XXXII
Der neue Gouverneur floh nach Cap Français, und der Palast blieb leer.171 Tagelang verfolgte die Erinnerung an den verstümmelten Leichnam des Obersten die Einwohner von Port-au-Prince. Cap Français erholte sich gerade erst vom grausamen Tod Vincent Ogés und Chavannes’, als man von der Ermordung des Obersten de Mauduit durch seine eigenen Soldaten erfuhr. Und so hielt, trotz des siegreichen Lächelns der Kolonisten, trotz der fürstlichen Gespanne und der kostspieligen Empfänge zu Ehren der Regimenter aus dem Artois und der Normandie, eine schreckliche Traurigkeit die Herzen umfangen.
War es eine Vorahnung? Allen schien, als sollten sie nie mehr ihre frühere Sorglosigkeit und Lebensfreude wiedererlangen. Und auch die Kolonisten waren trotz ihres Jubels unruhig. Ihr Triumph verhinderte nicht, dass sie ab und an eine gewisse Sorge beschlich. Aus welcher Richtung mochte die Gefahr kommen? Sie wussten es noch nicht. Aber jene drückende, mysteriöse Atmosphäre, von der sie sich manchmal umgeben gefühlt hatten, steigerte sich in den darauffolgenden Tagen noch. Und die Sorge machte sie hundertmal arroganter und grausamer. Eine Zeitlang erstreckte sich ihre kränkende Herrschaft über die gesamte Kolonie und zwang sie in die Knie. In die Knie gezwungen, ja, aber nicht länger in ihr Schicksal ergeben, denn die affranchis hatten jede Illusion verloren, was die Versprechungen des Gouverneurs und der königlichen Beamten betraf. Sie erkannten, dass man sich ihrer lediglich bedient hatte, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, ihre Forderungen zu erfüllen, und so sammelten sie sich heimlich hinter ihren eigenen Anführern Beauvais und Lambert.
Statt ihren Mut zu brechen, hatten die Niederlage von Ogé und Chavannes, ihre qualvolle Hinrichtung und ihr Tod die seit Langem unterdrückte Rebellion der affranchis ausgelöst. Verzweifelt stürzten sie sich in den Kampf und gelobten, den Sieg davonzutragen. Die Ermordung des Obersten hatte ihnen den Beweis geliefert, dass der Weiße seinen eigenen Brüdern gegenüber gnadenlos sein konnte.
Das veränderte ihre Haltung von Grund auf. Denn wenn die Weißen selbst ihre eigenen Brüder umbrachten, wieso sollten sie dann die Weißen respektieren?
Diese Stimmung herrschte unter ihnen, als Joseph aus Dondon zurückkehrte. Er wirkte so mager, dass Lise bei seinem Anblick in Tränen ausbrach. Sie kam allmählich wieder zu Kräften und begann das blutige Drama zu vergessen, dass sie in Saint-Marc erlebt hatte. Ihretwegen sprachen sie nur hinter vorgehaltener Hand über die Hinrichtung von Ogé und Chavannes und die Ermordung des Obersten. Seltsamerweise schien sich sogar Nicolette für die neue Wendung der Ereignisse zu interessieren. Aufs Höchste erregt, traf sie mit leuchtenden Augen bei Jasmine ein und verlangte mit gedämpfter Stimme, Einzelheiten über die grausame Bestrafung und den Tod der beiden affranchis zu erfahren.
Noch erstaunlicher war die Tatsache, dass sie es war, die zu Jasmine gelaufen kam und verkündete, der König von Frankreich sei abgesetzt worden. Das war eine große, eine erschütternde Nachricht: Natürlich verbreitete sie sich wie ein Lauffeuer. Wer Nicolette davon erzählt habe, wollten sie besorgt wissen. Ein weißer Offizier. War denn sicher, dass es stimmte? Das konnte niemand sagen. Als die Nachricht offiziell wurde, feierten die reichen weißen Pflanzer mit großem Prunk ihren Sieg. Sie hatten die Unabhängigkeit im Sinn. Schon jetzt beherrschten sie die Kolonie und beugten unter ihren Stiefeln eine vor Angst zitternde Bevölkerung.
