine Besorgung zu erledigen und komme schon zu spät.»

Minette musterte ihn aufmerksam.

Er trug eine kurze Hose aus festem Leinen und ein bis zum Hals zugeknöpftes Hemd mit langen Ärmeln. Seine Füße steckten in Sandalen, deren Riemen die Zehen freiließen. Haussklaven in Hemden aus Vitré- oder Morlaix-Leinen97 waren Minette in den Straßen von Port-au-Prince bereits begegnet, was ihr jedoch vollkommen neu erschien, war der zufriedene, gelassene Ausdruck im Gesicht dieses Sklaven. Natürlich hatte sie schon livrierte Schwarze gesehen, die als Kammerdiener und Lakaien fungierten, Kutscher wie die des Sieur Caradeux in Hemden mit goldenen Knöpfen, aber sie alle hatten in ihren Zügen etwas Verschlossenes gehabt, eine vage Unzufriedenheit, die auf den ersten Blick ihre gesellschaftliche Stellung verriet. Dieser junge Schwarze war anders, er wirkte glücklich. Konnte es, abgesehen von Scipion, einen einzigen Sklaven geben, der nicht geschlagen, überwacht, verdächtigt, misshandelt wurde und der ohne Angst vor seinen Herren lebte? Seit frühester Kindheit wusste sie, dass die Sklaven so unglücklich waren, dass sie nur auf einen günstigen Augenblick warteten, um in die Berge zu fliehen, und dass die Herren, ganz gleich, ob weiß, schwarz oder von gemischtem Blut, weil sie Herren waren, sie wie Lastvieh behandelten.

Mit einem Lächeln verabschiedete sie sich von dem jungen Sklaven und sah ihm versonnen nach, als er davonging, dann setzte sie sich in Bewegung. Nach einigen Schritten war ihr Rock triefnass und so dreckig, dass sie nicht länger darauf achtete. An Nicolas’ Tor angekommen, entdeckte sie ein kleines, von einer Galerie umgebenes Holzhaus inmitten eines großen Hofs, wo angebundene Pferde geschnittenes Gras fraßen. Ein einarmiger alter Mann kam auf sie zu und fragte sie in lispelndem Kreolisch, was sie wünsche.

«Simon schickt mich», antwortete sie. «Ich möchte ein Pferd mieten, um nach Boucassin zu reiten.»

«Sofort, sofort», entgegnete der Einarmige, «ich gebe dir auch einen Führer; du bist nicht von hier, du brauchst einen Wegweiser: fünfzig Escalins für das Pferd und zwanzig für den Führer. Einverstanden?»

«Ja», sagte sie.

Sogleich zog sie eine kleine Börse aus ihrem Mieder und leerte sie in ihre Hand.

Nachdem sie bezahlt hatte, betrachtete sie ihre Füße und den Saum ihres Rocks: Sie waren voller Schlamm. Ihr durchweichter madras war zerknautscht und zur Seite gerutscht. Sie rückte ihn zurecht. O je, in welchem Aufzug würde sie zu diesem Rendezvous erscheinen? Ihr Batistmieder, ihr seidenes Brusttuch und die kleinen Beutel, die Nicolette so sorgsam bestickt hatte, waren zerknittert. Sie sah aus wie eine dieser schmutzigen affranchies, die auf dem Markt Schweinefleisch oder Fische verkauften.

Man brachte ihr ein gesatteltes Pferd, und ein zwölfjähriger Schwarzer, barfuß und mit einem einfachen Lendenschurz bekleidet, half ihr beim Aufsteigen.

Draußen vor dem Tor fuhr eine sechsspännige Kutsche vorbei. Auf dem Bock saß ein lächelnder Mulatte, der Nicolas mit seiner Gerte freundschaftlich zuwinkte.

«Wer ist das?», fragte Minette den Jungen, der die Zügel ihres Pferdes hielt.

«Das ist Michel, Herrin, der Kutscher von Madame Saint-Ar.»

Madame Saint-Ar, dachte sie gleich. Für sie ist doch der Brief, den mir Monsieur Saint-Martin mitgegeben hat. Hastig wandte sie den Kopf zu ihrem jungen Führer.

«Madame Saint-Ar! Wohnt sie hier in der Nähe?»

«Ja, Herrin, schau, da hinten, das große Anwesen. Es heißt ‹Les Vases›. Das gehört Madame Saint-Ar! Sie ist eine freundliche weiße Dame.»

Das Pferd bog hinter dem jungen Burschen von der Straße ab und folgte ihm auf einen einsamen, von Baumwollpflanzen98 gesäumten Weg. Nach einer halben Stunde deutete der Führer, der Minettes Reisesack auf dem Kopf trug, auf einen Hügel, wo ein flaches Haus mit rotem Schindeldach und einer einzelnen Galerie auf der rechten Seite stand.

«Wir sind da», sagte er.

Minette, die sich auf dem Pferderücken äußerst unwohl fühlte, schüttelte unbeholfen ihren geblümten Seidenrock, um ihn vom Dreck zu befreien. Sich mit einer Hand am Sattel festhaltend, versuchte sie anschließend, ihren madras zu richten, aber da das Pferd inzwischen den steilen Hang erklomm, rutschte sie zur Seite weg und fiel mit dem Hintern in eine rote Pfütze, deren Wasser auf ihr Mieder und ihr Gesicht spritzte. Sie fluchte, stieß den Führer, der ihr aufhelfen wollte, zurück und sprang zornig auf die Beine.

«Ich muss ja schön aussehen», schimpfte sie – auf Kreolisch, wie immer, wenn sie sich über sich selbst ärgerte.

Der Junge, der sich vergeblich das Lachen verkniff, half ihr zurück in den Sattel.

«Halt dich fest, Herrin», riet er, «der Weg ist steil.»

