XXV
Immer noch versetzten die entlaufenen Sklaven die Bewohner der Ebenen und Städte in Angst und Schrecken. Ihre Unterwerfung war lediglich ein Täuschungsmanöver gewesen. Mit lautem Gebrüll stürmten ihre Banden aus den Bergen herab, plünderten die Ateliers und steckten sie oftmals in Brand.
Wenn nachts der Sammelruf der Lambis und Trommeln ertönte, griff die weiße Bevölkerung aufgeschreckt zu ihren Waffen, in den Ateliers horchten die Sklaven, und die affranchis senkten den Kopf und warteten, scheinbar teilnahmslos.
Eines Tages verbreitete sich die Nachricht, zwei Anführer der marrons seien zum Gouverneur gebracht worden. Die Menschen strömten herbei, und trotz der Bemühungen der Maréchaussée, sie zurückzudrängen, harrten sie stundenlang vor dem Gouverneurspalast aus.
Als die Tür schließlich geöffnet wurde und die Anführer der marrons in Begleitung eines weißen Kolonisten und zweier Soldaten der Garde herauskamen, erfasste plötzliche Erregung die Schaulustigen. Was wollten diese Rebellen? Wieso hatte man sie mit Respekt und in Ehren beim Gouverneur empfangen? Die Fragen flogen durcheinander. Eine Weiße streckte die Hand nach einem der Gardesoldaten aus und rief seinen Namen.
«Sag, Roland, was geht denn da vor sich?»
«Du bist zu neugierig, meine Schöne», antwortete er.
Sie lief zu ihm, hakte sich vertraulich bei ihm unter und wiederholte: «Sag mir doch, was vor sich geht, los, sag es mir.»
Ihr Drängen machte den jungen Soldaten verlegen, und um seine Ruhe zu haben, verriet er ihr, was sie wissen wollte.
«Monsieur Desmarrates», flüsterte er und deutete auf den Kolonisten, «hat diese Anführer einer Gruppe von marrons hergebracht. Man hat ein Abkommen mit ihnen geschlossen. Im Austausch gegen die offizielle Anerkennung ihrer Freiheit verpflichten sie sich, mit ihren Angriffen auf die Plantagen aufzuhören.»
Der Frau blieb vor Schreck beinahe die Luft weg.
«Oh», keuchte sie und riss die Hand vor den Mund. «Solch tollwütigen Hunden die Freiheit zuzugestehen, aber das ist doch Wahnsinn!»
Sogleich ließ sie den Arm des Soldaten los und lief zurück zu der wartenden Menge, in der sich die Neuigkeit wie ein Lauffeuer verbreitete.
Joseph Ogé stand bei der Gruppe von Farbigen, die sich an einer Straßenecke zusammengefunden hatten. Sobald ihn die Nachricht erreichte, lief er zu Lambert, wo er Beauvais und Louise Rasteau antraf.
Seit er nicht mehr sprechen konnte, hatten seine Züge einen angespannten, beinahe tragischen Ausdruck angenommen. Seine sanften Augen waren übergroß geöffnet, als bemühten sie sich, die Intensität seines Seelenlebens erahnen zu lassen, und sein Blick glich dem eines gehetzten Tiers. Er sah Lambert an, zog automatisch den Stift und das Heft, die Minette ihm gegeben hatte, aus der Tasche und schrieb: «Santyague hat sich unterworfen, die Regierung hat die Freiheit der Sklaven vom Bahoruco offiziell anerkannt.»143
Die beiden Männer standen auf und wechselten einen Blick.
«Die Angst der Weißen wächst», sagte Beauvais.