Von diesem Tag an verbargen die Menschen in Saint-Domingue ihre wahren Gedanken hinter einem gleichgültigen Lächeln und nahmen ihr früheres Leben wieder auf. Das Theater öffnete erneut seine Türen und die Vaux-Halls ihre Empfangsräume und Spielsalons. Monsieur Acquaire, der seit langen Wochen in finanzieller Bedrängnis steckte, wollte seine leere Kasse unverzüglich wieder auffüllen. Die zurückliegenden Ereignisse hatten den Schauspielern einen harten Schlag versetzt. Madame Tesseyre hatte eine Sklavin verkaufen müssen, die sie während der letzten schönen Tage erstanden hatte, Magdeleine Brousse lebte von Prostitution, und die anderen schlugen sich irgendwie durch. Mit bleichen, ausgezehrten Gesichtern, die von ihren Entbehrungen zeugten, kehrten sie ins Schauspielhaus zurück. Um Essen und Miete bezahlen zu können, hatte sich Madame Acquaire an Mesplès gewandt. Bedauerlicherweise ließ Monsieur Acquaire noch immer nicht vom Würfelspiel und verlor alles, was sie durch ihren Unterricht in Tanz und Diktion verdienten. Was Scipion zutiefst erschreckte, fürchtete er doch, in einem Moment der Not verkauft zu werden. Deshalb machte er sich nützlich, wo er nur konnte, und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass das Schauspielhaus wieder seine früheren Aktivitäten aufnahm. Was es auch tat, aber ohne Minette, die sich weigerte, in dem Stück aufzutreten, das in jener Woche in den Affiches angekündigt wurde. Ohne ihre Gründe dafür zu nennen, lehnte sie es trotz der inständigen Bitten Goulards und der Acquaires ab, einen neuen Vertrag zu unterschreiben. Selbst Monsieur Mesplès, obwohl auf Seiten der weißen Pflanzer, wünschte ihre Rückkehr auf die Bühne. Als er von ihrer Weigerung erfuhr, beschimpfte er sie als undankbares Gör und dreckigen Bastard, doch angesichts der leeren Kasse, die ihm der verzweifelte Monsieur Acquaire unter die Nase hielt, suchte er sie persönlich zu Hause auf und versuchte, sie umzustimmen.
«Sie, Monsieur?», rief sie überrascht und deutete auf einen Stuhl, den er nicht zu sehen schien.
«Ja, ich. Wie es scheint, hast du dem Theater den Rücken gekehrt. Und ich bin hier, um dich nach dem Grund dafür zu fragen.»
«Ich habe keinen, Monsieur.»
«Wieso willst du dann partout nicht mehr auftreten?»
«Das Schauspielhaus hat mir lange Ehre gemacht, Monsieur. Aber diese Ehre will ich nicht mehr.»
«Ah, ich verstehe! Man soll dich wohl erst anflehen?»
«Jetzt, da ich älter geworden bin, bedeutet mir Flehen nichts mehr.»
«Wie du willst. Dann werden sie eben ohne dich weitermachen.»
«Das Schauspielhaus liegt mir am Herzen, Monsieur. Ich wünsche den Künstlern allen Erfolg, den sie verdienen.»
Enttäuscht in ihrer Liebe zu Lapointe, bekümmert über den Anblick der triumphierenden Pflanzer, verstört durch die Veränderung, die seit Vincents und Chavannes’ Tod in Joseph vorgegangen war, lebte sie als Teil der Gruppe um die Anführer der affranchis und stürzte sich ebenso erbittert in den Kampf wie sie. An ihrer Seite fühlte sie sich weniger allein, und in ihrem Aufstand suchte sie einen Weg, ihre eigene Verzweiflung zu bekämpfen. Was auch immer die Weißen über diesen Aufstand denken mochten, er war nicht länger machtlos. Seit der Zerschlagung ihres Führungszirkels verbargen sie ihn lediglich geschickter. Sie wussten, dass sie überwacht, belauert wurden; ihre Methoden wurden raffinierter. Ihr Leben lang hatten sie ihren Unmut verheimlicht, so fiel es ihnen nicht schwer, ihren Gegnern mit gelassener Miene entgegenzutreten, während sie zugleich einen Schlachtplan entwarfen. Diesmal würden sie ihre Rechte mit der Waffe in der Hand einfordern.