Fünf Minuten später erreichte das Pferd die Galerie auf der rechten Seite des Hauses. Drei Sklaven, die wie ihr Führer einen Lendenschurz aus grobem Leinen trugen, kamen auf sie zugelaufen. Sie nannten sie Herrin und halfen ihr vom Pferd, indem sie die Hände ausstreckten, damit sie ihre Füße daraufstellen konnte. Plötzlich stürmten zwei riesige Hunde bellend und mit gefletschten Zähnen heran. Entsetzt begann Minette zu schreien.

«Was ist denn hier los?», ertönte gleich darauf eine Stimme. «Ruhig, Luzifer, Satan, ruhig.»

Die Tür zu einem der Zimmer des Hauses wurde geöffnet, und Jean-Baptiste Lapointe trat heraus auf die Galerie.

Er trug eine weiße Leinenhose und ein halb aufgeknöpftes Batisthemd, das den kräftigen Hals freiließ. Unter dem transparenten Stoff schimmerte die dunkle Haut seines muskulösen, jungen Oberkörpers. Einen Moment lang schaute er neugierig, dann kam er die steinernen Stufen von der Galerie herab. Als er Minette erkannte, zuckte er kurz vor Überraschung, doch dann betrachtete er sie genauer und brach in schallendes Gelächter aus. Er lachte so herzhaft, dass ihm Tränen über die Wangen liefen, und nach jedem Versuch, sich zu beherrschen, prustete er nur umso heftiger wieder los.

Minette sah ihn mit gerunzelten Brauen an. Sie hatte einen Verrückten vor sich. Jean-Baptiste Lapointe war verrückt. Auf welches Abenteuer hatte sie sich da bloß eingelassen?

Als er sich endlich beruhigte, erkannte sie, dass er lediglich ausgelassen gelacht hatte. Er entschuldigte sich für diesen Empfang und reichte ihr die Hand, um ihr die Treppe hinaufzuhelfen.

Nun lammfromm, strichen die beiden riesigen Hunde mit jämmerlichem Kläffen um den jungen Mann, der sie allein durch den Klang seiner Stimme gebändigt hatte. Lapointe öffnete die Vordertür, und Minette betrat einen großen Raum mit blitzsauberen Holzmöbeln, Vorhängen aus bedruckter Baumwolle und Pflanzen, die in großen Tontöpfen wuchsen.

«Hübsch haben Sie es hier», sagte sie mit einem koketten Lächeln.

Sie wandte sich einem großen Spiegel zu und wollte gerade ihren madras abnehmen, als sie vor Überraschung wie angewurzelt stehen blieb.

Sie war entsetzlich schmutzig, und das vom Kopf bis zu den Füßen. Ihr Gesicht war mit kleinen getrockneten Schlammspritzern übersät, ihr Kleid wies von der kurzen Rockschleppe bis hinauf zur Taille Flecken auf, und ihr feuchter madras war zerknautscht wie die Mütze eines komischen Tölpels auf der Bühne. Wie zuvor Lapointe brach sie in schallendes Gelächter aus.

«Ich brauche Ihnen meinen etwas … heiteren Empfang wohl nicht weiter zu erklären», bemerkte er unter neuerlichem Lachen. «Was allerdings vonnöten wäre, sind ein Bad und die Möglichkeit, Ihre Kleider zu wechseln.»

«Was ist mit Ihren Eltern? Kann ich sie begrüßen?»

«Das … das muss ein Irrtum sein. Ich habe schon immer allein gelebt.»

«Was?»

In seine schwarzen, zu den Schläfen hin lang gezogenen Augen trat wieder jener zynische, verstörende Ausdruck, den sie bereits kannte.

«Ich lebe allein …»

«Dann verlasse ich Ihr Haus», erwiderte Minette, zu Tode beschämt. «Sie waren ein Krüppel, jetzt sind Sie es nicht mehr; Sie haben mich zu Ihrer Familie eingeladen, jetzt leben Sie allein. Ich hasse missverständliche Situationen.»

«Dann hassen Sie das Leben selbst. Nichts auf dieser Welt ist so klar, wie es scheint.»

Minette musterte ihn verstohlen.

Eine Faust in die Hüfte gestemmt, stand er da und erwartete mit schlecht gespielter Gleichgültigkeit ihre Entscheidung. Eine große Müdigkeit ergriff von ihr Besitz. Am liebsten hätte sie sich gleich an Ort und Stelle hingelegt, einfach dort, vor seinen Füßen, und geschlafen, geschlafen, bis sie des Schlafens überdrüssig war. Sie konnte auf keinen Fall einwilligen, mit ihm allein zu bleiben. Sie würde den langen Weg, am Sattel festgekrallt, zurückreiten müssen; die Muskeln in ihren Armen schmerzten, und sie spürte, wie sie wie tot an ihrem Körper herabhingen.

«Leben Sie wohl», sagte sie dennoch.

Gleichzeitig fuhr sie sich mit einer Hand über das Gesicht, um die verkrusteten Schlammspritzer abzureiben.

«Ich werde Sie schon nicht fressen, wenn Sie ein Bad nehmen und sich umziehen möchten. Ich bin doch kein lougarou99

Ein freundliches Lächeln begleitete seine Worte. Sie sah ihn an und bemerkte das leichte Zittern seiner Hände.

«Einverstanden, ich nehme ein Bad», sagte sie kurz entschlossen, wie es ihre Gewohnheit war.

In solchen Momenten verließ sie sich auf ihren Instinkt, der sicherer urteilte, als langes Nachdenken es vermocht hätte, und dem sich ihre angeborene Kühnheit nur allzu bereitwillig fügte.