In jener Zeit wütete eine neue, subtilere Form des marronnage. Sklaven, die von den Plantagen geflohen waren, zogen in die Städte, wo sie sich, als affranchis gekleidet, unauffällig bewegen konnten. Diese Sklaven bildeten eine kleine, gefährliche Gruppe ohne Gesetz und Moral. Sie legten sich in den Wäldern auf die Lauer, überfielen Reisende und raubten und plünderten jeden aus, der in ihre Nähe kam. Wenn die Soldaten der Maréchaussée Jagd auf sie machten, kehrten sie in die Städte zurück und mischten sich, als affranchis getarnt, unter die Menge, um jeden Verdacht von sich abzulenken.
Da es den Kolonisten nicht gelang, diese neuen Rebellen im Kampf zu stellen, veranstalteten sie regelrechte Treibjagden, bei denen Schwarze und Farbige, oft genug unschuldige Freie, getötet wurden, was die Spannungen zwischen diesen und den Weißen noch vergrößerte. Auf beiden Seiten erreichte der Hass neue Ausmaße. Die Herren sahen in ihren Sklaven lediglich stumpfsinniges Nutzvieh, keinesfalls fähig zu planvollem Vorgehen oder erfolgreichen Überfällen. Trotz des Beispiels der Schwarzen vom Bahoruco trauten sie den Afrikanern strategisches Denken nicht zu. Und so suchten sie die Schuld für die Ereignisse bei den Farbigen. Mehr denn je wurden diese gedemütigt, unterdrückt und verhöhnt. Und mehr denn je wurden die Sklaven geprügelt, gefoltert und umgebracht. Aus Angst, ihre Sklaven könnten davonlaufen, behandelten die schwarzen und mulattischen Sklavenhalter ihre eigenen Brüder nicht weniger brutal. Stolz auf die gesellschaftliche Stellung, die ihre Einkünfte ihnen zu sichern schienen, kannten sie nur ein Ziel: noch reicher zu werden. Darin waren sie den weißen Plantagenbesitzern so ähnlich, dass diese, stets auf die Wahrung ihrer Sonderstellung bedacht, unweigerlich Anstoß nehmen mussten.
Auch inmitten von Hass kann man unbehelligt leben, denn die Gewöhnung ist eine mächtige Kraft. Trotz einiger besorgniserregender Misstöne ging das Leben unverändert weiter. Diese Misstöne drangen nun nicht mehr von den Bergen herab, wo seit dem Verstummen der Lambis ein drückendes Schweigen herrschte, sondern äußerten sich auf tausenderlei Weise in Blicken, Verhalten und Gesten. Die stumme Missbilligung der affranchis verwandelte sich in eine dumpfe, schmerzhafte Feindseligkeit. Zähneknirschend senkten sie unter den Stiefeln und Schnallenschuhen der weißen Herren den Blick. Die mächtigen Grundbesitzer hingegen scheuten aus Feigheit gewisse verstörende, besorgniserregende Gedanken; um in Frieden leben zu können, redeten sie sich ein, es stünde alles zum Besten. Und mit jedem Tag nahmen ihre Prachtentfaltung, ihre Ausgelassenheit, ihre Vergnügungen zu.
Für Minette, wie für alle anderen, verstrichen die Jahre ohne ernsthafte Zwischenfälle. Seit Mozard seine schützende Hand über sie hielt, sang sie, spielte Theater und erhielt regelmäßig ihre Gage. Sie erklomm den Gipfel des Ruhms, der kleine Jean wuchs heran, und Lise feierte hübsche Erfolge in Léogane. War denn nicht alles wunderbar? Die Erinnerung an Jean-Baptiste Lapointe war nur noch ein blasser Schatten in ihrem Herzen, den jedoch all die Freundlichkeit und Liebe von Claude Goulard nie ganz zu vertreiben vermochten. Manchmal war sie versucht, ihn zu lieben; doch ihr Widerstreben, seine Küsse und Umarmungen hinzunehmen, bewies ihr, dass er für sie lediglich ein ergebener, charmanter Freund war.