Eines Abends machten sie sich, angeführt von Beauvais und Lambert, in großer Zahl auf zur Plantage von Louise Rasteau. Beauvais beförderte einige seiner Gefährten zu Befehlshabern und stellte Pétion, den er für seine ruhige Tapferkeit schätzte, an die Spitze der Artillerie. Dann entrollte er eine Fahne in den Nationalfarben, hielt sie in die Höhe und forderte alle Anwesenden auf, mit ihm gemeinsam zu schwören, dass sie jene Rechte, die ihnen so lange vorenthalten worden waren, bekommen würden, und sollte es ihr Leben kosten.
«Möge die Gerechtigkeit uns stets leiten», fügte er mit kraftvoller, entschlossener Stimme hinzu.
Alle legten den Eid ab.
Pétion, Roubiou, Pons, Joseph und einige andere wurden damit beauftragt, Sklaven, die sich in der Nähe versteckten, für ihre Sache zu gewinnen. Triumphierend kehrten sie mit dreihundert entschlossenen Schwarzen zurück, die sogleich in ihre Reihen aufgenommen wurden.
Nachts entschieden sie, sich weiter von Port-au-Prince zu entfernen, und wandten sich zum Trou Caïman172. Lambert und Beauvais ritten vorneweg und erklärten den Jüngeren ihren Schlachtplan, als plötzlich weiße Soldaten ihre Nachhut angriffen.
«Alarm!», schrie jemand.
Aus dem Schutz der Zuckerrohrfelder heraus schossen die Weißen aus nächster Nähe auf sie.
Lambert und Beauvais sprangen von ihren Pferden und wollten gerade das Feuer eröffnen lassen, als die Sklaven unter lautem Gebrüll Fackeln entzündeten und sie in die Zuckerrohrfelder warfen. Diese brannten sofort lichterloh, und in den Reihen der von knisternden Flammen umzingelten Weißen breitete sich Panik aus.
Als das Feuer schließlich niederbrannte, hatten sie die Flucht ergriffen und auf den verkohlten Ähren Tote und Verletzte zurückgelassen.
Dies war ein erster Sieg, und die affranchis feierten ihn mit Umarmungen und Gesang. Die Zukunft erschien ihnen voller Verheißungen und ihre Tapferkeit unbezwingbar. Das erste sichtbare Zeichen des Triumphs war ein Friedensangebot der aufgeschreckten Weißen von Port-au-Prince. Sie nahmen es ohne Bedingungen an, und die Abgesandten beider Lager trafen sich in Damiens. Die Weißen unterzeichneten ein Konkordat, in dem sie den affranchis ihre politischen Rechte zugestanden.173 Versöhnlich reichte Monsieur de Caradeux Beauvais und Lambert anschließend die Hand.
«Nun ist es geschafft, affranchis.»
Als die aus fünfzehnhundert Mann bestehende Armee der affranchis, darunter auch die Sklaven, denen man den Sieg in der Schlacht verdankte, nach Port-au-Prince einzog, wurde sie von der farbigen Bevölkerung mit «Ein Hoch auf die Konföderierten!»-Rufen empfangen. Mit Trommeln und wehenden Fahnen durchquerte Lamberts und Beauvais’ Armee die Stadt und nahm auf dem Platz vor dem Intendantenpalast Aufstellung.
Zur Feier und Besiegelung dieser unerwarteten Versöhnung sollte eine Messe gesungen werden. Alle legten die Waffen nieder, und Monsieur de Caradeux, der die Nationalgarde befehligte, ergriff den Arm von Beauvais und Lambert, während der Offizier, dem die Artillerie unterstand, Pétion vertraulich eine Hand auf die Schulter legte.
«Ich heiße Praloto», sagte er, «ich befehlige die nationale Artillerie.»