Die gleiche Kraft, die ihr auf der Bühne den Ausdruck, die Gesten eingab, hatte sie dazu gedrängt, nach Arcahaie zu kommen. In ihrer Vorstellung war diese Kraft etwas Geheimnisvolles, das in ihr lebte und ihr wohlgesinnt war. Daran war nichts verwunderlich: Seit ihrer Kindheit stritten in ihrem Inneren die abergläubischen Überzeugungen der Menschen ihrer Rasse mit den Lehren des Christentums, die Joseph ihnen so oft vorgelesen und erläutert hatte. Wo lag die Wahrheit? Die einen fürchteten die Götter Guineas, die von den Schwarzen verehrt wurden, die anderen glaubten an die Überlegenheit eines einzigen Gottes, Vater des Mensch gewordenen Christus. Sie hatte oft gehört, wie die alte Heilerin aus der Nachbarschaft Jasmine erzählte, der Gott der Weißen sei ein Plantagenbesitzer des Himmels, genauso weiß wie die Weißen selbst, und verstehe kein einziges Wort vom Kreolisch der unglücklichen Schwarzen. Je mehr sie gelesen und gelernt hatte, umso mehr hatte sie sich von solch naiven Vorstellungen befreit, aber als folgsame Tochter Guineas100 bewahrte sie trotz allem den Glauben an vielerlei kleine Dinge, hielt sich an Weissagungen und Träume, an Glück und Unglück verheißende Tage.

Sie wäre eher gestorben, als am helllichten Tag Geschichten zu erzählen oder das obere Ende einer Wassermelone zu essen.101 Und ihre Mutter hatte Lise eines Tages vor Schreck laut ausgeschimpft, weil diese mit dem Finger auf einen Regenbogen gedeutet hatte.102 Jasmine besaß einen Talisman, den ihr der alte Schwarze Mapiou geschenkt hatte. Sie hatte ihn bei ihrem Herrn kennengelernt, und während er den Sklaven heimlich lesen und schreiben beibrachte, erzählte er ihnen zugleich von der Macht der loas103. Minette hatte den Talisman auf dem Boden der großen Truhe entdeckt, als sie eines Tages saubere Wäsche gesucht hatte. Sie hatte begriffen, dass es sich um ein makandal handelte, wie das, welches Nicolette an ihr Hemd heftete, um sich vor bösem Zauber zu schützen. Es war eine Art kleiner Beutel, prall gefüllt mit Gegenständen, die ebenso mysteriös waren wie seine Macht selbst, und Lise und Minette berührten ihn nur voller Abscheu und Respekt. Man konnte ja nie wissen. Im Katechismus standen hübsche Geschichten, aber die Frauen im Viertel hatten mit eigenen Augen erstaunliche Manifestationen gesehen. Und das genügte, um in ihnen Zweifel und Furcht zu wecken.

Im Grunde hatte sie immer geglaubt, dass es vielleicht doch dem makandal, das ihre Mutter an ihrem Unterrock befestigt hatte, zu verdanken war, dass sie an jenem ersten Abend im Schauspielhaus der Weißen ihre Stimme wiedergefunden hatte.

In diesem Moment sprach die Kraft zu ihr, sie sagte: «Bleib», und Minette gehorchte. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich zu wehren, die Kraft wäre stärker. Es war dieser Zustand, den Nicolette beschrieb, wenn sie sagte: «Meine Ahnung sagt mir, ich soll», oder «Meine Ahnung sagt mir, ich soll nicht», und das genügte, um sie auf die eine oder andere Weise zu überzeugen.

Ja, sie würde bei ihm bleiben, es musste sein. Sie hatte diese Reise schließlich nicht auf sich genommen, um den Ball von Madame Saint-Ar zu besuchen, wie Monsieur Saint-Martin ihr nahegelegt hatte, und auch nicht, um die Landschaft zu bewundern. Sie war ehrlich zu sich selbst. Lapointe war der einzige Grund, aus dem sie hergekommen war. Der Ärger im Schauspielhaus hatte in ihr den Wunsch geweckt, zu fliehen, zu vergessen, glücklich zu sein. Zu vergessen und glücklich zu sein, dazu war sie hier. Mein Gott, sie würde doch nicht gleich wieder kehrtmachen, bloß weil Lapointe gelogen hatte, als er ihr erzählte, dass er mit seiner Familie zusammenlebte. Nicolette hätte sie ausgelacht, weil sie sich benahm wie ein verschrecktes Gänschen, aber wie schmerzhaft wäre es für Joseph und Jasmine, sie in einer solchen Situation zu wissen!

Lapointe hatte in die Hände geklatscht. Sogleich öffnete sich die Tür zum zweiten Zimmer, und zwei junge câpresses in Kleidern aus grobem Gingang104 kamen barfuß herein. Sie hatten langes, krauses Haar, das sich über ihre Schultern ergoss, und ihre Haut hatte die Farbe von Sapotillen105. Ihre Gesichter waren ausdruckslos, denn sie hatten den Blick gesenkt.

«Das ist Ihre Leibwache», sagte Lapointe zu Minette. «Zu Ihrem Schutz werden sie zu Ihren Füßen schlafen. Du, Fleurette, kümmere dich um das Bad der Herrin», befahl er einer der Sklavinnen, die einen Schönheitsfleck über der Oberlippe hatte, «und du, Roseline, hol den Reisesack herein und bring die Herrin in das blaue Zimmer. Ihr weicht ihr nur von der Seite, wenn sie euch selbst dazu auffordert.»

«Ja, Herr», antworteten sie.

Minette folgte ihnen. Im Grunde war es angenehm, bedient zu werden wie eine feine Dame. Das ist also das Leben einer reichen affranchie, dachte das junge Mädchen. Sklaven, die sie Herrin nennen, cocottes, die ihr wie eifrige Hunde auf Schritt und Tritt folgen und ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen, Männer und Frauen, die der Reichtum ihr beschert und deren Leben in ihrer Hand liegt. Welch ein Luxus! «Wir werden Sie wie eine Königin empfangen.» Was das anging, hatte Lapointe sein Versprechen gehalten: Er führte sie ein in das herrschaftliche Leben.