Mit der Zeit hatten Josephs grausame Bestrafung, der Hochmut der Weißen und die Peitschen der Sklavenhalter das stumpfe Antlitz von Routine und Resignation angenommen. Was auf dem Grund der Herzen ruhte, sollte, wie seltsam dies auch schien, erst unter dem Peitschenhieb eines außergewöhnlichen Ereignisses erwachen, das in einer brutalen Erschütterung Tausende schlafender Gemüter aus ihrer Benommenheit reißen würde.
Am Ende jenes Jahres kehrte Lise aus Léogane zurück. Sie brachte von dort Einzelheiten, Neuigkeiten und einen kleinen Beutel voller Geld zurück, den sie ihrer Mutter und Minette stolz präsentierte.
«Wenn ich will, kann ich mir eine Sklavin kaufen», sagte sie mit einer Spur von Arroganz in der Stimme.
Sie war gewachsen und hatte zugenommen, ihre Erfolge hatten ihr Selbstbewusstsein gestärkt, und das sah man. Ein wenig zu deutlich, fand Minette.
Am Abend ihrer Rückkehr gab sie eine kleine Feier, zu der sie Nicolette, Goulard, Joseph, die Acquaires und eine reiche affranchie namens Angevine Roselin einlud, die sie in Léogane kennengelernt hatte und von der sie stolz berichtete.
«Wieso denn Angevine?», protestierte Minette. «Wir kennen sie kaum.»
«Ich muss jetzt mit anderen Leuten Umgang pflegen. Angevine ist sehr reich, verstehst du?»
Nein, das verstand Minette nicht. Aber es war nicht ihre Feier, und Lise stand es frei, einzuladen, wen sie wollte.
«Du wirst sehen, sie ist reizend Sie ist eines Tages nach der Aufführung von Thérèse und Jeannot von sich aus hinter die Bühne gekommen, um mich zu küssen.»
Also wurde Angevine eingeladen. Sie kam in einer prächtigen Kutsche, begleitet von zwei jungen Sklavinnen. Auf dem Kutschbock saß ein livrierter Mulatte, der vor dem Haus auf seine «Herrin» wartete, was die Neugier der einfachen Leute in der Rue Traversière erregte. Angevine trug ein herrliches weißes Seidenkleid, das eine Modehändlerin, die heimlich für sie arbeitete, direkt in Frankreich bestellt hatte. Sie war hübsch und zeigte ihre perfekten Zähne in einem nie verblassenden glücklichen Lächeln. Nicolette, die sie mit Blicken verschlang, bemerkte, dass sie Goulard schöne Augen machte. Auf der Stelle nahm sie sich vor, den jungen Schauspieler selbst zu erobern. Sie sprachen Kreolisch, spielten mit ihrem Fächer und überschütteten ihn mit vielsagenden Blicken und Komplimenten.
Eine Stunde später würdigte Goulard, von Nicolettes geschickter Koketterie verführt, Angevine keines Blickes mehr. Zu Recht war Nicolette davon überzeugt, auf diesem Gebiet keine Rivalin fürchten zu müssen.
Minette beobachtete Angevine und die beiden jungen Sklavinnen, die auf jede ihrer Gesten achteten. Das erinnerte sie an eine Seite des Lebens, die sie beinahe vergessen hatte. Das kleine Haus in Boucassin, Marie-Rose und die Saint-Ars, Mademoiselle de Caradeux … All diese reichen Sklavenhalter, die sich von knienden Sklaven bedienen ließen, sich am Schweiß der Sklaven bereicherten. War Angevine trotz ihrer schwarzen Haut nicht in mancherlei Hinsicht in der gleichen Position wie Céliane de Caradeux? Auch dieses Wunder hatte das Geld bewirkt. Was machte es schon, dass sie gewissen Einschränkungen unterlag, wenn ihre Kutsche wie die der reichen weißen Kolonisten mit Utrechter Samt144 ausgeschlagen war und von einem livrierten Kutscher gelenkt wurde! Das war auf jeden Fall besser, als durch die Hufe eines Pferdes in den Ruin gestürzt zu werden, das, von einem unverschämten, lachenden jungen Weißen am Zügel gehalten, die bescheidene Auslage einer Krämerin zertrampelte. Bei der Erinnerung an diesen Vorfall schlug ihr Herz schneller. Dabei war die Auslage seit Langem ersetzt und mit den besten Kramwaren des Landes aufgefüllt worden. Lise hatte oft knisternd neue Geldscheine in ihre Briefe gelegt, und seit einigen Monaten litt in dem kleinen Haus in der Rue Traversière niemand mehr Hunger.