«Und ich Pétion. Ich befehlige die der Konföderierten.»
Sein schiefes Lächeln und sein verschlagener Blick missfielen Pétion.
Dieser Kerl hasst uns zweifellos mehr als jeder andere Weiße, dachte er.174
Nach dem Mahl, das den Konföderierten in der Kaserne serviert wurde, ernannte man Monsieur de Caradeux unter allgemeinem Jubel zum Oberbefehlshaber der Nationalgarde des Westens und Beauvais zu seinem Stellvertreter.
Um allen zu beweisen, dass der Frieden wiederhergestellt war und sie sich großzügig bereit erklärt hatten, die Ansprüche der Farbigen zu erfüllen, zeigte sich Monsieur de Caradeux auch in der Folge öffentlich Arm in Arm mit Beauvais, der seine Truppen im Gouverneurspalast und in Bel-Air einquartiert hatte.
Sieger und Besiegte bekundeten eine unvergleichliche Freude. Sie waren es leid zu kämpfen, einander zu hassen und in Angst zu leben. Es waren Tage ausgelassener Vergnügungen, in denen das Schauspielhaus, die Vaux-Halls und alle übrigen öffentlichen Stätten große Erfolge feierten.
Minette und Lise besuchten Zoé Lambert in jener Zeit häufig. Der Triumph ihrer Forderungen hatte endlich den erbitterten Hass ausgelöscht, den Zoé den Weißen entgegenbrachte, und allmählich lernte sie wieder zu lächeln. Die affranchis hoben die gesenkten Köpfe, sahen den Menschen wieder ins Gesicht und blickten frohen Herzens in die Zukunft. Die Weißen waren keine Feinde mehr. Voller Freude streiften sie den alten Groll ab und weigerten sich sogar, die Beleidigungen der landlosen Weißen zur Kenntnis zu nehmen, die ihnen ihren Sieg neideten.
Goulard und die Acquaires besuchten Minette, um sie zu beglückwünschen, und umarmten sie voller Zuneigung.
«Kommst du denn jetzt zurück ans Theater?», fragte Madame Acquaire mit einem vielsagenden Blick, als wollte sie ihr zu verstehen geben, dass sie von ihren politischen Aktivitäten wusste.
«Versprochen, Madame.»
«Du wirst in unserem nächsten Stück auftreten?»
«Ich werde auftreten, Madame.»
Monsieur Mesplès, Monsieur de Caradeux, sie alle waren besiegt. Und nun? Ein überwältigendes Glücksgefühl raubte ihr gelegentlich den Atem. Sie und die Ihren waren den Weißen gleichgestellt. Oh, wie stolz und glücklich Ogé und Chavannes in ihren Gräbern sein mussten! Selbst in Josephs Blick lag eine Sanftheit, die sie schon lange nicht mehr an ihm gesehen hatte. Lise war wieder genesen; sie drehte sich vor dem Spiegel Locken ins Haar und ging mit Pétion und den anderen zum Tanzen in die Vaux-Halls.
Der kleine Jean war gewachsen und wurde seinem Vater immer ähnlicher.
«Du bist noch keine zehn Jahre alt und hast schon den Triumph unserer Sache erlebt», sagte Minette eines Tages zu ihm und streichelte ihm übers Haar.
«Welche Sache?», fragte er verwundert.
«Ich will es dir erklären. Dank deiner älteren Brüder wirst du, wenn du einmal ein junger Mann bist, den Beruf ergreifen können, den du liebst, du wirst bei politischen Versammlungen deine Meinung äußern können und als aktiver Bürger in deinem eigenen Land leben.»
«War das denn vorher nicht so?»
«Nein. Tapfere, mutige Männer haben gelitten, um unsere Rechte durchzusetzen, sie sind unter entsetzlichen Qualen gestorben. Andere haben gekämpft, damit du und alle anderen affranchis in Zukunft in der Welt als vollwertige Menschen gelten …»
«Ich werde auch kämpfen …»
«Natürlich, ich werde den Anführern von dir erzählen», antwortete sie lachend, «aber leider ist der Kampf jetzt vorbei.»