Die beiden jungen Sklavinnen begleiteten Minette in einen Raum, der mit blauen Baumwollvorhängen, einem Bett aus hellem Holz und einem facettierten Spiegeltisch ausgestattet war. Auf den Regalbrettern sah sie einige Bücher. Und auf einem kleinen Tischchen stand eine Kristallvase mit einer prächtigen, rot blühenden Blume darin.

«Leg dich hin, Herrin», forderte Fleurette sie auf, während sie ihr den madras abnahm.

«Ich gehe und erwärme das Wasser für dein Bad», sagte Roseline, zog ihr die verdreckten Schuhe aus und nahm sie mit, um sie zu säubern.

Minette fühlte sich unwohl. Man muss ein solches Leben seit Langem gewohnt sein, um sich bedienen zu lassen, ohne spontan widersprechen zu wollen, ohne die Gesten zu vollenden, zu denen eine auf Knien hockende Sklavin ansetzt, um alles anzunehmen, ohne auch nur mit einem Wort, einem Blick zu danken. Fleurettes eifrigen Händen ausgeliefert, hatte sie sich, wenn auch ein wenig widerstrebend, ausziehen lassen. Nackt zu sein, schüchterte sie ein. Sie konnte sich noch so oft sagen, dass Fleurette nur eine Sklavin war, von Lapointe gekauft und für einige Tage in ihren Dienst gestellt, trotzdem machte sie die Gegenwart dieser Fremden, die in ihrem Gepäck kramte und ihr das Hemd auszog, verlegen. Als Roseline kam, um sie zum Bad abzuholen, bemerkte sie unangenehm überrascht, dass diese einen Hausmantel mitgebracht hatte, den sie ihr umlegte und im Bad mit geschickter Hand wieder abstreifte, bevor sie sie aufforderte, in die Wanne zu steigen. Auf dem Wasser schwammen frische, zerdrückte Blätter, die nach Majoran dufteten, und Minette ließ sich genüsslich in die große Blechwanne gleiten. Leise ein kreolisches Lied vor sich hin singend, rieben die Sklavinnen ihr Rücken, Arme und Beine ab. Nicht ein indiskreter Blick. Lediglich eine große Beflissenheit in ihren Gesten und Mienen, die von dem Wunsch zeugten, zu gefallen und alles richtig zu machen.

Erfrischt und duftend stieg Minette aus dem Bad.

Als sie ins Schlafzimmer zurückkam, hatte Fleurette bereits Rock und Mieder auf dem Bett ausgebreitet, dazu den passenden madras und das Brusttuch. Als Roseline sich anschickte, ihr ein sauberes Hemd überzustreifen, hielt Minette sie zurück und nahm es ihr aus der Hand.

«Das genügt, meine Kleinen», verkündete sie in ihrer schroffen Art, «ihr könnt jetzt gehen.»

Fleurette biss sich auf die Oberlippe mit dem Schönheitsfleck darüber, und Roseline ließ den Kopf hängen, als hätte sie sich etwas zuschulden kommen lassen.

«Ist die Herrin nicht zufrieden?»

Als Minette ihre verzweifelten Gesichter sah, verspürte sie einen Anflug von Gewissensbissen, die sie jedoch sofort unterdrückte, denn die Anwesenheit dieser beiden Mädchen machte sie unglücklich. Sollte sie etwa während ihres gesamten Aufenthalts in diesem Haus – denn sie würde bleiben, das wusste sie nun –, sollte sie etwa die ganze Zeit diese beiden allzu eifrigen Zeuginnen um sich haben, die ihr die Einsamkeit verdarben? Sie waren noch blutjung, vierzehn bis sechzehn Jahre vielleicht. Sie waren fröhlich, gesund und dumm. Niemals würde sie eine solche Gesellschaft dulden.

«Sollen wir dir den Kopf kraulen, Herrin?»

«Oder dir die Fußsohlen kitzeln?»

«Oder dir die Hände massieren?»

«Und den Rücken?»

Minette lächelte. So waren sie, die kreolischen Sklavinnen: durchtrieben, schmeichlerisch, verdorben. Die armen Kleinen, sagte sie sich gleich darauf, sie können nichts dafür! Auch Jasmine musste solche Dinge getan haben. Es war ihr Stand, der sie geformt hatte, und seit ihrer frühesten Kindheit hatten sie gelernt, den geringsten Launen ihrer Herren zu gehorchen. Wie können sie sich nur damit abfinden? Ich würde sterben oder in die Berge fliehen, dachte Minette.

Inzwischen krümmten sich die beiden Mädchen weinend auf dem Boden.

«Der Herr wird uns bestrafen», ächzte Roseline und küsste ihr die Füße, «lass uns bei dir bleiben, Herrin, lass uns bei dir bleiben.»

Das war nicht möglich. Ließ Lapointe seine Sklaven schlagen? Sie konnte es nicht glauben. Die Kleinen machen mir etwas vor, um mein Herz zu erweichen, dachte sie.

«Wieso lügst du?», schrie sie sie an. «Du bist nie geschlagen worden.»

Die beiden wechselten einen Blick, dann nahmen ihre Gesichter einen verschlossenen, scheinheiligen Ausdruck an.

Ohne sie noch eines Blickes zu würdigen, zog Minette einen grünen Rock und ein weißes Mieder an. Dann legte sie ein geblümtes Brusttuch um ihren Ausschnitt und befestigte daran die Brosche, die sie mit Magdeleine Brousse bei Mademoiselle Monnot gekauft hatte. Sie knotete keinen madras um ihr Haar, sondern flocht es zu zwei dicken Zöpfen, um die sie je ein grünes Band schlang. Dann nahm sie die Sklavinnen bei der Hand und ging mit ihnen hinaus auf die Galerie.

Jean-Baptiste Lapointe erwartete sie am Fuß der Treppe zwischen zwei gesattelten, aufgezäumten Pferden. Als er sie so schön vor sich sah, durchlief ihn ein Schauer, und er ging ihr entgegen.