Im Lauf der Feier bat man die beiden Schwestern zu singen. Lise verkündete, sie wolle eine ganze Inszenierung aufführen. Sie eilte ins Schlafzimmer und kam in einem an der Taille gerafften groben Leinenrock zurück. Barfuß, eine Pfeife im Mund und einen roten madras um den Kopf geknotet, imitierte sie den Gang der Feldsklaven und sang dazu ein sanftes, schwermütiges Lied.
Plötzlich fiel sie auf die Knie, und ihr Gesang wurde durch Stöhnen und Schluchzen abgelöst. Ihre Darbietung war perfekt und ließ niemanden im Zweifel. Sie erhielt Schläge, denen sie auszuweichen versuchte. Nachdem die Schläge geendet hatten, warf sie sich flach auf den Boden und küsste ihn an zwei Stellen, als küsste sie Füße, dann erhob sie sich wieder und tanzte eine calenda145, zu der sie sich selbst mit ihrer Stimme und den Händen begleitete.
Minette sah zu ihrer Mutter hinüber: Ihre Stirn war schweißbedeckt. Wer weiß, ob sie sich nicht selbst auf diese Weise stöhnend und schluchzend unter Schlägen gekrümmt hatte! Wer weiß, ob sie nicht selbst, kaum hatten die Schläge geendet, mit blutendem Rücken auf den Herrn zugekrochen war und ihm die Füße geküsst hatte, um seine Vergebung und Gnade zu erflehen, ob sie nicht selbst anschließend getanzt und gesungen hatte, um ihn zu zerstreuen!
«Genug …!», schrie sie und hielt sich die Hände vor die Augen.
Stumm vor Verblüffung starrte Lise sie eine Sekunde an.
«Gefällt dir die Szene nicht? In Léogane war sie immer ein großer Erfolg …»
Angevine und Nicolette krümmten sich vor Lachen und applaudierten. Die beiden Sklavenmädchen hockten in einer Ecke, lachten hinter vorgehaltener Hand und aßen ein Stück Kuchen, das Jasmine ihnen gegeben hatte. Joseph und Goulard, die jeder einen von Saint-Martins Söhnen auf dem Schoß hatten, betrachteten Lise äußerlich ungerührt, während Monsieur Acquaire mit wild zuckendem Auge einen vielsagenden Blick mit seiner Frau wechselte.
«Und es kann ja schließlich nicht jeder Opernarien singen», fügte Lise wütend hinzu. «Bloß weil du dich für das große Fach entschieden hast, ist das noch lange kein Grund, so hochnäsig auf die einheimischen Stücke herabzublicken.»
Da Minette keine Erwiderung einfiel, servierte sie hastig Erfrischungen. Als sie Joseph ein Glas reichte, schaute sie ihn an und sah, dass seine Lippen bebten.
Um das Thema zu wechseln, berichtete Goulard, dass sie im Theater demnächst ein indianisches Kostümballett aufzuführen hofften, welches er in allen Einzelheiten beschrieb.
Der Abend endete ohne weiteren Zwischenfall, abgesehen davon, dass Goulard heimlich mit Nicolette verschwand, was Minette ein Lächeln entlockte.