«Da sind Sie ja wieder», sagte er leise.

«So sind die Männer, sie akzeptieren es keine Minute, enttäuscht zu werden.»

«Ich liebe Sie», fuhr er, ohne zu zögern, fort.

«Oh nein, nicht vor Zeugen.»

«Welche Zeugen?»

«Na, die beiden.»

Sie deutete auf die beiden Mädchen.

«Die! Aber das sind Sklavinnen.»

Entsetzliche Verachtung sprach aus seiner Stimme.

Minette erstarrte. Dann stimmte es also. Auch er war ein Verfechter der Sklaverei. Auch er war ein grausamer Pflanzer, der in den Unglücklichen, die er kaufte, nichts anderes sah als Vieh! Ohne zu ahnen, was in ihr vorging, scheuchte er die Sklavinnen mit einer knappen Geste fort. Dann nahm er Minettes Hand und drückte seine Lippen darauf.

«Oh, lassen Sie mich!», schrie sie.

«Ich liebe Sie», wiederholte er.

«Ja, aber ich kann keinen Mann lieben, der wie ich ein Mulatte ist, seine Bediensteten jedoch im Tonfall eines weißen Kolonisten ‹Sklaven› nennt.»

Abrupt veränderte sich seine Miene. Jede Spur von Zärtlichkeit verschwand aus seinem Gesicht. Er verschränkte die Arme vor der Brust.

«Ich sprach zu Ihnen von Liebe», versetzte er mit harter Stimme.

«Was ist das für eine Liebe, wenn man den Menschen, den man lieben möchte, nicht bewundern kann?»

Er gab vor, sie nicht zu verstehen.

«Aber ich bewundere Sie.»

«Ich Sie nicht.»

«Haben Sie Gründe dafür?»

«Ich hasse die Kolonisten.»

«Und ich hasse sie ebenso sehr, wie ich die Sklaven hasse.»

«Dabei haben Letztere Sie reich gemacht.»

Er setzte sich in Bewegung. Bitterer Groll verhärtete seine Züge; eine Falte zog sich zwischen den Brauen über seine Stirn.

«Sie erinnern mich zu sehr an meinen eigenen Stand. Oh, Sie werden mich niemals verstehen können …»

Trotz dieser Feststellung sprach er, wie von einer entsetzlichen Macht getrieben, weiter.

«Mein Leben lang habe ich darunter gelitten, zu sein, was ich bin. Mein Leben lang wurde ich beleidigt, verhöhnt, gedemütigt. Ich habe mich gebildet. Gibt es ein Buch, das ich nicht gelesen habe? Diejenigen, die Resignation predigen, ebenso gut wie die, die Rebellion säen. Und was findet man, wenn man sie alle gelesen hat? Leere Versprechungen, nichts als leere Versprechungen. Man verschränkt die Arme und sagt sich: So, jetzt weiß ich viele Dinge, aber wozu führt das alles?»

Im Gehen brach er einen Zweig von einem Strauch und schlug damit erregt gegen seine Hose.

«Das hier ist das Leben …»

Er breitete die Arme aus, als wollte er eine riesige Masse umfangen.

«Ja, das hier, zusammenraffen, so viel Geld wie möglich anhäufen, sich durch seinen Reichtum behaupten, Beleidigungen erwidern, so gut man es vermag, töten, schlagen, sich rächen und jede der kleinen Freuden ergreifen, die sich einem bieten.»

Sie sah ihn an. Trotz seines grimmigen Ausbruchs ging etwas Anziehendes von ihm aus, etwas Kindliches und Grausames zugleich. Bei den letzten Worten hatte er sich auf die Unterlippe gebissen, und seine herrlichen Zähne bildeten einen weißen Fleck vor seinem dunklen Mund.

«Ich hasse die Weißen und die Schwarzen gleichermaßen. Die einen verachten mich, und die anderen erniedrigen mich. Ich hasse diese Sklavin, die meine Mutter war, ihre Rasse ist verflucht.»

«Ihre Mutter kann nichts dafür, das wissen Sie genau», widersprach Minette.

«Ach, immer dieses moralische Geschwätz. Die Sklavinnen schlafen mit ihrem Herrn, wer auch immer er sein mag, und wir zahlen den Preis dafür. Ich habe nicht darum gebeten, geboren zu werden. Was habe ich in meinen Adern? Das degenerierte Blut eines Mulatten und das einer ungebildeten, abergläubischen Afrikanerin106. Ich hasse sie beide.»

Er stieß ein hohl klingendes, herzzerreißendes Lachen aus.

«Wie konnten Sie nur eine Sekunde lang glauben, ich führte mit ihnen das alberne, beschauliche Familienleben eines schicksalsergebenen affranchi

«Sie haben es mir geschrieben …»

«Dann haben Sie sich in meinen Worten getäuscht. Dieses ‹wir›, so es denn missverständlich gewesen sein sollte, bedeutete meine Sklaven und ich. Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Wie dem auch sei, einer Sache können Sie sich sicher sein. Ich habe in meinem ganzen Leben nie eine Frau vergewaltigt, das verbietet mir mein Stolz.»

Sie spürte, dass sie etwas sagen musste.

«Ich vertraue Ihnen», sagte sie leise.

Ja, sie wusste, dass er sein Leben nicht auf solche Taten beschränken würde. Vielleicht würde er Schlimmeres tun: Seine Augen, seine Gesten, seine Worte, alles an ihm verriet es. Er würde Schlimmeres tun, das war gewiss, denn nichts an ihm versuchte, darüber hinwegzutäuschen. Sein Blick war hart wie Stahl, sein Körper war geschaffen für den Kampf. Er wirkte wie ein unerschütterlicher Fels, und seine Kraft schien ungeheuer.

«Das sind nur Worte», stieß er hervor. «Die meisten Menschen verabscheuen mich, und das ist kein Wunder.»

Dieser Satz offenbarte Minette einen solchen Schmerz, dass sie sich zu ihm umwandte. Schwer atmend war er stehen geblieben, ein Feuer loderte in seinen Augen, und seine zitternden Hände zerbrachen den Zweig, den er hielt, in kleine Stücke.

«Darf ich Ihnen eine Frage stellen?», fragte sie aufgewühlt.

«Ich beantworte Fragen immer.»

«Wieso haben Sie den weißen Matrosen getötet?»

«Welchen? Ich habe mehrere von ihnen getötet; ich könnte aus reinem Vergnügen jeden Tag hundert Weiße töten, ich hasse sie.»

«Ist Ihnen klar, dass Sie sich selbst als Mörder bezeichnen?»

«Ich sehe doch nichts als Mörder um mich herum. Oder was halten Sie von den reichen weißen Plantagenbesitzern, die ihre Sklaven verstümmeln und zu Tode foltern?»

«Oh!», entfuhr es Minette.

Ihr fiel keine Antwort darauf ein, sie ließ sich auf den feuchten Rasen fallen und begann zu schluchzen.

Er kniete sich neben sie.

«Nein, nicht doch, weinen Sie nicht», sagte er, dann schwieg er lange.

Als sie schließlich den Kopf hob, sprach er weiter, wie von schmerzlichen Erinnerungen getrieben, die er so schnell wie möglich mit ihr teilen wollte.

«Ich wollte nicht hassen, glauben Sie mir, nein, ich glaube nicht, dass ich dazu geboren wurde … Es gab eine Zeit, ach, ich war noch sehr jung, da fühlte ich mich zu den Wissenschaften hingezogen. Ich hoffte, eines Tages ein bedeutender Arzt zu werden … Sie haben mir zu verstehen gegeben, dass uns dieser Beruf verboten ist …»

Er schwieg eine Minute, dann fuhr er fort: «Vor einigen Monaten bestieg ich ein Schiff nach Cap Français.107 An Bord lernte ich eine junge weiße Dame kennen, die gerade aus Frankreich eingetroffen war, und ich gefiel ihr. Abends kam sie zu mir auf das Deck, das den Farbigen vorbehalten war. Beim Verlassen des Schiffs geriet ich durch Zufall zwischen die weißen Passagiere. Die junge Dame hatte meinen Arm genommen. Ein paar der Umstehenden machten keinen Hehl aus ihrer Überraschung, als sie uns sahen. Da ich ahnte, was geschehen würde, suchte ich nach einer Möglichkeit, mich von der Dame zu verabschieden und zu fliehen, als zwei Kolonisten auf mich zutraten und drohten, mich zu ohrfeigen, wenn ich nicht auf der Stelle verschwände.

‹Aber wieso denn?›, fragte die Dame.

‹Er ist ein affranchi›, antwortete einer der Weißen.

‹Ein affranchi?›, rief die Dame verständnislos.

‹Ja, der Sohn einer Sklavin, und er hat sich an das Gesetz zu halten, das es ihm verbietet, sich unter uns zu mischen.›»

Er senkte den Kopf und schloss die Augen, als drängte er seine Tränen zurück.

«Und so war es immer, für uns alle …»

«Schweigen Sie», beschwor ihn Minette, «Sie tun sich nur selbst weh.»

«Weh», entgegnete er, «nein, inzwischen habe ich mich daran gewöhnt.»

Er verstummte, fuhr sich mit einer Hand über die Augen und erschauerte, als erwachte er aus einem bösen Traum.

«Verzeihen Sie, dass ich Sie damit belästigt habe …», sagte er, wieder so reserviert wie zuvor.

Er blickte zum Haus zurück.

«Die Pferde sind bereit. Soll ich Sie in die Stadt zurückbegleiten?»

«Ich war gekommen, um zu bleiben.»

«Wollen Sie das wirklich?»

Sofort wurde sein Gesicht wieder jung und so zärtlich, dass Minettes Herz dahinschmolz. Oh, ihn zu lieben, ihn trotz allem zu lieben. Die Augen zu schließen und sich zu sagen: Sei’s drum. Ihn zu nehmen, wie er ist, oder ihn durch die Kraft der Liebe zu verwandeln.

«Wollen Sie das wirklich? Oh, ich habe mich so sehr darauf gefreut, Sie hier zu empfangen. Jeden Tag habe ich mir gesagt, sie wird kommen, sie wird kommen, und jetzt sind Sie da.»

«Und jetzt bin ich da», antwortete Minette.

Mit einem Mal war er ein anderer Mann.

«Ich habe mich geweigert, mit Ihnen zu tanzen», sagte er und biss auf einem Grashalm herum. «Fragen Sie mich, wieso.»

«Nein, ich weigere mich.»

«Sie Hochmütige. Na los, fragen Sie mich, wieso. Sie weigern sich. Meinetwegen, ich sage es Ihnen trotzdem, damit zwischen uns keinerlei Missverständnisse mehr bleiben. Sie hatten sich als Weiße verkleidet. Ich habe Sie verabscheut.»

«Und wann haben Sie begonnen, mich zu lieben?»

«Ich habe Sie vom ersten Moment an geliebt.»

Seine Stimme war wieder ernst geworden. Er drehte sich zu ihr um.

«Minette, die Menschen, die mich lieben, nennen mich Jean.»

«Jean», sagte sie.

Er nahm sie in die Arme und zog sie fest an sich.

Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt, und ihre halb geöffneten Lippen lächelten. Er küsste ihren Mund so gierig, dass sie seufzte. Er stöhnte vor Begehren, stand, ohne sie loszulassen, auf, hob sie hoch und trug sie vor die Tür des Wohnzimmers, die zwei Sklaven für ihn öffneten.

Als Minette wieder auf eigenen Füßen stand, umarmte er sie so ungestüm, dass sie protestierte.