Am nächsten Morgen erfuhren sie, dass Angevines Sklavinnen auf dem Heimweg geflohen waren und sie selbst von ihrem Kutscher vergewaltigt worden war, bevor er ebenfalls die Flucht ergriffen hatte. Außer sich vor Wut trafen Angevines Eltern vormittags bei Jasmine ein und forderten Auskünfte.
«Um wie viel Uhr ist sie hier fortgegangen?»
«Wie haben sich ihre Sklavinnen während der Feier verhalten?»
«Wurden in Gegenwart der Mädchen aufrührerische Reden gehalten?»
Angevines Vater war ein dicker, bärtiger griffe, der ein Kreolisch mit französischem Einschlag sprach und nach Art der reichen Plantagenbesitzer Stiefel trug. Während seine Frau bittere Tränen vergoss, als sie erzählte, dass ihre Tochter noch Jungfrau gewesen sei, brüllte der schwarze Pflanzer wütende Beschimpfungen und schwor bei allen Göttern, dass er seine übrigen Sklaven für dieses Verbrechen teuer bezahlen lassen würde.
«Bei Gott, ich werde sie prügeln und foltern lassen, bis sich mein Zorn gelegt hat.»
Nachdem sie gegangen waren, blieb Jasmine zutiefst bestürzt zurück.
Als Nicolette davon hörte, konnte sie sich ein sarkastisches Auflachen nicht verkneifen.
«Du meine Güte, was soll’s? Kein Grund, daraus ein Drama zu machen. Angevine wird schon nicht daran sterben. Und ihre Eltern sollten sich lieber schröpfen lassen, das beruhigt ihr erregtes Blut.»
Der Vorfall sorgte für großes Aufsehen. Die jungen Weißen verfassten spontan ein Spottlied über Angevine, die «ihre Jungfräulichkeit verlor in den Armen eines schönen Sklaven», dann geriet alles wieder in Vergessenheit.
Andere Skandale rückten nach: Duelle, Vergewaltigungen, Prozesse wegen unbezahlter Schulden oder die rächenden Ohrfeigen betrogener Ehemänner waren groß in Mode. Ein paar Tage nach diesem Ereignis nahm Monsieur Brousse sich vor, Magdeleine zu überwachen. Er folgte ihr, lauerte ihr auf und erwischte sie schließlich ein zweites Mal, während sie gerade einen jungen Offizier küsste, der bei seinem Auftauchen seine Waffe zückte und dann angesichts der verdutzten Miene des armen Mannes in schallendes Gelächter ausbrach. Diesmal war er nicht bereit, ihr zu verzeihen, und eilte stehenden Fußes zum Prokurator, um sich über das Verhalten seiner Frau zu beschweren. Magdeleine Brousse wurde während einer Probe im Theater verhaftet und trotz ihrer Tränen und des Protests der übrigen Schauspieler ins Gefängnis gebracht. In den Affiches war eine neue Oper angekündigt worden: Nina oder Wahnsinn aus Liebe146. Der Erlös des Abends sollte Minette zugutekommen. Magdeleine Brousses Verhaftung war für sie ein schwerer Schlag, denn diese hätte an ihrer Seite eine der Hauptrollen spielen sollen. Die Frage war: Wer sollte sie ersetzen? Depoix schrieb an Madame de Vanancé, die gerade in Cap Français Ferien machte, und bat sie, bei nächster Gelegenheit zurückzukehren. Doch Magdeleine Brousse spielte ihre Rolle selbst, denn zwei Tage später war sie wieder da, mit dunklen Ringen unter den Augen und einem Lächeln auf den Lippen.
«Sie hatten Mitleid mit mir», sagte sie, wobei sie gespielt unschuldig die Finger verschränkte, «sie hatten Mitleid mit mir und haben mich entwischen lassen. Ach, diese Offiziere sind doch wirklich anständige Leute!»