«Aua, Sie tun mir weh!»

Er ließ sie los und ging ans Fenster, auf dessen Sims er sich für einen Moment mit den Ellbogen abstützte. Minette trat neben ihn. Aus der Ferne drang wehmütiger kreolischer Gesang herein. Hunderte Stimmen psalmodierten im Rhythmus der Trommeln ein sanftes, trauriges Lied.

«Hören Sie», forderte Lapointe sie auf, «die Sklaven singen!»

«Ihre Sklaven?»

«Ja. Das Atelier ist ein paar Hundert Meter von hier entfernt. Ich führe Sie morgen hin, wenn Sie mögen.»

Plötzlich zerriss der Klang einer Lambimuschel die Stille. Die beiden riesigen Hunde brachen in wütendes Gebell aus, und die Sklaven hörten auf zu singen, als lauschten sie.

«Die Lambi!», sagte Minette.

«Die Lambi der marrons», ergänzte Lapointe. «Meine Schwarzen singen nicht mehr, sie deuten eine Botschaft. Morgen werden sie nervös sein. Das ist ärgerlich, aber ich werde den Aufseher anweisen, sie strenger zu überwachen. Die Arbeit darf nicht darunter leiden, ich muss nächsten Monat mehr als fünfzig Ballen Zuckerrohr verschicken.»

Der Bann war gebrochen. Minettes Blick verlor sich in der Ferne, vor ihrem geistigen Auge sah sie das riesige Atelier, die elenden Hütten, die unter der öden Sonne gekrümmten Rücken, die Peitsche des Aufsehers, die Strafen, die Folterungen …

Sie drehte sich zu ihm um. Er schaute immer noch aus dem Fenster auf die umliegenden Hügel, die sich wie gewaltige düstere Massen unter dem plötzlich aufgehellten Himmel abzeichneten. Er deutete auf eine Ecke des Himmels.

«Das Massiv der Hauts Pitons!», sagte er. «Auf diesen Berg fliehen sie, aber eines Tages werden sie wieder herunterkommen.»

«Ich bitte Sie, reden Sie nicht mehr darüber», flehte Minette, «das ist ein Punkt, in dem ich Sie nicht verstehe.»

Schroff packte er sie bei den Schultern und zog sie an sich.

«Verstehst du mich wenigstens in den anderen?»

Forschend betrachtete er ihr Gesicht, und aus seinen schwarzen Augen schienen glühende Flammen zu schlagen.

«Oh!», seufzte Minette. «Welch ein Unglück, Sie zu lieben.»

Mit einem Kuss verschloss er ihr den Mund.

«Minette!», stöhnte er. «Was zählt alles andere, wenn wir uns lieben!»

«Ohne Einschränkung zu lieben, das wäre wahres Glück.»

In plötzlichem Aufbegehren riss sie sich aus seinen Armen los.

«Aber wieso, wieso? Oh, ich hätte Sie so gern so vieles gefragt … Zu wissen, zu begreifen, wer Sie sind. Das ist keine leichte Aufgabe. Bei Ihnen weiß man nie, woran man ist.»

Trotz allem erinnerte sie sich an seine Haltung, sein Mienenspiel, an jene zwiespältigen Gefühle, die seine Hände zittern ließen und sein junges Gesicht verzerrten, als er sich ihr erklärt hatte. Was bedeutete der Satz: «Ich hasse die Weißen und die Schwarzen gleichermaßen»? Er hatte gelitten, das hatten ihr seine offenen Worte bewiesen, und nun rächte er sich am Leben als Anarchist, der weder für die einen noch für die anderen Partei ergriff und sich mit egoistischen Befriedigungen begnügte. Aber wie entschuldbar sein Verhalten doch war!

«Dabei arbeiten Sie mit Lambert zusammen», bemerkte sie unvermittelt, ohne sich bewusst zu sein, dass sie dadurch ein Geheimnis verriet.

Er zuckte zusammen, als hätte man ihm einen Peitschenhieb in den Nacken versetzt.

«Lambert!», rief er. «Woher wissen Sie das?»

Er lachte auf.

«Ah, ich verstehe», fuhr er fort, «Sie gehören zu Zoés Rekruten!»

«Und Sie?»

«Ich bin ein Einzelkämpfer; Fanatiker wie Beauvais und Lambert hoffen, dass ich für sie ein paar Weiße in Stücke reiße. Es gibt allerdings einen Aspekt ihres Kampfs, der mich interessiert: Ich habe geschworen, dass ich vor meinem Tod die Privilegien genießen werde, die uns der Code Noir zugesteht. Genau wie die anderen fordere ich die Anwendung unserer bürgerlichen und politischen Rechte.»

Wie von Sinnen vor Glück warf sie sich an seine Brust.

«Jean, Jean», flüsterte sie. «Ich hatte solche Angst. Endlich habe ich begriffen. Ich fürchtete, Sie zu lieben und gleichzeitig zu verachten …»

Er unterbrach sie, machte sich von ihr los und sah ihr fest in die Augen.

«Vorsicht, ich verhelfe ganz sicher keinem Sklaven zur Flucht.»

Und wenn schon, sagte sich Minette, Hauptsache, er begreift die Situation, Hauptsache, er steht Joseph und Lambert nahe. Dieser zynische Ton war doch nicht von Bedeutung, solange er tapfer war, rebellisch und kämpferisch. Nein, er war kein Mörder, und er tötete zu Recht! Sie selbst hatte eines Tages den gleichen Drang verspürt, als sie sah, wie auf dem Markt weinende junge Sklaven verkauft wurden.

«Ach, was soll’s», seufzte sie, «was soll’s!»

Sie entfernte sich ein Stück von ihm und betrachtete den Himmel. Durch die Zweige eines Mangobaums schimmerte ein riesiger Lichtschein, wie von einer wandernden Laterne. Der junge Mann kam auf sie zu und nahm sie in die Arme. Sie gingen die steinernen Stufen hinab, auf denen plaudernde Haussklaven saßen, und wandten sich der von duftenden blühenden Orangenbäumen gesäumte Allee zu.

Er pflückte einige Blüten für sie, und sie steckte sie sich ins Haar. Daraufhin sagte er, sie sehe aus wie Myris, und fügte hinzu, wie sehr ihm eine bestimmte Arie aus Die schöne Arsene gefallen habe.

«Ich hatte diese Reise einzig und allein aus dem Grund unternommen, Sie auf der Bühne zu sehen», gestand er.

Da sang sie für ihn:

«Jung scheine ich,

und bin doch mehr als hundert Jahre alt.

Eine liebende Fee schenkte mir, ich weiß es wie heut,

in meiner Jugend die Gabe zu gefallen.

Anmut, Talent und Schönheit, die Kunst zu erfreu’n,

All das war mein Los …

Ihr seht mich hier in meiner frühesten Gestalt.

Fünfzehn Jahre bin ich erneut.»

«Was für eine herrliche Stimme Sie haben!», sagte er und sah sie bewundernd an.

Roseline und Fleurette kamen, um sie zum Abendessen zu holen. Im vorderen Zimmer war für zwei gedeckt. Sobald sie Platz genommen hatten, bemühten sich vier junge Sklaven eifrig darum, ihnen jeden Wunsch von den Augen abzulesen.

Die appetitlichsten Gerichte folgten aufeinander, und Minette, die sich an Jasmines karge Mahlzeiten erinnerte, sprach dem Hühnchen und den zahlreichen Desserts freudig zu. Er schenkte ihr ein und hob das Glas auf ihr Wohl. Während des Essens leerten sie zu zweit eine gute Flasche Bordeauxwein. Als Minette aufstehen wollte, schwankte sie und musste sich lachend an den Tisch lehnen. Da legte er die Arme um sie und führte sie nach draußen unter die Bäume, wo die Sklaven Hängematten aufgehängt hatten. Sie wollte sich nicht hinlegen und behauptete, sie habe zu viel gegessen.

«Dann sind Sie keine echte Kreolin», sagte er.

«Doch», gab sie zurück, «aber man hat mich nicht an Luxus gewöhnt.»

Das Gesicht des jungen Mannes verfinsterte sich. Er legte sich in eine der Hängematten, und Roseline und Fleurette gesellten sich unverzüglich zu ihm. Sie knieten neben ihm nieder, und die eine begann seinen Kopf zu kraulen, während die andere, auf dem Boden hockend, leise ein kreolisches Lied anstimmte und sich dazu auf der Mandoline begleitete. Es war ein laszives, trauriges Liebeslied, und sie sah ihren Herrn dabei aus hingebungsvollen Augen unverwandt an.

«Minette», sagte Jean-Baptiste Lapointe plötzlich, «erlauben Sie mir, nichts an meinem Leben zu ändern, solange Sie hier sind.»

«Was meinen Sie?»

Er erhob sich aus der Hängematte und pfiff nach seinen riesigen Hunden, die sofort herbeigelaufen kamen.

«Ich gehe spät ins Bett und bin im Morgengrauen wieder auf den Beinen. Jeden Abend mache ich meine Runde. Heute ist Samstag, der Abend, an dem meine Sklaven tanzen, diese Gelegenheit muss ich nutzen, um sie zu zählen. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.»

Er wandte sich an die Dienerinnen: «Gebt gut auf eure Herrin acht.»

Noch bevor sie antworten konnten, protestierte Minette.

«Oh nein, Sie werden mir doch nicht diese beiden Mädchen aufdrängen! Ich brauche keine Sklavinnen.»

«Werden Sie sich denn ohne ihre ‹Leibwache› sicher fühlen?»

«Was habe ich zu befürchten?», erwiderte Minette. «Ihre Hunde sind die Einzigen, die mir Angst machen.»

«Dann verkennen Sie Ihre besten Beschützer.»

«Mag sein, aber ich ziehe es vor, allein zu sein.»

«Sie sind hier zu Hause.»

Er klatschte in die Hände, und die beiden Mädchen verschwanden.

Wieder hatte er sich verändert. Warum?, fragte sich Minette. Was geht in diesem Moment in ihm vor? Es war ihr ein Rätsel. Stumm sah er sie im Halblicht des Mondes an. Dennoch erfüllte sie nach und nach ein köstliches Vertrauen und ließ alle Sorgen von ihr abfallen. Nicht eine Minute dachte sie an das Schauspielhaus, an Mesplès und ihre Enttäuschungen. Eine sanfte Mattigkeit erfasste ihre Glieder. Ach, könnte ich doch mein Leben hier verbringen, dachte sie. Mich ebenfalls in eine Hängematte legen, mich Herrin nennen lassen und mich in die Hände schmeichlerischer Dienerinnen geben, über die ich voller Güte herrschen würde! Sie sah zu Lapointe auf. Immer noch betrachtete er sie schweigend.

«Sie sind sehr schön», sagte er nur.

Sie senkte den Kopf. Sie würde ihn nicht gehen lassen. Nein. Dafür begehrte sie ihn zu sehr. Wieso redete er nicht? Wieso bemühte er sich nicht, diese Verlegenheit zwischen ihnen zu zerstreuen?

«Auf bald», sagte er leise.

«Jean!»

Mit einem Aufschrei warf sie sich in seine Arme.

In dem kleinen Holzhaus brannte eine Kerze nach der anderen nieder. Auf der Galerie schliefen Sklaven auf ihren Matten. Fleurette und Roseline waren nirgends zu sehen. Nur die Nacht stand zwischen den Liebenden, eine Nacht, golden getönt durch den Mond, der seine Strahlen in das Schlafzimmer ausstreckte und Minettes gelöstes Haar mit funkelnden Pailletten überzog, die der Mann mit seinen Lippen pflückte.