Alle waren so glücklich darüber, sie wiederzusehen, dass man sie mit freudigen Rufen begrüßte. Der Grund für ihre Freilassung blieb ein Geheimnis, das alle bereitwillig respektierten. Die Proben wurden mit der vollständigen Besetzung fortgesetzt, und der Tag der Aufführung kam.
Es war März geworden. Ein flirrender Sternenhimmel spannte sich über der fröhlichen, festlich gekleideten Menge. In Scharen drängten sich die Gaffer vor dem Schauspielhaus. Eine halbe Stunde, bevor sich der Vorhang heben würde, trafen die kostümierten Schauspieler ein, was wie jedes Mal für großes Aufsehen auf der Straße sorgte.
Dieser Abend war einer der größten Erfolge in Minettes gesamter Laufbahn. Das verkündete ein von Mozard gezeichneter Artikel, der am nächsten Tag erschien, während François Mesplès in einem anderen Artikel anregte, sie solle sich doch auch in heimischen Stücken feiern lassen.
«Denn», schrieb er, «diese junge Person ist besser als jede andere Schauspielerin dazu fähig, gewisse Negergefühle darzustellen, stammt sie doch selbst von dieser Rasse ab. Madame Marsan», fuhr er fort, «spielte ebenso wunderbar und vollendet in heimischen Stücken wie auch in den großen Klassikern. Weshalb sollte diese junge affranchie einen derartigen Widerwillen gegen etwas zur Schau tragen, was ihr, ganz im Gegenteil, mit Recht zusteht …?»
Diese Stücke waren beliebter denn je. Selbst Monsieur Acquaire schrieb heimlich an einem und hoffte, es bald aufführen lassen zu können. Betätigte sich Mesplès ebenfalls als Autor? Wollte er Minette zwingen, ihre Meinung zu ändern, indem er ihr Angst machte? Hunderte Weiße versuchten sich als Schriftsteller und verfassten Stücke, die das Schauspielhaus zumeist ablehnte. Die jungen Leute hielten sich für Dichter und die Älteren für Dramatiker. Minettes guter Geschmack sträubte sich bei der Lektüre dieser gescheiterten Bemühungen. Sie bot Mesplès die Stirn und weigerte sich, die ihr angebotene Rolle in Julien und Zila, einer kreolischen Übersetzung von Blaise und Babet, anzunehmen.
«Ich wäre fürchterlich in einer solchen Interpretation», wiederholte sie störrisch.
Abgesehen davon, dass es ihr widerstrebte, in diesen kurzlebigen Stücken Rollen zu verkörpern, die, wie sie aus Erfahrung wusste, tragisch waren, schämte sie sich, in der Öffentlichkeit Kreolisch zu sprechen, und sei es auch auf der Bühne. War die Sprache der afrikanischen Schwarzen nicht das Symbol der Erniedrigung? Sie beharrte auf ihrer Weigerung. Mesplès machte ihr deswegen in Gegenwart der übrigen Schauspieler Vorhaltungen.
«Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind», schrie er sie an, «dass Sie einfach so ihr Fach wählen wollen!»
«Eine Künstlerin, Monsieur.»
«Eine affranchie sind Sie, die aus reiner Gefälligkeit in eine weiße Truppe aufgenommen wurde.»
«Das mag sein, Monsieur, aber Ihre Gefälligkeit wurde von der Begeisterung des Publikums übertroffen.»
Sie wurde zornig, erklärte, sie habe nun endgültig genug und werde auf keinen Fall mehr im Theater auftreten.
«Und schicken Sie ja nicht noch einmal jemanden zu mir, um mich zurückzuholen», schloss sie.
Mesplès beschimpfte sie als unverschämtes Gör und Sklavenbalg.
Alles Bitten von Goulard und den Acquaires war vergebens. Fest entschlossen, erst dann wieder einen Fuß ins Schauspielhaus zu setzen, wenn Monsieur Mesplès persönlich sie darum anflehte, ging sie nach Hause. Sie ahnte, dass es früher oder später so kommen würde.